Donnerstag, 4. Juli 2019

Von England nach Irland und Schottland (10): Wexford. Gefangen zwischen Untiefen und Seehunden.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag im River Suir und in Waterford an will nun weiter nach Dublin die irische Ostküste hinauf.


Von Waterford und der breiten Mündung des River Suir im Südosten Irlands bis nach Dublin ist die Küste auf 100 Seemeilen reich an Abwechslung. Und arm an Häfen für ein Boot mit zwei Meter Tiefgang wie Levje.

Die Landschaft ist schön anzuschauen, erst Kilmore hinter den Insel Saltee-Inseln, Little Saltee und Great Saltee, aber was heißt schon "great" in Irland, unbewohnt sind sie beide, dafür mit schönen Ankerbuchten.  Hinter Irlands Südostspitze liegt der Fährhafen von Rosslare - aber der ist in der Hauptwindrichtung nach Norden vollkommen offen, was dicken Fähren nichts ausmacht, kann für unsereins schnell zur ungemütlichen Falle werden. Tatsächlich frischt vor Rosslare der Wind auf 15 Knoten auf, es ist 18.00 Uhr, Zeit nach einem geschützten Platz für die Nacht zu suchen.

Aber da ist nichts. Nur Wexford. Die Stadt mit dem kleinen Fischereihafen liegt etwa fünf Seemeilen tief in einem ausgedehnten Flachwassergebiet voller Sandbänke und Untiefen. Schwierig zu manövrieren. Eigentlich sagt mein Handbuch, der Reeds Nautical Almanach, das große Telefonbuchartige Sammelsurium, man solle das ausgedehnte Flachwassergebiet des Wexford Estuary ab einem Tiefgang von 1,30 Meter meiden. Levje hat zwei Meter.

Aber weil gerade die Nächte des Neumonds sind und damit die Tide stärker ausfällt, und weil gerade jetzt gerade das Hochwasser am höchsten steht, versuche ich mein Glück. Ich kann ja umkehren, denke ich mir, der Mensch ist blöde gelegentlich. Und mit Lagunen und Rias, den von Ebbe und Flut ausgewaschenen Flussmündungen wie der vor mir, kenne ich mich seit den Lagunen von Venedig und den Rias Portugals und Nordspanien aus. Denke ich. Also los.

Reeds Almanach sagt auch, dass es bis Wexford nur einen betonten Kanal gibt, aber der würde so oft seine Richtung ändern und versanden, so dass die beigefügte Seekarte längst nicht mehr richtig sei. Da sitzt der Segler dann allein auf der Kante mit dem tollen Telefonbuch in der Hand. Allerdings finde ich im Internet unter Wexford Harbour eine kleine App, die den Verlauf des aktuellen Kanals und die aktuelle Lage der circa 25 Bojen anzeigt. Zumindest mal etwas. Und Navionics, so zuverlässig es auf See sein mag, ist in Lagunen zu ungenau. Also los. Ich vertraue auf mein Boot und die Bojen.


Die erste Tonne, da ist sie. 5 Meter Wassertiefe, na wer sagts denn. Ich motore mit Speed in die Bucht, ich habe seitlichen Gegenwind von 15 Knoten, wenn ich die fünf Seemeilen schaffen will in einer Stunde, bevor das Wasser fällt, muss ich da auch mit 5 Knoten Speed durch. Gas heißt die Devise. Weil Hochwasser ist, sieht ja alles wunderbar wie ein See aus. Nur links von mir die im Wind abwehenden Gischtfahnen zeigen, dass dort eine Sandbank ist, an der ich mich knapp vorbeilaviere. Gruselig ist das ja schon, so nah an 30 cm Wassertiefe vorbeizusteuern.

4 Meter Wassertiefe. Dann ein Stück weiter drinnen sogar 6,50 Meter. Hier könnte ich sogar ankern, der Tidenhub beträgt 2 Meter, also hätte ich an dieser Stelle bei Ebbe immer noch 4 Meter unter mir. Aber wer weiß schon, wie breit der Kanal ist, immerhin müssten 30 Meter Kette raus, da brauche ich schon ein halbes Fußballfeld Platz. Das geben die Untiefen hier ringsum nicht her.


Und weiter gehts mit 5 Knoten. Die Gegenströmung hat eingesetzt, verflixt, das wird zeitlich eng. Das Wasser ist bereits am Fallen, 10 cm weniger Wassertiefe können jetzt entscheidend sein, "mach hinne, Junge", wenn Du hier zwei Stunden in der Bojengasse rumtrödelst, ist das Wasser vielleicht 50 Zentimeter tiefer.

"Go, Wexford, go!" rufe ich mir zu. Aber das auf die Sandbank geworfene Boot ist mir eine Warnung, dass Mut allein nicht jeden nach Wexford brachte, der auch dahin wollte.

3,50 Meter. Wie gut, dass das Telefonbuch doch den hilfreichen Tipp bringt, ich solle die "rhumb line" zwischen den Bojen laufen. Als ich nachschlage, finde als Übersetzung "Loxodrome" und "Isoazimutallinie", der Verfasser muss da gerade einen lustigen Abend gehabt haben. Aber besoffen kann ich auch. Weil die Wassertiefe auf 3 Meter fällt, laufe ich jetzt wie ein Besoffener Schlangenlinie zwischen den Bojen, um nur ja die tiefste Stelle des unsichtbaren Kanals zu finden.
Nur: Das kostet Zeit. Viel Zeit. Zeit, die ich nicht habe.

"Go, Wexford, go!" 2,70 Meter Wassertiefe. Die Gegenströmung wird stärker. Ich habe jetzt 70 Zentimeter unter mir. Ich kann doch hier nicht mit 5 Knoten durchrauschen, also nehme ich vor der nächsten Engstelle Fahrt raus.


Und keine Sekunde zu früh. 2,50 sagt der Tiefenmesser. Dann in rascher Folge 2,30. 2,20. 2,00. 1,90. 1,80 Meter. Mit einem sanften Rummms sitzen wir auf der Sandbank, Levje schob sich wie ein Wahl hinauf. Die analytische Hälfte meines Hirns freut sich noch, dass mein Schiff offensichtlich doch 10 Zentimeter weniger 1,90 Tiefgang hat als angenommen, während die klügere Hälfte meines Hirns erst ab da jenes widerwärtige Schaben und sich Wölben des ganzen Schiffskörpers wahrnahm, mit der der Kiel bei Grundberührung den Mast nach oben treibt.


Tausend Gedanken schießen durchs Hirn: Komm' ich hier wieder runter? Oder liegt Levje hier in drei Stunden, wenn das Wasser weg ist, auf der Sandbank? Wen könnte ich anrufen? Der Hafenmeister ging vor vier Stunden schon nicht ans Telefon?

Ich gebe rückwärts Gas. Erst locker. Dann fester. Und preise den Konstrukteur meiner Levje, den knorrigen, kantigen Manfred Schöchl, dass er mal wieder alles richtig gemacht und Levje einen 50 PS-Motor spendierte. Mit mageren 20 PS? Wärs jetzt vorbei.

Ich habe mehr Glück als Verstand, im Rückwärtslaufen finde ich sofort den Kanal wieder. Ahh, da sind sie ja, die 2,50 Meter. Nichts um sich drauf auszuruhen, aber 2,50 Meter sind verglichen mit 1,80 Meter ja noch Gold. Verdammt. Wo geht das hier lang? Die Tonnen sind jedenfalls nur eine bedingte Hilfe, und meine "rhumb line" auch nicht. 

"Go, Wexford, go!" 2,70 Meter jetzt unter mir, da wächst das Selbstvertrauen, da schwillt der Kamm. Das geht doch, 3,50 Meter jetzt, ich "rhumbe" wieder hin und her, das funktioniert ganz gut. Da vorn ist die Stadt, das muss doch zu schaffen sein, auch wenn das Wasser fällt, es kann nicht mein Schicksal sein, mit Levje auf einer Sandbank vor Wexford zu enden.

"Go, Wexford, go!" Ich gebe alles und stelle den Gashebel auf 5 Knoten. Das ist zu schnell, aber ich muss machen, dass ich hier rauskomme. Warum haben die denn nun statt grüner und roter Bojen nun auch manchmal nur eine rote? Nehm ich die jetzt rechts, wie sichs gehört?? Fahrbahnmitte??? Oder links???

2,50. 2,30. 2.00. 1,80. 1,70. Langsam schiebt sich Levje den Sandhang unter mir hinauf. Und diesmal richtig. Verflixt. Ich gebe rückwärts Gas. Nichts geht. So ein Miiiiiiist.


Aus dem Wasser sehen mir zwei Seehunde mit treuem Dackelblick interessiert zu, wie ich auf meiner Sandbank rummache und hilflos hantiere. "Herrchen sitzt nun fest. Hundilein kann da gar nichts machen."

Ich versuch es noch mal. Mehr Gas. Auf und ab Hüpfen auf dem Deck hats auch schon gebracht, allerdings ist das Gehoppse meiner 90 Kilo für meine 8 Tonnen Levje geradezu lachhaft und amüsiert eher die Seehunde. Plötzlich ein Rutsch. Sie kommt! Sie kommt runter von der Sandbank!! Und rauscht mit Karacho rückwärts. Jetzt nur gleich aufstoppen, dass wir mit Levjes Ruder nicht irgendwo dagegendonnern und ihr empfindlichstes Teil lädieren.

Danke, lieber Gott, danke. Wir schwimmen wieder! Und wie gehts jetzt weiter? Da vorne ist das nächste Tonnenpaar. Soll ich umkehren? Nein, das Wasser ist am Fallen, hier komme ich nicht mehr raus, es geht nur nach vorn. Das muss doch zu machen sein, die dreiviertel Seemeile. Also weiter, bevor das Wasser hier vollends weg ist.

"Go, Wexford, go!" Ich "rhumbe" mich vorsichtig auf das nächste Tonnenpaar zu. Aus dem Augenwinkel entdecke ich in der Seekarte, dass ich immer auf Grund lief, wenn ich mich zu weit von der Kurslinie entfernte, die mir Navionics vorschlug. Navionics? Das führte in den Lagunen der Adria immer in die Irre, es hat sich mir tief eingeprägt: "Navionics auf See super. Sobald Du in Landnähe kommst: Nicht mehr Navionics." Aber hier in England und Irland scheint das anders zu sein, die Kartendaten scheinen selbst in einer Ria wie der von Wexford auf allerneuestem Stand zu sein.

Tatsächlich. Ich folge der Kurslinie, auch wenn mich der Wind immer wieder wegdrückt. Navionics zeigt tatsächlich in diesem Gebiet die ideale Kurslinie. 3,50 Meter. Ich sehe die drei Segelboote dort vorne an der Boje hinter der Insel, mit der Ruine, um die ich rum muss.

"Go, Wexford, go!" 4,00 Meter. Vielleicht habs ich tatsächlich gleich geschafft? 7 Meter. Die ersten Häuser von Wexford. Auf der Insel hat jemand eine Fahne aufgepflanzt, zwei Farben erkenne ich, gelb und violett. Ein nautisches Warnzeichen vielleicht?

Ich laufe auf die Brücke zu. Der Strom setzt jetzt mit zwei Knoten. Das war aber richtig knapp, hier noch reinzukommen, nicht auszudenken, wie ich mich jetzt fühlen würde, 3 Seemeilen weit draußen auf einer Sandbänke liegend. Grausame Vorstellung.

Auf der Pier überall die gelbvioletten Fahnen. Die Bojen, an denen drei marode Yachten hängen, sehen schimmlig aus, und nichts für über zwei Knoten Strom. Lieber Ankern. Das Telefonbuch sagt, ich muss bis 50 Meter zur Brücke ran, davor gäbe es soliden Ankergrund auf 7 Meter, der auch die Strömung abkann. Tatsächlich. Ich drehe meine zwei Kreise, um den Ankergrund abzutasten. Alles ok. Dann fällt der Anker und hält sofort. Ich habs tatsächlich geschafft, hier reinzukommen.

Eine Weile schaue ich Levje zu, wie sie sich in der Strömung verhält. Das Loggenrädchen lärmt mit über 2 Knoten, aber mein Schiff liegt ruhig so allein im Fluss in der Abenddämmerung.


Es heißt, dass Guiness Bier mit jeder Kneipe besser schmeckt, die man der Brauerei am Liffey näherkommt. Wexford scheint mir ein ideales Terrain, um meine allabendliche Testreihe in dieser Sache fortzusetzen. Ich rudere an Land, klettere die Kaimauer zwischen den Trawlern hoch. Auf der Pier kaum Menschen, aber dafür überall die gelbvioletten Fahnen.

Ich gehe langsam in die Stadt. Autos rollen durch, mit gelbviolleten Fahnen, ich finde eine Kneipe, sie ist vollbesetzt mit jungen Leuten in Gelbviolett und Frauen, die sich Gelbviolett auf die Wangen gemalt haben. Am Thresen zwei Männer in Karl Valentin-Kostümen, zwischen denen hindurch ich mir mein Pint hole. 

Was ist hier los? Hat Wexford beim Football gewonnen? Liegt Wexford beim Windhundrennen vorn? Die Kneipe ist voller johlender Iren, ich trage mein Bier vor die Tür. Am Nebentisch geht es hoch her, sie haben mit ihrer Testreihe bereits deutlich Vorsprung vor mir. Plötzlich steht einer der jungen Männer auf, er schwankt leicht im Wind, hebt sein Glas zusammen mit den anderen und röhrt plötzlich, so laut es geht:

"Go, Wexford! Go!"

Wenn die wüssten.





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