Es wird Zeit, die Geschichte meiner Einhand-Segelreise von Sizilien
bis Südengland um die Westküste Europas zu Ende zu erzählen.
Nach den Balearen, Gibraltar, Portugal, Nordspanien und der Nordküste der Bretagne
erreichte ich im September 2018 die Kanalinseln Guernsey und Alderney.
Die Kanalinseln haben es in sich. Schon der Weg von Guernsey nach Alderney, zur nördlichsten der britischen Inseln im Ärmelkanal, war ein Abenteuer. Von Guernseys Haupthafen setzte starker Strom nach Norden. Soweit so gut. Doch das Fahrwasser ist mit Klippen und Sandbänken gespickt. Und weil Hochwasser war, sah man sie nicht, sah nur die dünnen Stangen im Wasser, die sie markierten und verrieten, wie stark die Strömung wirklich war: Es war, als stünden die Stangen nicht im Meer, sondern in einem schnell fließenden Fluss. Fast 10 Knoten betrug unsere Geschwindigkeit, wir schossen an den Stangen vorbei, ich hatte alle Hände voll zu tun, um ihnen und den darunterliegenden Untiefen bloß nicht zu nahe zu kommen. Ich war bei schwachem Wind unterwegs - wie möchte es in diesem tückischen Revier erst bei Starkwind zugehen? Wenn Wind gegen Strom zwischen Untiefen und Klippen hohe Wellen aufwerfen würde, wäre Manövrieren unter Segeln in diesem Revier bei einem Tidenhub von 7 Metern tollkühn.
Eine Stunde nördlich St. Peter Port wird das Fahrwasser freier. Ich hatte in St. Peter Port herumgetrödelt, an der in unruhigem Wasser liegenden Tankstelle Levje mit zollfreiem Diesel bis zum Rand betankt, vor dem Hafen fotografiert. Das rächte sich jetzt, das Zeitfenster, in dem der Strom mit uns war, schloss sich. Als er gegen uns drehte, verlangsamte sich meine rasche Fahrt, plötzlich krochen wir nur noch mit zwei Knoten dahin.
Alderney ist keine drei Stunden von Guernsey entfernt, als ich näherkam, hatte ich einen markanten Felsen zur Linken, die Insel Ortac, die aus der Ferne aussah wie ein mit Puderzucker bestäubtes Stück Schokokuchen. Vogelschwärme umkreisten ihn, und was nach Puderzucker aussah, waren Massen brütender Seevögel. Doch was es mit ihnen auf sich hatte, das sollte ich erst in Alderney erfahren.
Alderney ist keine drei Stunden von Guernsey entfernt, als ich näherkam, hatte ich einen markanten Felsen zur Linken, die Insel Ortac, die aus der Ferne aussah wie ein mit Puderzucker bestäubtes Stück Schokokuchen. Vogelschwärme umkreisten ihn, und was nach Puderzucker aussah, waren Massen brütender Seevögel. Doch was es mit ihnen auf sich hatte, das sollte ich erst in Alderney erfahren.
Nicht anders als der Vogelfelsen Ortac ist Alderneys Haupthafen Braye Baye ein einsamer Ort, auch wenn dort 40 Yachten unter der britischen Festungsmauer lagen. Verlassenheit liegt über allem. Tim, mein munterer Motorradverleiher aus Guernsey, hatte mir von Alderneys eigenartiger Stimmung berichtet. In Jersey sei er geboren und aufgewachsen. Auf Guernsey lebe er mit seiner Familie seit zwei Jahrzehnten. Die Inseln in der Nachbarschaft, Herm und Sark würde er gut kennen. Aber nach Alderney sei er noch nie gekommen.
Braye Bay ist von einer ungewöhnlich langen und hohen Mauer eingefasst. Es ist keine der modernen Molen aus hellen Betonpylonen, sondern eine alte Mauer aus jenen düsteren Quadern, als wäre dies Alderney Schauplatz einer Episode aus Game of Thrones. Und als gäbe es Klippen und gefährliche Hindernisse rund um die Kanalinseln nicht genug, läuft die Mauer der Braye Bay unter Wasser unsichtbar weiter. Ihr Sockel zieht sich noch einmal so weit nach Nordwesten. Ich getraute mich nicht, einfach drüber hinwegzufahren, sondern folgte vorsichtig dem offiziellen Weg in den Hafen. Anlegen kann man in Bray Bay nicht. Stattdessen liegen entlang der Mauer Bojen für die Yachten aus, die hier Unterschlupf suchen. Ich wollte lieber näher ans Ufer heran, um hinüber an Land nicht weit rudern zu müssen, und lasse Levjes Anker vor dem langen Sandstrand fallen - keine leichte Übung: Wieviel Kette muss man in einem Revier mit 7,80 Metern Tidenhub stecken, um bei jedem Wind sicher zu liegen?
Ich ruderte in meinem winzigen Dinghi an Land, vorbei an vertäuten Holzkäfigen, die im Wasser treiben, während die Besatzung eines Trawlers seinen Fang in die Käfige entleert: Seespinnen, Seekrabben, die zu Hunderten in der treibenden Kiste auf ihren Abtransport warten. Mein Dinghi zog ich den langen Strand weit hinauf. Ebbe hatte eingesetzt, Geruch von Seetang und rottendem Seegras, von Salz und Fäulnis, ich stapfte durchs hohe Gras hinter dem Sandstrand und begann meine Wanderung über die Insel unterhalb des alten Forts. Neben der Straße laufen Gleise einer Schmalspurbahn, sie führt hinauf in die "Quarries", die alten Steinbrüche
auf der anderen Seite der Insel, wo man vor eineinhalb Jahrhunderten die Quader zum Bau von Hafenmauer und Hügelfestung gewann. Heute rumpelt hier an seltenen Tagen eine kleine Diesellok mit zwei ausrangierten Waggons der Londoner U-Bahn mit Touristen entlang, doch davon ist jetzt weit und breit nichts zu sehen. Die Insel, auf der fast 2.000 Menschen leben, scheint an diesem Septembertag verlassen. Ich folgte der schmalen Straße durch das Kiefernwäldchen hinüber auf die andere Seite der Insel, sah in der Ferne den Hochbunker, es ist nur einer von vielen, den deutsche Truppen im II. Weltkrieg hier errichteten.
gut erhalten, als hätten die Römer es gestern verlassen. Es liegt wenige Schritte neben dem Strand und neben dem deutschen Bunker. Ein einfaches Steingeviert, es sieht spätrömisch aus, mit der diagonal vermauerten Steinreihe in der oberen Reihe. Ich kenne derlei Schmuck aus einem ganz anderen Teil der Welt, aus dem westgriechischen Preveza und der byzantischen Mauer von Nikopolis. Doch dieses Kastell ist klein, gerade 30 x 30 Meter misst es, und auf den ersten Blick sieht man, dass es in Zeiten unsicheren Zeiten errichtet wurde, nicht mehr aus den trutzigen Quaderblöcken der frühen Kaiserzeit, als Rom vor Kraft und Sklaven strotzte, sondern aus einfachen Feldsteinen. Eine Fluchtburg, in der Menschen Sicherheit suchten, nicht die trotzige Burg von Eroberern, um aller Welt ihre Herrschaft zu demonstrieren. Auch wenn die Zeiten unsicher waren, ist es streng rechteckig gebaut, nach den Vorbildern am Hadrianswall in Nordengland und nicht willkürlich, wie mittelalterliche Wehrmauern es oft sind: Ein Rechteckt mit gerundeten Ecken. Ein einziges Tor nach Norden, mit einem weißen Holzgatter.
Die Rückwand des Kastells hat man als Rückwand für das viktorianische Herrenhaus genutzt. Weil das Holzgatter am Eingang steht halb offen, betrete ich das Gebäude, nicht ohne vorher laut zu rufen. Aber niemand zeigt sich. Und so streife ich herum in der alten Festung. Neben dem Herrenhaus steht ein deutscher Bunker, als ich mir dessen Eingang näher ansehe, bin ich elektrisiert: Über dem Eingang ist das Relief einer Pflanze in den Beton eingelassen. Ich erkenne die Pflanze sofort, auch an diesem abgelegenen, einsamen Ort auf Alderney stolpere ich über meine eigene Geschichte, meine Vergangenheit.
Ich bin noch dabei, das Symbol zu fotografieren, als ein junger Mann vor mir steht und mich streng ansieht. Er ist Anfang vierzig, drahtig, man sieht ihm an, dass er viel draußen ist, doch er ist kein Militär, als er mich anspricht: Dies sei alles nicht öffentlich, sagt er. Er wohne im Herrenhaus. Was ich hier täte. Ich frage ihn, ob er denn die Pflanze dort oben kennen würde? "Edelweiß". Er spricht das Wort mit starkem englischen Akzent aus, er hieße Justin. Für was das Zeichen steht, weiß Justin nicht. Ich erzähle ihm von den Gebirgstruppen. In meiner Heimat vor den Bergen wurde die Erinnerung an die Gebirgstruppe stets hochgehalten, damals jedenfalls, in und um die Kaserne. Doch wenige Jahre später sehr umstritten. Einige Einheiten eben dieser Gebirgstruppe hatten schlimme Kriegsverbrechen begangen, hatten auf der westgriechischen Insel Kephallenia 4.000 entwaffnete italienische Kriegsgefangene feige niedergemäht, ein Verbrechen, ohne Not begangen, bei dem mir noch heute der Atem stockt. Es gäbe einen Film darüber, "Correllis Mandoline". Justin sieht mich an: Er kenne den Film. Dann denkt er einen Augenblick nach. Und erzählt. Ja. Die Deutschen. Sie wären hier auf Alderney nach dem Krieg nicht beliebt gewesen. Als sie die Insel besetzten, wären die Bewohner Alderneys kurz zuvor nach England evakuiert worden, zu ihrer eigenen Sicherheit. Die Besatzer fanden eine leere Insel mit verlassenen Häusern vor. Doch als die Bewohner nach Kriegsende im Dezember 1945 zurückkehrten, erkannten sie ihre Insel nicht wieder. Überall Bunker, Tunnels, Geschütze. Fenster, Türen, Möbel: Was brennbar war, war verschwunden und verheizt worden. Die Deutschen hätten hier vier Lager errichtet: zwei für Soldaten. Je eins für die über 6.000 polnisch-russischen Kriegsgefangenen und separat die jüdischen Zwangsarbeiter, man hielt sie hier wie Sklaven. Sie bauten Bunker und betonierten Wehrmauern, legten Hindernisse und vergruben über 30.000 Minen an den Stränden. Alderney, die verwaist erscheinende Insel, ist also gleich dreifach eine Festungsinsel. Erst die Römer. Dann die Briten mit der langen Mauer. Zuletzt die Deutschen. Für die ersten war die Insel ein Ort der Zuflucht. Für die letzten der Ort, an dem sie belagert wurden, die britische Flotte hatte die Insel einschlossen, kein Fisch schlüpfte mehr durch. Hunger herrschte. Die Winter waren kalt. Die Zustände auf der Insel, vor allem in den Lagern, müssen schrecklich gewesen sein. Über 400 Gräber mit Zwangsarbeitern hätten die Einwohner gefunden. Wie so oft zahlten die Zeche die Falschen.
Und die Vögel auf der Felseninsel Ortac draußen in der Bucht? Justin erzählt, sie wären "Gannets", Basstölpel. Vögel, die wie Kormorane unter Wasser nach Fisch jagten. Aber anders als die Kormorane, die die menschliche Zivilisation suchten und brauchten, blieben die Basstölpel ihr fern und für sich. Lebten an abgelegenen Orten, blieben von Menschen autark. Ortac sei ihre größte Kolonie überhaupt auf der Welt, er sei Naturschützer, ihretwegen sei er da. Justin schaut kurz hinauf auf das Edelweiß und lacht. Die Alten auf Alderney sagten, die Gannets wären gekommen im Jahr, in dem die Deutschen kamen, 1940. Vorher hätte es keine gegeben. Damals hätten sie auf dem Felsen ihre Kolonie gegründet.
Ja, er sei öfter draußen, auf Ortac, um Vögel zu beringen. Der Felsen sei steil, das Anlegen sei schwierig, und die Arbeit oben zwischen den schreienden Vögeln mit dem dicken grauen Schnabel erst recht. Was mir aus der Ferne wie weißer Puderzucker erschienen war, seien Berge von Kot, der die Insel bedeckt, durch den man nur hinaufgelänge, wenn es zwei Tage nicht regnete, denn sonst seien die Felsen zu rutschig, wegen des hoch liegenden Kots. Es herrsche fürchterlicher Gestank. Doch Justin erzählt auch davon, wie der Vogelkot Wunden an seiner Hand schneller heilt, wenn sie mit ihm in Berührung kam.
Als ich mich nach einer halben Stunde von Justin verabschiede und entlang der verlassenen Gleise hinüber wandere zur Braye Baye, bin ich nachdenklich. Am höchsten Punkt der Straße, in einem Kiefernwäldchen, mache ich eine Pause, schaue hinüber zum britischen Fort auf dem Hügel. Alderney ist wahrhaft eine vergessene Insel. Vielleicht ist gerade deshalb die Vergangenheit hier lebendiger als auf den vielen anderen Inseln, auf denen ich war.
Weitere Berichte über meine Einhand-Reise von Sizilien nach England finden Sie
in der Navigation rechts außen in den Monaten Mai 2018 bis Oktober 2018.
Hallo Thomas, toll das Du wieder auf Deinem Blog schreibst, ich lese Deinen Blog (und Deine Bücher) sehr gerne, und litt schon fast an "Unterversorgung"...
AntwortenLöschenWeiter so, danke!
Oliver