Sonntag, 11. Oktober 2015

Die vergessenen Inseln: Gramvousa.


Am Morgen verlasse ich Kissamos. Und hätte ich diese Fahrt nach Gramvousa nicht gemacht: Ich würde sie mein Leben lang vermissen.

Der Tag ist windstill und lautlos, und im Licht der aufgehenden Sonne hole ich LEVJE's Anker an Bord und motore leise aus dem Hafenbecken nach draußen, um nur ja die großen Ausflugsschiffe nicht zu wecken. Kissamos: ein Hafen nur dazu da, um Menschen auf eine vergessene Insel zu bringen. Für einen Tag. Jeden Tag sind es mehrere Tausend, die die großen Ausflugsschiffe, die GRAMVOUSA, die GRAMVOUSA EXPRES, die SPIRIT OF ATHOS und andere von Kissamos zu den einsamen Inseln im äußersten Nordwesten Kretas bringen und wieder zurück bringen. Eine Insel für einen Tag.

LEVJE schnürt leise nach Norden. Ich habe es nicht eilig, es sind ja gerade mal eineinhalb Stunden Fahrt nach Gramvousa Imeri, dem "zahmen" Gramvousa im Gegensatz zur Schwester "Agria" Gramvousa, die noch weiter draußen liegt, nach Norden zu, da, wo nichts mehr ist außer Salzgischt und scharfkantigem Fels. Langsam gleiten wir durchs tiefblaue Spiegelglatt, ein sattes Blau an den ungeheuren Felswänden entlang, die daliegen, als wären sie Gottes großes großes Buch, eine Landschaft, in die er hineinschrieb, was ihm gefiel und in dem er wegließ, was ihm nicht gefiel. Ein ausgetrocknetes Kar, das ihm wichtig war, und das sich den Hang hinaufzieht, ausgewaschen von jedem Platzregen um einen weiteren Millionstel Millionstel Millimeter. Eine Linie in der rotbraunen Felswand, die - soweit mein Auge reicht - wie mit einem Lineal etwa zehn Meter über der Wasserlinie läuft: Der alte Pegel des Meeres, ausgewaschen von Jahrmillionen an liegender Wellenplätschern, kleinen Holztrümmern, Planzenresten, was eben mit den Wellen schwimmt, wenn sie ans Land schwappen, Eine Linie, dunkel eingekerbt in die Felswand, soweit ich schauen kann, vielleicht der Wasserstand des Meeres, bevor ein Erdbeben genau diese Ecke Kretas vor nicht allzulanger Zeit einfach anhob um zehn Meter, so mirnichts, Dirnichts?


Ein riesige Höhle geformt wie ein fallender Mond, wohl Hundert Meter breit, in das ebenmäßige Gestein der Felswand hineingepunzt, der scharfe Abdruck eines überdimensionalen Stechbeitels in weichem Teig, welche geologischen Urzeit-Kräfte lassen denn soetwas werden? Eine Landschaft voller unentzifferbarer Hieroglyphen, Merkzeichen, Krakel, Schraffuren, in der nur eines fehlt: der Mensch. Und wenn er da ist: dann nur dazu, um mit einem winzig kleinen Haus über der Höhle des Halbmonds zu zeigen: wie riesig die doch eigentlich ist, wie großartig diese Landschaft. Und wie klein der Mensch darin. Eine Landschaft wie ein Buch. Nur mit sieben Siegeln, fremd und urzeitlich und schön und schaurig.


Als ich die äußerste Nordwest-Ecke Kretas dann runde und LEVJE nach Süden steuere, dies: Vulkanisch scharfe Felskanten, messerscharf geschliffen von den Wellen. Urzeitliche Berge. Und ein ebenmäßiger Kegel, der dahinein aufsteigt, wo sich erneut Gewitterwolken ballen am heutigen Tag. Ein Kegel, der mich erinnert an eine Segelreise den ganzen Antillenbogen entlang vor vielen Jahren, an die beiden Pitons auf St.Lucia, an Schwefelbäder vor dem "Gros Pitons" und dem "Petit Piton", Vulkankegel beides und vielleicht auch der, der hier vor mir liegt, am Horizont. Auf der anderen Seite an Steuerbord erhebt sich Gramvousa selber: ein langer langer Tafelberg aus rötlichbraunem Gestein, ein Plateau, am südlichen Ende mit einer Erhebung, auf der ganz, ganz oben allen menschlichen Unmöglichkeiten trotzend eines thront: die Festung Gramvousa, am Ende der Welt.


Es ist früher Nachmittag geworden, als ich staunend in den Flachwasser-Naturhafen vor Gramvousa einlaufe. Die Bucht: sie ist voll. Die GRAMVOUSA EXPRES hat mich genau an der Nordspitze überholt, in der weiten Bucht festgemacht und entläßt ihre Kinder durch die geöffnete Bugklappe. Es ist voll am Strand und den Hang hinauf zur Festung, also ankere ich weiter östlich, da gibt es nochmal eine Bucht mit einem kleinen Sandstrand unter Agavenbewuchs, da bin ich allein. Ich lasse LEVJE's Anker fallen und bringe eine Heckleine aus, die Bucht ist klein, vielleicht sucht ja noch jemand Platz, und wenn ich mich mit der Heckleine zum Land ziehe, reicht es. Auf dem Felsen gegenüber liegt etwas, was aussieht wie ein Kadaver, der mannsgroße Kadaver eines Wesens aus dem Meer, das ich nicht entziffern kann. Auch mein gutes Fernglas hilft mir nicht weiter: Der Kadaver liegt auf einem Felsen nur einen halben Meter über dem Meer, ein dicker schwarzer rundlicher Körper, aus dem hinten zwei ewig lange, spindeldürre Beine heraus ins Wasser ragen. Gebiert das Meer Wesen, menschenähnlich, die wir noch nicht kennen? Gibt es etwas, was dort unten lebt, menschenähnlich, uns wohlgesonnenen, was wir nicht kennen, was gelegentlich aufsteigt, hochkommt und tot ans Land gespült wird?  Wieder und wieder schaue ich durchs Fernglas hinüber und kann doch den toten Leib nicht identifizieren mit etwas, das ich kenne. Als ich mit meiner Arbeit fertig bin und sorgfältig mit dem Dinghi meine verknoteten Landleinen erst zum Land und LEVJE dann daran hinübergewinscht habe, beschließe ich, nachsehen zu gehen, und rudere mit dem Dinghi hinüber. Eine riesige tote Schildkröte ist es, zu Lebzeiten ein Prachtexemplar, 100 Jahre alt und 100 Kilo schwer, jetzt ein Kadaver. Ein altes Tier, und was ich aus der Ferne für einen menschlichen Leib hielt, ist ihr Panzer, von dem der Wind jetzt die rottende äußere Hülle flappen läßt. Und was ich für die spindeldürren Beine des Wesens hielt, sind ihre ewig langen Vorderflossen, die vom Felsen herab ins Wasser hängen. Sie hat es nicht mehr geschafft, zurück in ihr Element, dem sie entstiegen ist, wohl zur Eiablage auf den Strand von Gramvousa. Und als sie erschöpft über Strand und Sand und Steine und Scherben und Felsbrocken zurückkroch, den schweren Panzer über die riesigen scharfkantigen Felsen ziehend, ging ihr die Kraft aus. Sie blieb einfach liegen, kraftlos, fünfzig Zentimeter vom rettenden Meer entfernt, verdurstete, vertrocknete, aushauchte ihr langes Leben, hier auf diesem Felsen endete es.


Langsam lasse ich mich im Dinghi vom Wind zurücktreiben von der Schildkröte zu Levje. Es ist Abend geworden, unter der Festung Gramvousa. Tönend haben die Ausflugsboote ihre Besucher zur Heimfahrt gemahnt, der Hang über dem Hafen, der steile Trampelpfad: er ist nun leer. Ich verhole LEVJE nun von meinem Platz und wir tuckern langsam hinüber, in die Bucht, wo außer mir nur noch ein Segler ankert. Ein Pärchen, das mit einem kleinen blauen Segelboot noch schnell in die Bucht hereinkommt. Ich packe meinen Rucksack, klettere in mein Dinghi und rudere hinüber, zur Insel, mit gleichmäßigen Ruderschlägen. Eine kleine Kapelle, am Fuß des Hügels, in der ich zwei Kerzen entzünde. Die letzten Wanderer, die von der Festung herunterkommen. Schreiende griechische Kinder mit ihren ebenso schreienden Eltern. Und über mir: der Schatten der Festung. Der Weg ist steil und steinig, öfter Felsbrocken im Weg, wieder einmal wundere ich mich, wie das gehen konnte, an diesem entlegenen Ort auf dieser entlegenen Anhöhe eine Festung zu bauen, Stein für Stein, Sack Mehl für Sack Mehl, Pulver, Nauholz und Balken dort hinaufgeschafft zu haben, immer wieder. Wieder einmal denke ich an das düstere Kapitel dieses beeindruckenden Bauwerks: dass dies zu errichten und zu unterhalten nur mit Zwangsarbeitern möglich war. Menschen aus aller Herren Länder, verschleppt, versklavt, zur Zwangsarbeit gepresst und für die fast fünfjährige Bauzeit der Festung hierher verschleppt. 


Es musste schnell gehen. Und wie man es schafft, das rieisige Bauwerk in nur fünf Jahren hochzuziehen, ist unbegreiflich. Während ich in der leerer Festung herumstreife, finde ich hallengroße Zisternen im Boden, in denen Trinkwasser gesammelt wurde. Ebenen, auf denen wahrscheinlich Obst, Getreide angebaut wurde. Gepflasterte Wege, um möglichst schnell Geschütze in Bastionen rollen zu können.

Der Bau wurde begonnen, wenige Jahre nach dem Venedig Zypern an die Türken abgetreten hatte und klar war: Eine Invasion der Türken auf Kreta war nicht mehr eine Frage des "ob", sondern des "Wann". Die Aggression war unübersehbar, und beide Seiten betrieben sie, Venedig vielleicht mit mehr Doppelzüngigkeit. Gramvousa war nur eine der Festungen, mit denen Venedig seine Besitzungen auf Kreta zu schützen gedachte. Man findet die anderen, wenn man an der Nordküste Kretas entlangsegelt, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur: Chania, Rethymno, Soudha, Candia (das heutige Iraklion), Spinalonga. Und die westlichste davon: Gramvousa. Die Augen Venedigs nach Norden, hinaus auf die Straße nach Kithira, dahin, wohin auch ich jetzt schaue, hinüber nach "Agria Gramvousa" der wilden Insel die flach im Meer liegt und irgendwie fast zu schweben scheint an diesem Abend.


Ich streife durch die menschenleere Festung an diesem Abend, staune über die massiven Wälle, von denen es fast senkrecht hinuntergeht über 100 Metter in die Bucht, in der LEVJE friedlich schaukelt. Ich sehe die Initalen in der Kirche der alten Festung. Die Apsis, eine Seite ist eingestürzt, trotzdem kommen die Bewohner von Kissamos einmal jährlich hierher und feiern hier oben in der halbverfallenen Kirche einen Gottesdienst. Ich sehe die Tonscherben auf den Wällen, von Venezianern, von Türken, von griechischen Piraten, die während des Freiheitkampfes gegen die Türken für ein paar Jahre besetzt hielten und sich von Überfällen auf vorbeiziehende Schiffe buchstäblich über Wasser hielten. Ich sehe die Reste des weißen Markuslöwen aus Marmor, unten vor dem Tor. Was der nicht schon alles gesehen hat.

Und heute Abend? Da gehört die Festung Gramvousa, den Tieren, die auf der Insel leben. Den Kaninchen, die fast müde vor mir weghoppeln. als ich durchs Tor nach draußen schreite. Den Ziegen, die sich auf meinem Weg hinunter nicht storen lassen beim Abweiden der mageren Büsche. Und dem Nachtvogel, dessen unterdrückter Schrei mich aus der Felswand heraus bis tief in den Schlaf verfolgt.










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