Sonntag, 27. Juli 2014

Der Mensch und seine Sachen: Die Kanonen des Carlo Camozzi(ca.1680-1742). Oder: Wie die Industrialisierung begann.

Der einzige Zugang zur venezianischen Festung Agia Mavra, über die ich bereits vor zwei
Tagen berichtete.
Wer die alte, direkt am Kanal von Lefkas gelegene Festung von Agia Mavra, italienisch Santa Maura, durch das enge Tor betritt, der findet einen Ort, an dem die Zeit vor mehr als 200 Jahren stehenblieb. Im Inneren stehen noch die venezianischen Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert, und überall liegen die Kanonenrohre aus der Zeit um 1730 verstreut. Darunter auch dieses:


Es trägt ganz oben den Markuslöwen:


Und unten die Inschrift: CARLO CAMOZZI F. BERGAMO, übersetzt: "Carlo Camozzi aus Bergamo hat mich gemacht". Und diese Inschrift erzählt dem, der es hören will, eine Geschichte. Eine Geschichte vom vergeblichen Versuch, sich gegen den Niedergang zu wehren. Und eine, wie etwas Neues begann: unser Zeitalter der Industrialisierung.

Spätestens ab 1550 war klar, dass Venedig sich ändern musste, wollte es bleiben, wie es war. Die Dinge liefen nicht gut für die Serenissima Republicca: Im Osten mutierten die Türken unter ihrem neuen Herrscher mit dem klingenden Namen Selim, der Säufer zu einem Mittelmeer-Aggressor erster Klasse. Und blieben es für die nächsten Jahrhunderte. Eine Insel nach der anderen nahmen sie der Serenissima Repubblica ab: Erst Zypern, dann die Ägäis, dann im Candia-Krieg, nach 21 Jahren Belagerung, auch 1669 Kreta. In diesem Krieg kämpften auch etwa 30.000 deutsche Söldner aus Hannover und Braunschweig, die der westfälische Friede arbeitslos gemacht hatte, auf venezianischer Seite mit. Der "stato da mar", der riesige Meeresstaat der Venezianer von der Adria über Griechenland, Kreta bis Zypern war endgültig verloren.

Im Westen hatte die Entdeckung der neuen Seewege nach Afrika, Indien, Amerika schlafende Riesen geweckt. Und ganz neue Seemächte geschaffen. England. Holland. Und die nahmen ganz nebenbei Venedig den Fernhandel ab: Erst den lukrativen Nordhandel, dann sogar den vor der eigenen Haustür. Livorno ist so entstanden.

Technologisch war Venedig weit abgeschlagen. Beispiel Schiffbau: Zwar war das Arsenale um 1650 auf dem Höhepunkt seiner Produktivität. Es war in der Lage, innerhalb eines Tages (!) eine Galeere aus Fertigteilen im Accord zusammenzubauen und seeklar zu machen. Und das jeden Tag, solange der Vorrat reichte. Eine unglaubliche Leistung. Aber Galeeren waren den neuen Rahseglern unterlegen. Weniger Laderaum. Geringere Reichweite. Mangelnde Seetüchtigkeit im Atlantik. Venedig hielt unbeirrt an den Galeeren fest. Beispiel Metallverarbeitung: Das leichter verarbeitbare Eisen löste bei den Geschützen die Bronze ab. Venedig hatte weder Rohstoff noch Know-How.

Nach dem Candia-Krieg bäumte sich die Serenissima auf: Unter dem Dogen Marcantonio Giustinian ging man 1680 in Europa auf Erkundungs-, ab 1683 auf Einkaufstour - und wurde ausgerechnet beim Konkurrenten fündig. Denn der war der Marktführer:


Wer durch die Festung Korfu spaziert, kommt nicht vorbei: Gegossen wurde dieses schwere Geschütz, ein Mörser, 1684 in Süd-England, in Sussex von Thomas Western. Man sieht deutlich auf dem Foto seine Initialen T W und die Jahreszahl. Es gehört zu den über 140 Geschützen, die Venedig in nur zwei Jahren, von 1683 bis 1685 in England kaufte. Und auf dem langen Seeweg von England nach Griechenland brachte.

Aber wie im richtigen Leben: nur Shoppen geht nicht. Also baute Venedig Know-How und Produktionsstätten auf: in der Terra Ferma bei Bergamo, nahe bei den Eisenminen. Und hier lebte der Geschützgießer Carlo Camozzi und wirkte von 1722 bis etwa 1742. Über sein Leben und woher er sein Know How hatte, weiß man wenig. Aber in diesen 20 Jahren bestellte die Republik Venedig über 500 (!) Kanonen bei ihm. Dies heißt: dass er in seinen Berufsjahren jeden Monat mindestens zwei Kanonenrohre goß. Oder alle 14 Tage eins. Urlaub und Weihnachten sind nicht (!) berücksichtigt. Man kann dies nicht anders als fieberhaft bezeichnen. Und um dies zu schaffen, ist ungeheure Logistik und Planung der Abläufe notwendig. Sowohl der Ausstoß als auch die Art der Produkte lassen den Schluß zu, dass dies - neben der Dampfmaschine in England - die Geburtstunde der Industrialisierung war.

Von den 500 Kanonen des Carlo Camozzi sind viele erhalten. Und stehen noch dort, wo die Venezianer sie hingeschafft haben. In Korfu, Cefalonia, Kassiopi. Auf Ithaki und Nauplia. Und in Santa Maura, direkt neben dem Kanal von Lefkas. Und wer sie heute sieht, der schaue genau hin. Denn dann erzählen sie eine Geschichte vom Niedergang. Und eine von der Geburt von etwas ganz Neuem.



Quellen: 
1) Carlo Beltrame/Marco Morin: La Forza della Serenissima: http://s3.amazonaws.com/academia.edu.documents/31608348/Artiglierie_veneziane_in_Grecia-libre.pdf?AWSAccessKeyId=AKIAJ56TQJRTWSMTNPEA&Expires=1406453800&Signature=wZ8LaSsd3hY%2BYClxJu89Zey0J7E%3D

2) I Cannoni Veneziani della Fortezza Vecchia di Corfu: http://www.arsang.org/Z-Frames%20STORICHE/cannoni-Corfu/Scheda%20cannoni%20veneziani%20da%2040.pdf




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