Samstag, 23. Januar 2021

Das gestrige Sturmtief "Hortense" über Mallorca: Sind Stürme über dem Mittelmeer heftiger?



Es ist nur ein eineinhalbminütiges Video vom Dach eines Gebäudes auf Mallorca. Aber es zeigt in eindrucksvoll und lehrbuchhaft den nur etwa eineinhalb Minuten dauernden Aufzug einer zyklonalen Zelle auf dem Meer, wie ihn auch Lin und Larry Pardey in ihrem HANDBUCH STURMTAKTIK beschreiben. Gut erkennbar sind in dem kurzen Video ganz klar die typischen Merkmale und einzelnen Phasen dieses klassischen Kaltluftausbruchs am Freitag 22.1.2021 Mittag über dem 16 Grad warmen Mallorca:

• Der unglaublich schnelle Heranzug der Front von Nordwesten
• die typischen grauen "Kaltluft-Fahnen" vor der Front der heranziehenden Gewitterwolken, die starke Fallböen ankündigen.
• Ebenso typisch: Das Einsetzen von heftigem Regen, bevor Böen bis 120 km/h wehten - getreu der alten Skipperweisheit: 

"Kommt der Wind vor Regen: Skipper kann sich schlafen legen.
Kommt der Regen vor dem Wind: Skipper, Birg die Segel geschwind!"

über die ich oft in meinen Büchern schrieb.

Wie kam das Unwetter zustande? Kam "Hortense" überraschend? Konnte man Sturmtief "Hortense" schon vorher in den Wetterkarten ausmachen?

Auf den Wetterradar-Karten von WETTERONLINE kann man den Ablauf gut erkennen. Und wer die Wetterkarten verfolgte, konnte in sechs-Stunden-Schritten die Intensivierung des Tiefruckgebiets miterleben:

Donnerstag Nacht, 21.1. erreicht Sturmttief "Hortense" von Nordwesten heranziehend mit reichlich Kaltluft im Schlepp das spanische 


Festland an der Costa da Muerte bei A Coruña in der Biskaya und mutiert in den frühen Morgenstunden des Freitag über dem spanischen Festland zwischen Madrid und den Pyrenäen zur Gewitterfront:


Auf dem Weg südostwärts Richtung Balearen gewinnt die Front, die nun von der portugiesischen Grenze bis Zentralfrankreich reicht, weiter an Kraft:


Gegen 9.00 Uhr am Freitagmorgen erreicht die Unwetterfront die Mittelmeerküste zwischen Valencia and Barcelona - und legt buchstäblich in Windeseile in nur 2 Stunden die 120 Seemeilen zwischen dem Festland und den Baleareninseln zurück, was dann zu dem im Video ganz oben zu sehenden schnellen und heftigen Frontdurchgang führt:


Damit sich eine derartige Wetterküche wie Sturmtief "Hortense" zusammenbraut, braucht es wie im menschlichen Leben vor allem eins - Differenzen. Beim Wetter vor allem Temperatur-Differenzen:: Kaltluft aus polaren Regionen mit 0° trifft um die Mittagszeit über Mallorca auf Wassertemperaturen von 14-16° und Inseltemperaturen von >16°. Derartige Kaltluftausbrüche sind vor allem auf der Adria im Sommer keine Seltenheit. Aber auch die Ostsee kennt sie, wie die Geschichte eines im Gewittersturm gekenterten Katamarans vor Greifswald im Sommer 2017 im Buch IN SEENOT beschreibt, dessen dreiköpfige Besatzung mit allen Tricks gegen die drohende Unterkühlung ankämpfte.

Und wie schnell bewegen sich Sturmtiefs üblicherweise? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man auf einem sommerlichen Segeltörn einem Sturmtief wie "Hortense" begegnet? Kann man einem Sturmtief ausweichen? Wie verhält man sich auf See, wenn eine Front wie "Hortense" über einen hinwegzieht? 
Auf diese und viele weitere Fragen geben Lin und Larry Pardey in ihrem HANDBUCH STURMTAKTIK umfassende Antworten: 


Dienstag, 5. Januar 2021

STURM-TAKTIK: Widersprechen sich die beiden Bücher Wilts/IM STURM und Pardey/HANDBUCH STURMTAKTIK?


Mare Più-Leser Christian stellte zu meinem letzten Post zum Thema DIE RICHTIGE STURM-TAKTIK folgende Frage:

"Ich habe mir bei euch auch das Buch von den Pardeys gekauft und so lange  

fasziniert darin gelesen, bis ich parallel begann, die beiden Bände von  
Heide und Erich Wilts zum gleichen Thema zu lesen.
Ich möchte um Gottes Willen den Pardeys keine Kompetenz absprechen, das  
steht mir überhaupt nicht zu, denn sie haben abertausende von Meilen unter  
allen Bedingungen in nahezu allen Meeren gesegelt und dabei viele, sehr  
viele schlimme Stürme er- und überlebt. ABER: die Wilts raten explizit und  
auch unter Nennung der Pardeys davon ab, den Seeanker über den Bug  
auszubringen und propagieren das bei modernen Schiffen übers Heck zu tun  
und nur übers Heck. Könnt Ihr den Widerspruch erklären?"


Lieber Christian,


vielen Dank für Deine Mail. Als ich sie las, war mein erster Gedanke die Erinnerung an folgende Begebenheit. Ein erfolgreicher Verleger, (kein Kleinverleger wie ich ;-)) - wandte sich eines Tages an Reinhard Mohn, den Gründer von BERTELSMANN, einen noch erfolgreicheren Verleger, um ihn zu fragen, welche Methoden denn richtig, welche falsch seien, um einen Verlag noch erfolgreicher zu machen. Reinhard Mohn antwortete ihm lapidar: 

"Alles was funktioniert, ist richtig."

Das war eine weise Antwort. Dies "Alles, was funktioniert, ist richtig" gilt auch für den scheinbaren Widerspruch zwischen Heide und Erich Wilts auf der einen und Lin und Larry Pardey auf der anderen Seite. Ganz einfach deshalb, weil DU allein auf DEINEM Schiff selbst folgende drei Punkte herausfinden musst:

1. Wie DEIN Boot sich bei Sturm am besten verhält und am besten liegt.
2. Womit Du Dich in einer wirklich bedrohlichen Situation am wohlsten fühlst. 
3. Und wie Du dabei vor allem in der Lage bleibst, GUTE ENTSCHEIDUNGEN zu treffen.

Der letzte Punkt ist mir dabei fast am wichtigsten - denn im Ernstfall ist dies der Punkt, der fast immer Ursache für "menschliches Versagen" ist, das ja auch Heide und Erich Wilts in ihrem Buch IM STURM thematisieren. Das Thema GUTE ENTSCHEIDUNGEN hat der Psychologe und Unfallforscher Prof. Bernhard Streicher in meinem Buch AM BERG eingehend anhand von Bergunfällen beleuchtet. Seine Bemerkungen geben mir bis heute zu denken.

Zu Deiner Frage "Treibanker über Bug oder Heck ausbringen" habe ich auch die betreffenden Stellen im hervorragenden Buch von Heide und Erich Wilts noch einmal nachgelesen. Lin und Larry Pardey stimmen mit Heide und Erich Wilts ja in vielen Punkten überein - und nicht nur, was den grundsätzlichen Nutzen des Einsatzes von Treibankern im Sturm angeht. Der unzweifelhafte Wert beider Bücher für den Leser besteht ja darin, dass sowohl Pardeys HANDBUCH STURM TAKTIK als auch Wilts IM STURM aus einer sehr tiefgehenden jahrelangen persönlichen Erfahrung mit Stürmen geschrieben wurden. Lin und Larry Pardey begründen den Einsatz des Treibankers über Bug statt über Heck explizit in einem eigenen Kapitel (S. 141f) damit, dass bei Lage des Bugs zu den anrollenden Wellen nach ihren Erfahrungen auf ihren beiden kleinen 24- und 29-Fuß-Langkielern

• "brechende Seen mit geringerer Wahrscheinlichkeit ihren Weg ins Boot" finden, weil Steckschotten, Niedergänge, das offene Cockpit nicht den Wellen offenstehen
• "Gischt... die Besatzung davon abhalten könnte, den Niedergang zu öffnen, um an Deck" Ausguck zu gehen oder auf Wache zu sein.
• das Boot bei Problemen mit dem Treibanker bei Buglage immer noch beigedreht unter Segel in Position liegt, während es bei Hecklage zum Treibanker augenblick losläuft und querschlagen könnte.
• das Bergen des Treibankers am Bug dank Ankerwisch einfacher ist.

Es gibt allerdings keine Gründe, das Wort von Heide und Erich Wilts anzuzweifeln, warum auf ihren Booten das Ausbringen des Treibankers übers Heck zu besseren Ergebnissen führte.

Wenn ich dem Buch von Lin und Larry Pardey eines verdanke, dann ist es vor allem die Erkenntnis:
• Beim Thema Sturmtaktik haben sich in den letzten 10-20 Jahren schon bestimmte Grundtechniken als geeignet (oder wie das "treiben lassen" eindeutig als eher ungeeignet!) erwiesen.
• Die richtige Technik - ob im Detail so oder so - kann man für sein Boot nur selber herausfinden. Und zwar auf dem Boot, auf dem man eben unterwegs ist. Man kann nur eindringlich den Rat von Lin und Larry Pardey sinngemäß weitergeben: 
                           
Geh bei etwas mehr Wind raus. Probier es selber aus,
den Sack mit der Sturmfock auf dem nassen Deck in Schwerwetterklamotten nach vorn zu schleifen. Teste einfach, was funktioniert. Und was nicht.
                           









Sonntag, 3. Januar 2021

Warum ist Beidrehen bei Sturm kein leichtes Manöver, obwohl es doch anscheinend so leicht ist?

Beidrehen-Üben im Corona Sommer 2020 bei 30 Knoten Wind in der irischen See vor der Mönchsinsel Skellig Michael:
Ein eindrucksvoller Beweis, dass Beidrehen kein leichtes Manöver ist. Obwohl man es im Segelkurs leicht erlernt.
Aber nicht nur die irische See ist ein ideales Trainingsrevier, um Beidrehen zu üben...

Isla de Caja de Muertos südlich von Puerto Rico, November 1999: Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Beidrehen - und dessen Schwierigkeiten habe ich gut vor Augen, nicht nur, weil die unbewohnte Karibikinsel Caja de Muertos übersetzt "Sarg-Insel" heißt und auch so aussieht. 

Wir waren am Morgen bei leichtem Nordostpassat Kurs West entlang der Südküste Puerto Ricos aufgebrochen. Im Lauf des Vormittags frischte der Nordost, der sonst beständig wehte, auf. Gegen 10 Uhr Vormittags wurde er mehr, dann noch mehr, und wir hatten unsere helle Freude, mit der frischen Brise westwärts zu fliegen.

Bis es vor der Isla de Caja de Muertos zuviel wurde. Die Yacht lief instabil. Aus Freude wurde schlagartig Bangen. Reffen war angesagt. Also zuerst Beidrehen. Kann doch nicht so schwer sein, was soll an Beidrehen schon anderes dran sein, als mit backgestellter Fock und losgeworfener Großschot durch den Wind zu gehen? Aber zum Beidrehen mussten wir vom "Gemütlich mit-dem-Wind-gleiten" einen Haken schlagen - um 180 Grad genau in den auffrischenden Wind hinein. Aus 20 Knoten Wind raumschots würden plötzlich 26 Knoten, und die Welle, mit der wir bislang gemächlich mitgelaufen waren, ließ schon beim ersten Versuch ihre Gischt über den Bug fliegen, vom Lärm plötzlich wild schlagender Segel und des Baumes nicht zu reden. Uns vier - allesamt Segelneulinge, verließ die Traute. Jetzt beidrehen erschien uns zu heftig - und so weit vor der Küste gar als Manöver mit unabsehbaren Folgen. Aber wir mussten doch reffen, denn der Wind würde vor der Sarg-Insel weiter zunehmen...

Warum Beidrehen mehr ist "als Backstellen des Vorsegels unter gerefftem Groß", beantworten Lin und Larry Pardey in ihrem soeben erschienenen HANDBUCH STURM TAKTIK. Bei mäßigem Wind mag diese einfache Segelkombination noch ausreichen, um ein Boot zum Stehen zu bringen. Doch im strengen Sinn, so betonen die Autoren, bedeutet Beidrehen bei stärkerem Wind:

"Dass Sie 

• jede mögliche Kombination Ihrer Segel ... nutzen müssen, um                                                    

• Ihr Boot so zum Stehen zu bringen, 

• dass es etwa 50 Grad vor dem Wind 

• und langsam, direkt vom Wind weg 

• auf seinem eigenen Slick, auf den vom Bootsrumpf gebrochenen Wellen, reitet."

Das sind fünf harte Kriterien, die erfüllt sein müssen. Aber wie die Autoren zeigen, verweigern gerade moderne Yachtdesigns standhaft, sauber beigedreht zu liegen. Es gibt sogar namhafte internationale Segelbuchautoren, die von der Unmöglichkeit schrieben, eine Yacht mit den gängigen modernen Konstruktionsmerkmalen wie einem normalen Bermuda-Rigg, Flossenkiel und Spatenruder sauber beizudrehen.

Im vergangenen Sommer versuchten wir während der Arbeit an der Übersetzung des HANDBUCHS STURMTAKTIK, vor der Westküste Irlands die Theorien der Autoren zu überprüfen und auf LEVJE, einer SUNBEAM 37, Baujahr 2000, genau die fünf oben genannten Kriterien bei etwa 30 Knoten Nordwest umzusetzen. Wir benötigten knapp eine Stunde und vier verschiedene Versuche mit ganz unterschiedlichen Segelstellungen und Kombinationen, bis das Boot bei 30 Knoten-Verhältnissen stabil beilag. 


Versuch Nummer 1, wie gelernt: Vorsegel backgestellt, Großschot los, Ruderblatt hart nach Luv: LEVJE liegt nicht mit 50°, sondern mit 90° zum Wind und zur Welle. Fatal - weil sie jede anrollende Welle in Rollen übersetzt und damit der Gang übers Deck zum gefährlichen Abenteuer wird. An Arbeiten unter Deck nicht zu denken ist. 

Versuch Nummer 2: Gleiche Segelstellung, Ruder nicht hart Luv, sondern mehr mittig. Bei diesem nächsten Versuch luvt Levje immer wieder aus der beigedrehten Position an und geht durch den Wind: Fatal - die Yacht soll ja sicher zum Stehen gebracht werden und nicht unkontrolliert plötzlich hoch am Wind lossegeln.

Versuch Nummer 3: Was macht eine Yacht beigedreht lediglich unter backgestellter Fock mit winzigem Fetzchen Groß? Wie man unschwer an der irischen Gastlandflagge erkennt, schwingt eine drehfreudig konstruierte moderne Segelyacht aufgrund ihres schlanken Kiels sofort ihren Bug nach Lee und zeigt ihr Heck dem Wind. Fatal - denn nun wird sie im nächsten Augenblick vor dem Wind unkontrolliert lossegeln.

Versuch Nummer vier: Vorsegel ganz weg. Großsegel im 2. Reff auf "Hoch-am-Wind"-Kurs...

Erst Versuch Nummer vier brachte ein annähernd zufriedenstellendes Ergebnis mit stabilem Liegen in einer Position von immerhin 60° zum Wind. Und das bei einer Segelstellung, die ich von vornherein für mein Yachtdesign eigentlich ausgeschlossen hatte: Nämlich mit eingerolltem Vorsegel und lediglich unter dichtgeholtem gerefften Großsegel. Also nix "Backstellen des Vorsegels unter gerefftem Groß". 

          

... die Schiffsdaten beim 4. Versuch: Ganz rechts der Windmesser - er zeigt eine Lage von 60° zum Wind bei 29,6 Knoten Wind Speed. Sowie eine Driftgeschwindigkeit des Bootes von 0,56 Knoten.

Dass dies genau die Segelstellung war, die Lin und Larry Pardey für ihre langkieligen 24-Fuss-Holzyachten entwickelt und empfohlen hatten, ist kein Zufall. Ihr Ratschlag im HANDBUCH STURM TAKTIK: Sein Schiff beizudrehen lernt erst, wer das auf dem eigenen oder gecharterten Schiff auch bei etwas mehr Wind konsequent probiert. Und beim nächsten Törn, der unweigerlich in diesem Sommer winkt, wirklich herausfindet, welche Segelkombination und Ruderstellung ein Schiff braucht, um sauber beigedreht bei allen Windverhältnissen zu liegen. Beidrehen auf dem Schiff sollte trainiert werden.

Und die Isla de Caja de Muertos? Irgendwann brachte einer von uns vier doch die Traute auf, den Bug des Bootes durch den auffrischenden Wind zu bringen und das Boot zum Stehen zu bringen. Beidrehen ist seither vor allem beim Alleinsegeln mein Lieblingsmanöver - zum Ruhen. Zum Schlafen. Für Reparaturen. Bei unsichtigem Wetter. Beim Warten auf sichere Bedingungen für einen Landfall. Voraussetzung ist, dass ausreichend Seeraum in Lee vorhanden ist. Aber auch darüber schreiben Lin und Larry Pardey.

Alles LeserInnen von Mare Più ein Gutes Neues Jahr! Und sicheres Segeln im Segelsommer 2021!