Samstag, 30. Juni 2018

Fuengirola. Das Schiff des Mannes, der Indien suchte. Und Amerika fand.


Seit sechs Wochen bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne - einmal um die Küste Westeuropas herum. 
Im Hafen des südspanischen Fuengirola stoße ich auf ein bemerkenswertes Schiff, das Geschichte schrieb. Und eine Reise, die die Welt veränderte.



Und plötzlich liegt sie da. Herausgefallen aus der Zeit, als wäre sie eben aus einer alten Handschrift in den Hafen im südspanischen Fuengirola gepurzelt. Ein fremder Körper, so ungewohnt und ungelenk sind ihre Proportionen. Das überhohe, steil steigende Vordeck. Das Achterdeck, das sich über die Welt hinausreckt. So ungewohnt ist der Anblick der Konstruktion, dass der Betrachter sich sorgt, der nächste Windhauch könne sie einfach im Hafen umkippen und mit gewaltigem Platscher kentern lassen. So etwas kam gelegentlich vor - und nicht bloß einmal. Noch 150 Jahre nach dem Schiff, das da vor mir liegt, sank die WASA auf diese Art vor Stockholm, nach nur einer dreiviertel Meile Jungfernfahrt im ersten Windhauch der Ostsee. Und riss knapp 50 Matrosen mit sich in die Tiefe. 

Doch das Schiff vor mir liegt stabil an der Pier. Als ich näherkomme, treffe ich auf wuchtige Hardware in Holz. Kein filigranes Schiff, eher ein Rammbock. Der massive Steven hat den Durchmesser eines Autoreifens, ein Baum, der diesen Durchmesser für Steven und Kiel liefert, der musste lange gesucht und dann weiß Gott wie herangeschafft, herangeschleift werden. 


Sie sieht aus, als könne nichts sie zertrümmern. Und nichts ihr etwas anhaben in ihrer hölzernen Wucht. Der Balken, auf dem der geschmiedete Eisenanker aufliegt. Das sich nach außen wölbende Vorschiff. Die Dicke der Seitenwände. Der Bau schwerer Fahrtenschiffe um 1492 herum war vermutlich von anderen Überlegungen geprägt als mit den vorhandenen Ressourcen sparsam umzugehen. Vielleicht war sie in ihrer massigen Art auch ein Einzelstück. Die Welt des ausgehenden Mittelalters, sie war eine Welt der Einzelstücke, der Unikate. Die Welt der Massenprodukte, die unseren Blick jeden Tag vom ersten Zähneputzen bis zum letzten Flimmern aus Netflix bestimmt, die Welt der massenhaft hergestellten uniformen immergleichen Dinge, aus denen unser Leben zu einem großen Teil besteht: Diese Welt war noch nicht einmal gedacht, geschweige denn erfunden.

Der historische Nachbau von Columbus Flaggschiff SANTA MARIA ist das Projekt einer Gruppe aus dem spanischen Huelva, die sich das Ziel setzte, einen möglichst akkuraten Nachbau des Schiffes anzufertigen, auf dem Columbus einst aus Huelva ablegte. Und meinte gen Indien zu segeln und dabei in Amerika ankam - ein Irrtum, den er Zeit seines Lebens wohl nie bemerkte. Oder nicht bemerken mochte. Diesem Irrtum verdanken wir vieles: So schöne Worte wie "Indianer" oder "Barbecue"oder "Hurrican". Und manch andere Dinge und Zeitgenossen, mit denen Amerika uns bis in diese Tage erfreut. 


Die Zahlen des historischen Nachbaus sind schnell genannt: Sie wiegt 200 Tonnen. 45 Kubikmeter westafrikanisches Iroko Holz waren nötig, um ihren Rumpf zu bauen. Sie trägt 300 Quadratmeter Segel, die über 3 Kilometer Tauwerk gehievt, gezerrt, geborgen werden. Das einfache Ruder allein beeindruckt wie der Rumpf durch die massive Bauart. Segeln zum Ende des Mittelalters und hinaus auf den Atlantik: Das war Hardware.


Auch ihre Bauweise beeindruckt: Keine Schrauben. Kein hochfester Kleber. Sondern ein Kunstwerk aus aufeinander gefugten Planken. Man fixierte sie in Zimmermannsart mit dicken und dünnen Holzdübeln auf das Spanntengerüst. Und gab der Konstruktion allein dadurch die gewünschte Steifigkeit. Der Geruch im Schiff nach Holz, das Knarrzen der Verbindungen, wenn unter dem schweren Holzkoloss eine achterliche Welle durchläuft: Man hört es nur beim bloßen Betrachten.


Columbus war gebürtiger Genuese, nach heutigen Maßstäben also Italiener, aber das war ebensowenig erfunden wie Motor, Schotwinsch oder Bugstrahlruder. Das Rigg ist einfach: Um  segeln zu können, brauchte die SANTA MARIA immer Wind von hinten. Jedenfalls aus achterlichen Richtungen. J mehr er seitlich kam oder gar von vorn, war sie hilflos wie ein alter Waschzuber aus Eiche, der hilflos mit den Wellen dümpelt. Kursänderungen waren also nur vor dem Wind möglich.

Columbus hatte sie sich nicht bauen lassen und auch nicht ausgesucht. Ein Finanzier seines Unternehmens hatte sie mitgebracht. LA GALLEGA hieß sie, die Galizierin, was seriöse Historiker zu dem Schluß verführt, sie sei möglicherweise in Galizien gebaut. Es könnte jedoch ebenso gut der allzu enge Kontakt eines Seemanns mit einer korpulenten Galizierin gewesen sein, der dem wuchtigen Schiff zu seinem Namen und ihr zu einem unehelichen Kind verhalf. Der Schalk, der war sehr wohl ein Kind des Mittelalters. 

Für sein Unternehmen, die geplante Fahrt nach Indien, hatte Columbus drei Schiffe zur Verfügung. Das Größte, eben La Gallega, hatte er sich als Flaggschiff ausgesucht. Keine 30 Meter maß sie, mit 8 Meter Breite und 3,50 Meter Tiefgang. Wären da nicht die überhohen Aufbauten und ihr enormes Gewicht: Sie schiene mit ihren Maßen tatsächlich den Tendenzen im modernen Charterschiffbau (über 60 Fuß Länge) näher als heutigen Forschungsschiffen. Und um sich des Schutzes des Himmels und des Wohlwollens der Priester für sein Unternehmen zu versichern, verzichtete er auf den profanen Namen einer allzu irdischen Frau zugunsten der einen Überirdischen: Er taufte das Schiff auf den Namen SANTA MARIA. Für den Fall, dass der Schutz des Himmels nicht ausreichte, führte das Schiff vier Kanonen mit sich. Gebete waren gut. Pulver war besser.


Als Columbus Anfang August 1492 aus dem westlichsten spanischen Hafen Huelva Richtung Kanaren aufbrach, waren knapp 40 Mann Besatzung notwendig, um die SANTA MARIA vom Fleck zu bewegen. Allein die schwere Pinne scheint mehrere Mann zur Bedienung benötigt zu haben. Wie sie segelte, wissen wir nicht. Und wie sie sich in der Welle verhielt, schon gleich gar nicht. Zu vermuten ist, dass sie mit den hohen Aufbauten bei Welle sehr zum Geigen neigte und vor allem in den oberen Stockwerken des Vor- und Achterkastells ungewöhnlich stark schwankte. Columbus selbst war offensichtlich über die Schwerfälligkeit seines dicken Flaggschiffes nicht glücklich, er äußert sich in seinen Logbüchern entsprechend. Für Forschungsreisen sei sie nicht geeignet, vertraut er nach zwei Monaten seinem Logbuch an. Von den Kanaren weg, kam die Santa Maria mit dem Passat jedoch flott voran. Und schneller als erwartet. Doch nach vier Wochen ununterbrochen auf See wich die Stimmung der Verzweiflung - denn ununterbrochen vier Wochen auf See: Das war noch keiner der Seeleute gewesen. Die Stimmung war gefährlich nahe an Meuterei, wenn man nicht sogleich umkehrte. Doch Columbus, der die große Kajüte des Achterkastells bewohnte und von dort aus abgeschirmt regierte, kannte sich im Umgang mit kleinmütigen Mitarbeitern offensichtlich aus. Er handelte sich immer wieder einen Zeitaufschub heraus. Und bewegte sich Meile für Meile auf sein Ziel Indien zu.


Nach der ersten Oktoberwoche war die Stimmung in der Mannschaft am kritischen Punkt. Wären da nicht zufällig ein paar frische Zweige und ein bearbeiteter Holzstab am Schiff vorbeigetrieben, die der Mannschaft neuen Mut gaben: Wer weiß, wie alles geendet hätte. Wenige Tage später sichtete ein Matrose vom Bug des kleineren Begleitschiffes Pinta aus Land. Guanahani nannten die Eingeborenen ihre Insel. San Salvador taufte sie Columbus.


Und die Santa Maria? Zweieinhalb Monate später, ausgerechnet in der Weihnachtsnacht, steuerte Columbus, ihr Kapitän sie vor Hispaniola, dem heutigen Haiti und Dom Rep, auf eine Sandbank. Wir wissen nicht, ob er es war oder ein unaufmerksamer Seemann die Schuld trägt: Es war eine handfeste Grundberührung. Sie konnte sich nicht mehr freiwarpen. Columbus ließ den Großteil seiner Männer, etwa 35, mangels Transportmöglichkeit auf der Insel zurück. 
Ob die 35 gerne die Insel gegen das schwankende Schiff eintauschten? Schließlich waren sie nicht allein. Indios lebten in unmittelbarer Nachbarschaft. Man konnte Handeln. Und würde nicht verhungern. Um ihnen Hoffnung zu geben, ließ er sie aus den Trümmern der Santa Maria eine erste spanische Siedlung in der neuen Welt mit dem Namen La Navidad errichten. 
Als Columbus ein Jahr später die Niederlassung auf seiner zweiten Reise erreichte, war die Siedlung zerstört. Er fand ihre Besatzung tot. Berichte überliefern, die Indios hätten die Siedlung und alles Leben darin ausgelöscht; wobei nicht klar ist, ob die grausame Aktion nicht durch vorherige Übergriffe der Spanier auf die Indios ausgelöst worden war.


Bleibt noch zu erwähnen, dass man 2014 vor Haiti eine aufregende Entdeckung machte: Die Reste des Wracks der SANTA MARIA. Ob sie das wirklich war? Das: Ist nun wirklich eine andere Geschichte.








Donnerstag, 28. Juni 2018

In Granada. In den Gärten des Generalife.


Seit sechs Wochen bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne - einmal um die Küste Westeuropas herum. Sechs Wochen auf dem Meer - da sollte ich eigentlich Wasser genug gesehen haben. Aber ausgerechnet am Land, in einer Stadt umgeben von schneebedeckten Bergen, holt mich die Faszination fürs Wasser wieder ein.


Natürlich könne ich mein Boot bei ihm in der Marina lassen, um nach Granada zu fahren, sagt Samuele, der Marinero im Hafen von Motril. Samuele ist Mitte 30. Ein junger Papa, der Verantwortung für eine Familie übernommen hat und hier im Hafen von Motril für die Marineros. Und die 250 Schiffe der Clubmitglieder, die hier liegen. Puerto de Motril: Wieder so ein netter Hafen, und wenn ich ihn nicht vergessen werde, dann liegt das sicher an Leuten wie Samuele oder Juan, dem Wirt des Ballena Azul. Als ich am Abend den langen Strand entlangwandere, entdecke ich sein Restaurant dahinter. Es ist Fußball-Weltmeisterschaft. Der „Blaue Wal“ ist wie leergefegt. Juan ist so alt wie Samuele, er spricht gebrochen englisch, als ich ihn frage, antwortet er schüchtern, doch auf achtsame Art. „In Pueto Motril? Ist es nur voll im Juli und August.“ Während er den Salat bringt, frage ich ihn, warum niemand außer mir am Strand oder im Restaurant. „ Die meisten, die hier in Puerto Motril Wohnungen besitzen, leben eigentlich in der nahegelegenen Stadt Motril. Nur fünf Minuten Autofahrt von hier. Sie leben 10 Monate in der Stadt. Sie könnten auch hier leben. Doch jetzt, am Samstag, da ist das Fest von San Juan. Da kommen die Leute von Motril und ziehen für Juli und August ans Meer. Dann habe ich keinen Tisch mehr frei um diese Zeit.“ Ob er und die Familie denn von den zwei guten Monaten im Ballena Azul leben könne? Juan: „Das ist hart, der Juli und der August. Meine Frau und ich stehen jeden Tag ab sechs in der Küche. Und wir gehen zwei Monate lang nicht vor eins ins Bett. Aber ab Ende August, da ist es dann wieder so wie jetzt in Motril. Still und verlassen.“

Wo mir in Samuele und Juan das neue Spanien begegnet, erlebe ich mit der Busreise ins eine Stunde entfernte Granada das alte Spanien, wie ich es 1983 war. Der Bus kommt. Doch wann und wo: Das sagt er nicht. Jedenfalls nicht, wie es der Fahrplan verheißt. Es war und ist eine Art Geheimwissenschaft, wo und wie in Spanien auf dem Land der Nahverkehr funktioniert, niedergeschrieben nicht mit geheimer Tinte, sondern von Busfahrern, die sich an der kreativen Neuauslegung des Fahrplans jeden Tag ergötzen. Nach einer halben Stunde wächst in mir die Ungeduld, und in mir begegnet mir das alte Deutschland: Ich werde knurrig. Das muss doch funktionieren. Als der dritte Bus an meiner Bushaltestelle vorüberfährt, nehme ich ein Taxi, das mich in die nächste Kleinstadt zum Bus nach Granada bringt, den ich gerade noch eben mit hängender Zunge erreiche.


Über Granada zu schreiben ist müssig. Es könnte allein ein Buch werden. Und wäre der Satz nicht so abgedroschen, würde ich schreiben: Über Granada liegt ein Zauber. Eine Stadt hoch in den Bergen, wo man keines von beiden vermutet. Klare, kühle Bergluft zieht die Hänge herunter statt der feuchtwarmen Schwüle am Meer. Ein Bachlauf unter Feigenbäumen inmitten der Altstadt, ich folge dem gewundenen Lauf an seinem Ufer über das steile Kopfsteinpflaster, bis ich unterhalb der Alhambra stehe. Und rechts einem kopfsteingepflastertem Steig nach oben folge. Die Alhambra und der danebenliegende Palast des Generalife sind eigentlich keine Festung. Sondern mehrere. Nicht ein Herrschersitz, sondern mehrere Paläste aus den unterschiedlichsten Zeiten. Und nicht der kleinste von ihnen, wurde errichtet für jenen Mann, der sich als Herrscher auch die Burg in Nürnberg umbauen ließ und sich in seinem dortigen Festsaal an die Decke schreiben ließ: „Über meinem Reich geht niemals die Sonne unter.“ Denn das Reich, dessen Last dieser Mann auf seinen Schultern trug, es reichte von Prag über Deutschland, Österreich, Norditalien, Holland bis Südamerika. Europa suchte und versuchte seine Einheit wieder und wieder - und in vielerlei Formen. Doch Karl. V., musste zusehen, wie die mühsam errungene Einheit zerbrach: Die konfessionelle Einheit. Und die territoriale. Karl V. zerbrach darüber. Müde des Regierens dankte er ab. Zog sich nach Spanien zurück ins Kloster von San Juste. Und reparierte Uhren dort bis an sein Lebensende, als wollte er wenigstens im Kleinen zum Funktionieren bringen, was ihm im Großen versagt geblieben war.

Ich lasse den Palast Karls rechts liegen. Und streife links, einer Laune folgend, in die Gärten des Generalife. Ich hadere gelegentlich mit mir, weil ich mich so gut wie nie vorbereite. Auf meinen Segeltörn um Europa nicht. Und auf meine Reisen im Kleinen wie heute in den Palast des Generalife nicht. Doch diesem Unvorbereitetsein wohnt der Zauber des Anfangs und des Staunens inne. Ich weiß nichts über die Gärten des Generalife, als ich durch das üppige Grün stolpere, weiß nur, dass es Mauren waren, die Paläste und Gärten errichteten. Ich wandere durch Rosengärten, an langen Hecken entlang, wundere mich, ob ich noch in Spanien bin, weil dies hier etwas ist, was weit über unsere Vorstellung hinausgeht. Ein 


Palast, den Mauren errichteten, und der in seiner Schönheit nicht von Oberflächen, sondern von  Proportionen lebt. Als ich ihn am Nachmittag mehrmals in weitem Bogen und unten im Tal umwandere und ihn von vielen Seiten sehe, bin ich immer wieder erstaunt: Mit seiner Strenge, seiner Schönheit steht er japanischen Vorbildern in nichts nach. Doch es waren Mauren im 13. Jahrhundert, die ihn und die umliegenden Gärten so anlegten. Schon einmal,


Anfang 20, war ich fasziniert von der Kultur der Mauren, dem gelehrten Islam, der sich in diesen Bauten zeigt und dem die Bilder verwehrt sind. Aus dieser Begeisterung heraus reiste ich nach Marokko, wo mich die Begegnung mit dem damaligen Fremdenhass schnell die Flucht ergreifen ließ. 

Was mich in den Gärten immer wieder anzieht, ist das vielfache Spiel mit - Wasser. Wasser, das in Spanien so kostbar ist. Wasser, das auch den Kalifen als etwas kostbares, als Luxus galt, ettliche Jahrhunderte, bevor Absolutismus und Rokoko Wasser in seinen Gärten für die Repräsentation kunstvoll zu nutzen wusste.


In den Gärten des Generalife, ausgerechnet oben auf dem Gipfel, wo der Palast steht, sprudelt und spielt es an unzähligen Stellen. Als kleine springende Wasserbögen. Als gurgelnder Bachlauf, der in ein Treppengeländer im Garten eingebaut ist. 


Als winziger Springbrunnen im Garten unter dem Baum mit den riesigen Magnolienblüten. Als gurgelndes Gefälle in einer moosbedeckten Nische im Garten der Sultanin. 


Ich bin nun seit acht Wochen unterwegs auf dem Meer. Wasser habe ich genug gesehen, könnte man denken, doch gerade nach Wochen in der Wasserwüste erscheint mir wie einem Beduinen kühles Süsswasser als eine Kostbarkeit. Ich wandere von einem Garten in den anderen. Und bin geplättet.


„Die Abenteuer beginnen, wenn wir unser Zuhause verlassen“. Dieser Satz steht nun vier Jahre über jedem neuen Post und über diesem Blog. Ich empfinde ihn richtiger denn je. Denn wie weit musste ich reisen, wieviele Seemeilen zurücklegen, um über etwas staunen zu können, ja es als Kostbarkeit zu empfinden: Was mich zuhause jeden Tag unbegrenzt umgibt. Vielleicht ist es das, warum ich Motril, Samuele und Juan ebensowenig vergessen werde wie die Gärten des Generalife.


Montag, 25. Juni 2018

Von Garrucha zum Cabo de Gata. Oder: Ein Boot hat keine Bremsen.


Für mein neues Buch bin ich auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne.
Und mache dabei Erfahrungen, die man nur macht, wenn man segelt.




Über das Reffen, das Verkleinern der Segelfläche, gibt es den schönen Satz: „Reffen soll man dann, wenn man zum ersten Mal dran denkt.“ Jeder Segler kennt ihn. Doch dessen tieferen Sinn, den hab ich nie verstanden. Bis vor wenigen Tagen.

Die spanische Küste ist so ganz anders, als ich es erwartet hatte. Nach den Erzählungen von Seglern hatte ich mir die 550sm als einen einzigen schnurgeraden, brettebenen Sandstrand, bedeckt von häßlichen Hochhäusern und unterbrochen von teueren Marinas ausgemalt. Nichts davon ist wahr. Jedenfalls das wenigste. Die Küste? Ist so abwechslungsreich, wie man es sich nur vom Anblick einer Küste wünschen kann. Markante Felsen wechseln mit beeindruckenden Gebirgszügen, vor denen dann auch tatsächlich kilometerlange und einsame Sandstrände in allen Farben liegen. Schnurgerade? So mag die spanische Küsten in den Atlanten aussehen. So ist sie aber gar nicht. Wie an keiner anderen Küste gibt es die großen Kaps, die mich seit Ibiza bis hierher begleiten und hinter denen man immer halbwegs gute Ankerplätze findet: Cabo Nao - mit dem Felsen von Calpe, über den ich schrieb. Cap del’Horta. Cabo de Santa Pola. Cabo de Palos. Cabo de Gata. Jedes dieser Kaps ist ein landschaftliches Highlight, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Hochhäuser? Siehe meinen Post dazu. Überlaufene teuere Marinas? Ich bin Mitte Juni meist allein unterwegs. Die Marinas sind alles andere als überlaufen. Und teuer sind sie weder hier. Noch waren sie das auf den Balearen, wenn man nur in den PortsIB-Häfen nächtigt. Kein Vergleich zu dem, was man derzeit an Hochpreis-Küsten Costa Smeralda, Insel Ponza oder Teilen Kroatiens erlebt. Die Küste überrascht mich immer wieder mit ihrem Anblick, ihrer Verlassenheit, oder ihrer gelegentlich auch ihrer massierten Bebauung.

Ankern vor den Frachtern: Garrucha.
Auch die Häfen sind anders, als ich das aus den Erfahrungsberichten von Seglern auf der Reise gehört hatte und abwechslungsreich. Es gibt natürlich die touristischen Großorte wie Benidorm, die dann eben auch einen „Porto turistico“, wie es italienisch so schön heißt, mit dabei haben. Cartagena und Garrucha aber sind in erster Linie Industriehäfen, wo man im Vorhafen ungeniert neben der Großschiffahrt ankert. Und in Garrucha, wo mich um sieben die Förderbänder weckten, um die beiden Frachter zu beladen, begann um acht meine Reise an diesem Tag.

Der Wetterberichte hatte 20 Knoten aus Ost vorhergesagt. Genau das, was ich brauchte, um schnell nach Westen Richtung Gibraltar zu kommen und dieses Tor mit seiner Gegenströmung aus dem Atlantik gut zu passieren. Es sollte für sieben Tage beim Ostwind auf meiner Strecke so blieben, danach sollte der Wind wieder auf West drehen - und möglicherweise meine Weiterfahrt für Tage, wenn nicht mehr, durch die Straße von Gibraltar verzögern. Doch als ich am Morgen unter Segeln aus Garrucha ablegte, war vom Ostwind nichts zu spüren. Nur ein starker Schwell aus Nordost, der Levjes Baum so erbärmlich schlagen ließ, dass ich nach einer Viertelstunde  den Motor startete.

Gegen Mittag kam er langsam, der Wind. Er war lang im Bett geblieben. Spät aufgestanden. Und hatte Kräfte gesammelt. Erst 10 Knoten. Dann 12. Dann 14. Dann 18. Dann 20 Knoten. Er kam raumschots, ich konnte meine Kurslinie nicht halten, sondern steuerte mal nördlich, mal südlich davon, halste jede halbe Stunde, um mich nicht zu weit von der Kurslinie zu entfernen. Und weil alles gar so schön lief, ließ ich Vollzeug stehen.

Die Landschaft hinter den Industriehäfen von Carboneras ist menschenleer. Und einsam. Und so, als wäre ich plötzlich tief, tief in der menschenleeren Ostägäis gelandet. Kein Haus ist zu sehen. Kein Strauch. Kein Mensch. Levje rauschte die einsamen schwarzen Felsen entlang, die nur dem eine Freude sind, der die Einsamkeit sucht. Der Wind nahm zu, 22 Knoten, und meine erste Halse misslang - zuviele Dinge gleichzeitig. Das sollte bei diesen Windstärken nicht zweimal passieren. 

Einen Fehler machen im Leben ist nicht schlimm - man sollte ihn nur nicht zwei mal hintereinander machen. Ich überlegte, was ich anders machen könnte. Und wie ich die eine Winsch für Genua- und Großschot gleichzeitig einsetzen könnte. Es half ein simpler Trick: Ich betete mir einfach im Kopf die alten Manöver runter: „Klar zur Halse. Hol dicht die Großschot. Rund achtern. (Gib Stützruder). Fier auf die Großschot.“ Von außen sah das vermutlich urkomisch aus: Da war ein Mann in der Einsamkeit der schwarzen Berge auf einem Boot. Und redete wirres Zeug mit sich selber. Doch es half. Ich spielte das Mannöver vorher im Kopf durch. Probleme bereitet bei der Halse auf Levje, dass die Großschot ebenfalls über die Genuawinschen bedient werden musste. Doch mit einmal im Kopf durchdeklinieren war die rasche Folge schneller Schotwechsel auf der Winsch klar. 

24 Knoten tatsächlicher Wind. Für den, der mit dem Wind fährt, ist das ein reines Vergnügen. Ein gefühlt sanftes Windchen, das siebeneinhalb Tonnen wie durch einen Zauber in rauschende Fahrt versetzt. Ich weidete mich an dem Anblick, wie sich mein Schiff durch die Wellen bewegt. Zwischen den Felshängen kaum Welle, die unsere Fahrt aus dem Gleichgewicht bringen könnten, ließ ich Groß und Genua voll stehen. Levje stob ich durch die Wellen, wieder einmal bat ich sie still um Abbitte, weil ich sie, die von Masthöhe und Segeltragezahl leicht untertakelt ist, nach den anfänglichen ersten Schwachwind-Ausflügen auf der Nordadria enttäuscht als „Sie segelt wie eine Bratpfanne“ charakterisiert hatte. Doch für Windstärken wie vor Cabo de Gata ist Levje genau das richtige Schiff.


26 Knoten in der Spitze. Immer noch das reinste Vergnügen. Doch man vergisst zu leicht, wie schnell sich die Situation ändern kann, wenn man plötzlich nicht mehr mit dem Wind, sondern gegen ihn fährt. Die 26 Knoten fühlten sich mit meinen 7-8 Knoten rauschhafter Fahrt wie harmlose 18 Knoten an. Gegenan wären es über 30 Knoten: Statt 5 Beaufort von hinten plötzlich 7 Beaufort voll vorn. Ich vergaß das nicht. Mein Schiff lief vollkommen ruhig, zur Sicherheit setzte ich mich hinters Steuer und passte auf, dass der Autopilot, der das Schiff streng nach der Windfhne im Masttopp steuerte, nicht plötzlich den Dienst quittierte. In jedem Moment überlegte ich, was ich täte, wenn der Autopilot plötzlich fiepend ausfiele. Ich saß da. Mein Hirn rechnete wie ein Computer. Meine Seele saugte in sich auf, was ich sah. Ich wünschte wieder einmal, ich hätte eine Festplatte, damit ich alles und jedes, was ich in diesem Moment sah, in jedem kleinsten Detail in speichern könnte, damit ich es wie einen Film abrufen könnte. Jederzeit. Damit ich nicht vergesse.

Aus dem Augenwinkel nahm ich die Yacht vor mir war. Sie schien Probleme zu haben. Wendete unmittelbar vor dem Cabo de Gata. Stand mit killenden Segeln reglos im Wind. Drehte nach einer Weile ab. Um mit killenden Segeln den Weg, auf dem sie gekommen war, zurück zu motoren. Was für ein mühseliger Weg! Jetzt sah man, wie sich 6-7 Beaufort gegenan anfühlten. Das Schiff, das eben noch dahingeglitten war, war nun ein hilfloser Klotz in den Wellen, ein Stück Holz, das wehrlos auf und abgeworfen wurde in den Wellen und sich unter Motor mit 2-3 Knoten gegen die Kraft der Wellen durchboxen musste. Womöglich für Stunden.


Cabo de Gata in Sicht. Zwei rundgeschliffene riesige Felsen liegen wie Urzeit-Schildkröten versteinert rechts am Strand. Eine Radarstation in den Felsen. Sonst schwarze Felsen. Einsamkeit. Wind. Meer. 

Und die Wellen, die sich voraus noch mehr kabbelten. Ob es da am Kap vielleicht starke Strömungen gab, wie in der Straße von Messina, wo der stark ansteigende Meeresboden selbst an windstillen Tagen Zipfelmützen an der Meeresoberfläche aufwirft? Ich sah mir die Schaumkronen einen Moment an. Vor dem Kap herrschte einfach noch mehr Wind - das war die Antwort. Ich überlegte einen Moment. Ich hatte immer noch Vollzeug stehen. Jetzt wenden? Beidrehen? Und reffen? Zu eng an dieser Stelle. Zu wenig Lee. Zu ungewiss.

Blieb nur: Unter vollem Groß und voller Genua einfach weiterlaufen, was immer da vorne an Wind käme. Ich schaltete den Autopilot aus. Und übernahm das Steuer. Was immer dort auf mich zukam: Ich wollte selbst am Steuer stehen. Das Ruder bewegte sich wunderbar leicht, zu leicht, wie der YACHT-Tester damals befand, der gern mehr Ruderdruck spüren wollte. Doch ich war glücklich mit dem Rad, das ich selbst mit zwei Fingern steuern konnte.

Hättest Du bloß mal vorher gerefft!


Cabo de Gata. 28. 30 Knoten von achtern. Es war viel. Ich spürte das Prickeln in meinem Nacken. Ob noch mehr kommen würde? Jetzt bloß keinen Steuerfehler! Das Drahtstag über mir knackte. Der Mast gab kurze Geräusche. Laute, die ich noch nie gehört hatte, während Levje kurz von 9 auf 10 Knoten beschleunigte. Hoffentlich kommt da vorn nicht noch mehr Wind? Haben wir noch genug Tiefe unterm Kiel? 10 Meter sagte die Anzeige. Jetzt nur nirgends mit dem Ruder hängenbleiben, pinselte mein Hirn an die Wand. Was für eine irre Fahrt ist das denn, jubelten meine Sinne. Gottseidank keine brechenden Wellen, sie hätten uns gefährlich aus der Bahn werfen können. Und was für einer Bahn: Es war, als hätte man mein 7,5 Tonnen-Schiff in einen Wildwasser-Kanu-Kurs geworfen. Rauschend, wiegend schoß es nach vorn, ging es nach unten im Wildwasser, vorbei am Kap. Mein Schiff suchte sich selber seinen Weg, so hatte es den Anschein, zwischen Gischt und Strudeln und nahm ihn gelassen, als wäre alles nichts. Während ich klein, verloren am Steuerstand stand, vibrierend wie die Stagen über mir vor innerer Anspannung. Vor Freude. Vor Furcht. Vor Jubel über all das.

Keine 10 Minuten dauerte die rauschende Fahrt am Cabo de Gata. Dann fiel der Wind wieder auf 25 Knoten. Ob ich vorher gerefft hätte, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet? Ich weiß es nicht. Selbst wenn die Erfahrung für mich einzigartig und neu war: Für ein Schiff sind 30 Knoten segelnd von achtern, wenn es in gutem Zustand ist, nichts Ungewöhnliches. Es erlebt zu haben, stärkte mein Vertrauen in mein Schiff ungeheuer. Ich habe für höhere Windstärken die richtige Takelage gewählt.


Ob man Vollzeug stehen lassen sollte? Darüber kann man streiten. Reffen soll man dann, wenn mans erste Mal dran denkt. WEIL MAN DANN NOCH DIE MÖGLICHKEIT DAZU HAT. Das ist der ungesagte, doch wichtigste Teil des Satzes. 

Doch ich bin froh, mein Schiff in dieser Situation erlebt zu haben. Ich habe mir die letzten Tage angewohnt, Manöver zu üben. Ablegen unter Segel ohne Motor. Ankern unter Segel ohne Motor. Ich habe gestern nach Cabo de Gata bei 25 Knoten beigedreht, um zu reffen. Und gehalst.


Am Ende bleibt: Mein Schiff und ich. Wir haben beide funktioniert in dieser Situation. Und wir hatten Glück. Das zählt.

Freitag, 22. Juni 2018

Die Suche nach einem Platz für die Nacht. Diesmal: Ankern unterm Leuchtturm.


Anders als erwartet, ist die spanische Südküste nicht flach und brett-eben, sondern von Gebirgen geformt. Und mit großen Kaps. Etwa 200 Seemeilen vor Gibraltar liegt das Cabo de Palos.



Der Tag war lang gewesen. Ich war erst Mittags aus dem Hafen von Alicante fortgekommen, hatte mich an diesem Samstag zu lange oben auf der Festung und dann im Gewusel der winkeligen Altstadt auf der Suche nach einem Bäcker und frischem Brot herumgetrieben. Der Hafen von Alicante kann überdies Zeit kosten: Es ist eine lange Ausfahrt, vorbei an den Hunderten Seglern und Motoryachten im Real Club Nautico, wo vor einem halben Jahr eine Etappe des VOLVO OCEAN RACE startete. Vorbei an den alten Schleppern. Hindurch zwischen der modernen Fregatte CASTILLIA, die heute Tag der offenen Tür hat und vor der ein paar Leute auf der Pier stehen. Und ihrer 200 Jahre alten Vorgängerin, dem still vor sich hinrottenden Nachbau der SANTISSIMA TRINIDAD, dem alten spanischen Linienschiff, das größten Kampfschiff seiner Zeit, das in der Schlacht von Cabo de Trafalgar von den Schiffen Lord Nelsons so viele Treffer einstecken musste, dass sie einen Tag später beim Versuch der Sieger, sie als Prise zu bergen und in den britischen Heimathafen Gibraltar zu schleppen, noch an den Trossen sank. Mit 150 spanischen Verwundeten in den untersten der 11 Stockwerke an Bord.


Noch immer beeindruckend in seiner Größe, selbst mit fehlendem Bugspriet und geknicktem Fockmast:
Der verfallende Nachbau der SANTISSIMA TRINIDAD im Hafen von Alicante.


Noch im Hafen, ein paar Meter hinter der SANTISSIMA TRINIDAD, setzte ich die Segel, eine milde Brise trieb uns die Küste genau nach Süden. Keine Welle. Keine Rauschefahrt. Nur dies stille Gleiten, als wäre Levje ein Schiff in der Luft. Und ihre siebeneinhalb Tonnen wären nichts als das Gewicht einer Feder, als verlöre die Schwerkraft jede Macht über sie. Als die Küste zurücksprang, hielt ich meinen Kurs nach Süden. Der Wind nahm zu, jetzt wurde es eine Rauschefahrt. Das schwere Schiff rollte mit den Wellen, die backbord leicht von achtern kamen, sie wiegte sich einfach mit den Wellen. Beschleunigte, wenn eine Welle anrollte und unter ihr durchrollte, mitgerissen von den Wassermassen. Bremste ab, wenn die Welle vom Heck bis zum Kiel unter ihr durchgelaufen war, als wäre sie in das Kehrwasser einer Störmung geraten. Ich überließ das Schiff dem Autopiloten und beobachtete fasziniert das Spiel der Wellen und was sie mit meinem Schiff trieben. Sah zu, wie aus der glatten See zuerst Wellen wurden. Wie sich auf den Wellen die ersten weißen Katzenköpfe zeigten, Schaumkronen, die sagen, dass der Wind nun kraftvoll genug ist, ein Segelschiff schnell voranzutrieben. Ich freute mich, wie mein Schiff sich durch die Wellen bewegt, und wie die Küste langsam hinter mir am Horizont verschwand.



Als die Sonne im Westen so tief stand und das Land wie den Scherenschnitt eines thailändischen Schattenspiel erleuchtete, war ich immer noch nicht fertig mit dem Beobachten. Die Seekarte mahnte. Zeit, einen Platz für die Nacht zu suchen. Was die Seekarte zeigte, waren alles Flachwasserhäfen in und um das Mar Menor, das „Kleinere Meer, das sich irgendwo am Horizont hinter der feinen Kontur des Scherenschnitts verbarg. Kleine Häfen, allesamt nicht geeignet für Levjes 2 Meter Tiefgang. Also um Cabo Palos herum in der Dämmerung, dahinter verbarg sich eine windabgewandte Bucht, das wäre der richtige Platz zum Ankern. Doch vorsichtig navigieren. Die braunen Felsen vor dem Kap schieben ettliche flache Felsbuckel als Ausläufer ins Meer hinaus, also jetzt vorsichtig sein.

Ein Zweimaster näherte sich von links, hinter den Inseln. Er schaukelte gemächlich in der Dünung Richtung Kap und rundete es vor mir, als die Sonne hinter einer Wolkenbank verschwand. Ich folgte ihm, er nahm Kurs auf die Bucht, er war größer als LEVJE, und breiter, und nahm Kurs auf die Bucht, die ich mir für die Nacht ausgekuckt hatte.

Anders als erwartet, doch wieso oft, hatte der Wind ums Kap gedreht. Sie lag alles andere als geschützt, die Wellen liefen genau in die Bucht. An Ankern war hier nicht zu denken, es würde eine unruhige Nacht werden. Doch der Zweimaster nahm selbstbewusst Kurs auf die verwinkelte Hafeneinfahrt, die sich hinter den Felsen zeigte. Das war doch auch nur ein Flachwasserhafen? Die Seekarte sagte, dass hier maximal 2 Meter Wassertiefe wären? Der Zweimaster war größer und schwerer und breiter als Levje? Wenn der sich da hinein wagte, käme ich mit Levje da sicher auch hinein. Und hätte einen geschützten Platz für die Nacht. Schnell startete ich in der anbrechenden Dämmerung den Motor, reffte zwischen Untiefen die Segel, und folgte dem Segler, der hinter der Kaimauer verschwunden war und plötzlichen zwischen den anderen Masten wie vom Erdboden verschluckt war. Ich folgte ihm langsam in die Hafeneinfahrt. Erst acht Meter. Dann sechs. Dann 3,60 Meter. Und kaum hatte ich die Nase in der Einfahrt, zeigte der Tiefenmesser 2,0 Meter. Nein, so wurde das nichts. Ich rechnete jeden Moment damit, dass Levjes Kiel mit einem Rums gleich auf dem Felsen aufsetzen würde.

So wurde das nichts. Für dieses eine Mal hatte meine Taktik, „wo ein Dicker reinkommt, komm’ ich locker rein“ nicht funktioniert. Manche Häfen musste man eben selber kennenlernen und konnte nicht rotzfrech einfach hinterherfahren. Der Zweimaster hatte uns jedenfalls in seiner Hafeneinfahrt von seinem Rumpf abgestreift wie eine lästige Entenmuschel.

Ich stoppte Levje, und tastete mich sachte rückwärts aus dem Hafen, aus der Sicherheit wieder hinaus in die anbrandenden Wellen in der Dämmerung. Und jetzt?  

Es war halb neun geworden. Die Sonne war hinter dem Ort verschwunden. Ich drehte vor dem Hafen im Schwell ratlos meine Kreise, während von den Tavernen Licht und fröhliches Stimmengewirr herüberklang. Das würde heute nichts werden für mich. Niemand da, den ich hätte fragen können.

Weitersegeln bis zur nächsten Großstadt, nach Cartagena? Es würde Mitternacht werden. Einen anderen Ankerplatz suchen? Wer segelt, sieht Buchten mit anderen Augen. Vor dem Cap mit dem Leuchtturm hatte ich - wo eigentlich nur Schwell und Wellen sein sollten - beim Passieren in einem Winkel vor dem Strand aus dem Augenwinkel eine glatte Wasseroberfläche bemerkt, wo nach aller Logik gar keine sein konnte. Ich beschloss, die 20 Minuten in der anbrechenden Nacht zwischen den Felsbuckeln hindurch zurückzufahren und dort meinen Platz zu suchen.



Gleich unter dem Leuchtturm von Cabo Palos fand ich ihn. Ein kleiner Sandstrand. 6 Meter Wassertiefe davor. Rasch ließ ich Levjes 20-Kilo Anker vorne ins Wasser platschen. Gab 25 Meter Kette. Zog dann prüfend nach hinten unter Motor. Erst zaghaft. Dann mit Gas. Er hielt. Gab noch einmal fünf Meter Kette. Der Anker hielt. Nun konnte, selbst wenn der Wind es wollte, die Welle in die Bucht stehen. Der Anker würde so lange halten, bis ich wach war. Und ich Levje unter Motor selbst Nachts notfalls aus der Bucht steuern konnte.

Ich schaute mich um. Der kubische zweistöckige Sockel des Leuchtturms. Auf jeder Seite acht Fenster. Die meisten Leuchttürme, die ich sah, sind längst verlassen. Es gibt keine Leuchtturmwärter mehr, anders als früher werden Leuchttürme längst nicht mehr bewohnt. Elektronik regelt alles. Doch an der mir zugewandten Nordseite des Leuchtturms, im oberen Stockwerk des Kubus, gingen drei Lichter an.

Wer hier wohl lebte? Gibt es noch Leuchttürme, die nicht ihr Licht vollautomatisiert in die Nacht schicken? Existierte da noch ein alter Leuchtturmwärter, der sich ausbedungen hatte, seinen Lebensabend hier verbringen zu dürfen, weil er doch sein Leben den Leuchttürmen gewidmet hatte? Der hier mit seiner Tochter lebte? Oder konnte man sich einfach, wie es auf manchen Inseln der Fall ist, in der Wohnung des Leuchtturmwärters einmieten? Ob ein Schriftsteller hier sein Schreibdomizil hatte?

Ich weißes nicht. Niemand zeigte sich in den offenstehenden Fenstern. Es war, als würde hier, unterm Leuchtturm dauerhaft jemand leben, während oben an der Spitze des schlanken Minaretts ein gleichmässig kreisender Strahl sein Licht wie einen langen Finger kreisend in die Weite deuten ließ.


Ich schlief beruhigt ein.

Donnerstag, 21. Juni 2018

Benidorm: Ankern zwischen Hochhäusern. Oder: Die Zukunft unserer Städte. Wie wollen wir leben?


Auf dem Weg von Sizilien in die Bretagne erreichte ich 
das spanische Festland. Mein zweiter Ankerplatz dort nach dem beeindruckenden Felsen von Calpe: Benidorm. Wo der moderne Hoteltourismus geboren wurde.



Das Meer ist stahlblau. Keine Welle kräuselt seine polierte Oberfläche. 

Sie stehen im Morgenlicht, als wären sie übrig geblieben. Ein Relikt aus einer anderen Zeit, die Zukunft hieß. Als wären sie Kulisse eines Films gewesen, der in einer nahen Zukunft spielt. Kuben. Hochkant aufgestellte Quader. Säuberlich entlang des Küstensaums aufgestellte Bauklötze - ihre Gesichter allesamt dem Meer zugewandt. Als würden sie den Betrachter, der sich an diesem Morgen allein auf dem Meer befindet, unverwandt anblicken. Kein Mensch weit und breit.

Wer das Glück hat, Benidorm an einem Sommermorgen vom windstillen Meer aus zu sehen, kann nicht anders, als erst einmal begeistert zu sein. Bei diesem Anblick schwinden alle Vorurteile über den Massentourismus. Ja, auch Hochhausarchitektur kann Ästhetik besitzen, das wissen wir nicht erst seit Mies van der Rohe’s Seagram Building in New York, einem Meilenstein der Hochhaus-Architektur der 50er Jahre, der heute vor dem, was danach um ihn herum entstand, ganz unscheinbar wirkt. Doch das Gebäude war epochal neu in seiner Ästhetik, es nahm vorweg, was danach kam, und wurde darum überholt von allem, was sich genau an seiner wohlproportionierten Schönheit orientierte und genau diese  ab den Siebzigern einfach auf drei bis siebenfache Höhe hochrechnete.

Ankern vor den Hochhäusern Benidorms: Vor den Bauten auf dem Punta del Pinet findet man in der Cala Xio Timo einen ungewöhnlichen Ankerplatz vor dem Sandstrand.
Besteht unsere Zukunft darin, dass das, was uns heute normal erscheint, einfach ins drei bis siebenfache hochgerechnet wird, denke ich an diesem Morgen? Gut möglich. Als ich auf die Welt kam, brauchte man von München nach Benidorm noch unaussprechlich lang unterwegs. Heute geht das entschieden schneller. Als ich geboren wurde, 1960, lebten 3,0 Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es 7,5 Milliarden. München, Anfang der Sechziger stadtplanerisch gefangen zwischen Kriegsschäden-Beseitigung und hastiger Wohnraumschaffung, hatte gerade die Millionenmarke bei den Einwohnern überspungen. Es kratzt heute an der 1,5 Millionen Einwohner-Marke. Wer sich heute auf YOUTUBE, dem „alte-Leute-Netflix“, verflossene München-Serien aus den Siebzigern ansieht, kann nur staunen, wie sehr deutsche Großstädte wie München überwiegend aus desolatem Altbau bestand.

Benidorm war vor 1960 ein einfaches Fischernest an der Küste. Es gab einen aktiven Bürgermeister, Pedro Zaragoza Orts, der kurz zuvor begonnen hatte, die schlammigen Gassen des kleinen Fischerortes teeren zu lassen, wie es auch im fernen Deutschland in den Dörfern auf dem flachen Land geschah. Und wie sie Wasserleitungen und Abwasserkanäle zu den Häusern graben ließ. Und der sich Gedanken über die Zukunft seines kleinen Dorfes machte. Fischerei? Schon gut. Aber der Erfolg steckte doch im sichtbar aufblühenden Tourismus. Pedro Zaragossa Orts ließ in Benidorm, um die Touristen unterzubringen, die ersten Hotelhochhäuser in Spanien überhaupt errichten. Er störte sich nicht daran, dass Spanien unter Franco noch immer eine faschistische Diktatur war. Er störte sich aber daran, dass in diesem Land Touristen das Tragen von Bikinis per Gesetz verboten war und erklärte stattdessen Benidorms Strände zur Bikini-Zone. Was gerne genutzt wurde von fortschrittlichen Spanierinnen ebenso wie von Touristinnen. Bis die GUARDIA CIVIL, Spaniens Carabiniere-Truppe, die ersten Damen wegen des Gesetzesverstoßes „Tragens eines Bikinis“ vom Strand weg verhaftete - "BILD berichtete".

Der Bikini hat sich, wie wir wissen, heute durchgesetzt. Oder ist schon wieder out. Die Geschichte hat mal wieder „weitergerechnet“ und die vorhandenen Sommer-Stofffetzchen bis 2018 einfach weiter verkleinert.




Doch ist es nur damit getan, einfach alles hochzurechnen? Auch München stieg Ende der Sechziger in die architektonische Zukunft ein - wie Pedro Zaragoza Orts in Benidorm ein paar Jahre früher. Das ARABELLA-Hochhaus war ein Meilenstein. Von den einen verachtet als ein das Stadtbild entstellender Klotz. Geliebt von den anderen, für die das Leben in dieser Communuty aus Künstlern, Eigenbrödlern noch heute ein Stück extravaganter Teilhabe an der Zukunft ist. Wie die meisten seiner Bewohner ist auch das ARABELLA-Haus jetzt in die Jahre gekommen. Sanierungen stehen an, nicht nur an der Fassade, sondern tief an der Baustubstanz. Der Geschäftsführer des Betreibers rechnet vor, dass Abriß und Neuerrichtung dieser Immobilie weit günstiger käme als eine anstehende Kernsanierung, bei der das Gebäude für die Dauer der Arbeiten ohnehin geräumt und leerstehen müsse. Für mindestens mehrere Jahre. Was man in den Sechzigern in aller Euphorie übersah, wie gut doch alles einst werden würde, wär es nur schon da: Wie alle Gebäude benötigen auch Hochhäuser Zuwendung. Er heißt bei bei ihnen Instandhaltungsaufwand. Doch anders als ein ererbtes schlichtes Zwei-Familienhaus besitzen Hochhäuser offensichtlich ein Verfalldatum - das sich wieder einmal aus der Rechnerei ergibt.. 


Denn für die Hochhäuser werden Summen fällig, die nur eine Gemeinschaft starker Kapitalgeber stemmen kann. Man nennt sie „Investoren“, ein Wort, das mittlerweile einen bitteren Beigeschmack hat, weil man es häufig mit „Heuschrecken“ gleichsetzt. Doch selbst wenn man die Dinge einfach nur finanzmathematisch nüchtern betrachtet, ist klar, dass auch das einfache „Hochrechnen“ der Finanzierung gesellschaftlich Folgen haben wird, Gesellschaften verändern wird. Nicht mehr wer Menschen, sondern wer Geld für sich arbeiten lassen kann, hat den Schlüssel in der Hand, um zu den Gewinnern der Zukunft zu gehören. 

Doch nun brummt mir der Schädel an diesem Morgen von all der Rechnerei. Sagen wir einfach: Die Hochhäuser von Benidorm sehen an diesem windstillen Morgen vom Meer betrachtet wunderschön aus. Ob der Fischer, der auf seinem alten Kahn in aller Frühe seinem altehrwürdigen Handwerk nachgeht, das auch findet? Ich würde ihn gerne fragen, was er über die Zukunft denkt. Doch es ist nicht der rechte Ort und nicht die rechte Stunde dafür. Verschieben wir es also einstweilen.