Mittwoch, 23. August 2017

Italien Süd: Mit dem Nord über den Golf von Tarent. Oder: Wie fühlen sich 30 Knoten an?


 Am Abend hatte ich mir den Wecker gestellt. Pünktlich um 04.30 kamen aus dem IPad die Harfenklänge. Ich ließ es erst einmal eine Minute „harfen“. Dann schlug ich die Augen auf.

Draußen ließen harte Böen LEVJE an ihrem Anker zerren. Nicht beunruhigend. Die Böen hatten eingesetzt, wie der Wetterbericht es vorhergesagt hatte, pünktlich um ein Uhr Morgens. Ich war aufgestanden. Hatte eine Weile zugesehen, wie die Böen LEVJE im  grellen Licht der Uferstraße in der Ankerbucht schwingen ließen. Hatte beobachtet, ob der Anker hielt, indem ich einfach zwei Minuten die Wassertiefe beobachtete. Sie blieb konstant zwischen 4,80 Meter und 5,00 Meter. Der Anker hielt. Dann war ich wieder in meine Koje gekrabbelt. Und war eingeschlafen.

Jetzt waren die Böen immer noch da. Etwas härter, ein weniger hackiger, übellauniger. Und das Gleißen eines Blitzes, das meine Kammer im Achterschiff erhellte. „Steh auf. Geh nachsehen“, mahnte mein Hirn. Schlaftrunken mache ich meine Runde durchs Schiff. Schließe die Fenster, die noch offenstehen. Werfe einen Blick nach draußen. Keine Minute zu Früh. Plötzlich fallen dicke Tropfen. Erst wenige. Dann setzt schwerer Regen ein, während die Böen weiter an LEVJEs Anker zwerren. Eigentlich ist alles dicht auf dem Schiff, nur der Niedergang, die Treppe in LEVJEs Inneres, ist noch offen. Sie ist abgedeckt durch die Sprayhood, eine Art Haube, die sie vor jedem Wetter schützt und auf die jetzt schwer der Regen schlägt. Obwohl der Niedergang windgeschützt ist, dringt Regen ein, weht in schweren Geschossen um die Sprayhood herum und macht mich nass, während ich auf der Treppe im Niedergang sitze. Und beobachte, wie sich mein Schiff verhält.

Regen am Meer kann es in sich haben. Er ist nicht zu vergleichen mit dem kontinentalen Regen, wie er bei uns niedergeht. Selten feiner Niesel, den die Engländer „drizzle“ nennen. Stattdessen Tropfen wie Geschosse, die im Nu das Wasser 20 Zentimeter auf der Straßen stehen lassen. Und in Sekunden als Sturzbach einen Weg vom Genick abwärts finden.

Nach einer Weile lege ich mich wieder in meine Koje. Nein, nicht jetzt wie geplant ablegen, den Anker holen. Und losfahren. Ich gönne mir noch eine Stunde. Und stelle den Wecker auf halb sechs. Und während ich versuche, einzuschlafen, während ich noch nach draußen lausche und dem rauschenden Regen zuhöre, verebbt er. Als hätte jemand mit einer entschlossenen Handbewegung den Wasserhahn abgestellt. Und mit ihm die Böen. Plötzlich ist es windstill draußen in der Dunkelheit. Das Schiff liegt reglos. Der schwere Regen hat die Wellen plattgedroschen. Ich höre nur noch das Gurgeln des strömenden Wassers, das sich an Deck wenige Zentimeter über mir glucksend in zahllosen Rinnsalen seinen Weg ins Meer sucht.

Als das Ipad zum zweiten Mal harft, ist es immer noch ruhig draußen. Die harten Windstöße sind einem feinen Singen gewichen über dem Schiff, der Wind ist gleichmäßiger geworden in meiner Bucht. Doch ich ahne, wie weiter draußen viel Wind weht. Unter den feinen singenden Tönen ahne ich draußen, wo der Schutz der Bucht endet, ein Orgeln. Vor den Fenstern meiner Kammer ist es draußen grau. Es dämmert. Zeit aufzustehen. Mich fertigzumachen.

Ich koche mir einen Tee. Schütte mir ein paar Haferflocken mit bitterer Schokolade in eine Schale. Früher, als ich noch einen Verlag mit 25 Mitarbeitern führte und mein Leben ein ganz anderes war, hatte ich oft Magenprobleme. Magenreizung hier, Reizmagen da. Ich schluckte jeden Tag Pantoprazol, wie viele in meinem Land das tun. Es half. Jetzt gönne ich mir jeden Morgen etwas Haferflocken. Magenschmerzen habe ich keine mehr. 

Die Tasse in der Hand, sehe ich mir noch einmal die Wetterberichte an. Vor drei Tagen hatte ich noch geplant, die 80 Seemeilen über den Golf von Tarent unter Motor zu überqueren, bevor die Kaltfront uns und die Südostspitze Italiens erreichte. Aber dann waren die Wetterberichte milder ausgefallen. Nur noch von sechs Windstärken aus Nord war die Rede, für drei Tage. Ich hatte beschlossen, genau auf dieses Wetter zu warten, um unter Segeln die Strecke zurückzulegen. Doch pünktlich gestern Abend hatte der Wetterbericht der italienischen Luftwaffe seine Milde sang- und klanglos eingestellt. „Ionio settentrionale forza 7. Con temporali.“, hieß es plötzlich gnadenlos. Gewitter. Und Windstärke sieben genau für meinen Sektor Ionisches Meer Nord. Kein Wetter, bei dem man rausgeht. Ich hatte kurz überlegt. Mir dann weitere Windkarten angesehen. Und beschlossen, die Überfahrt auch bei diesem Wetter zu wagen. Schließlich ist LEVJE ein Schiff, das genau für solches Wetter gebaut ist. Siebeneinhalb Tonnen schwer. Der Mast eher einen Tick zu klein, so dass man auch bei höheren Windstärken die Segel stehen lassen kann. Schwer. Behäbig. Ich ging übers Deck. Und machte mein Schiff seeklar.

Mit der Tasse in der Hand schaue ich nach draußen, in die Dämmerung. Und das fahler werdende Licht der Straßenlampen am Ufer, die plötzlich verlöschen. Ich starte den Motor, lausche einen Moment seinem beruhigenden Bullern. Dann setze ich das Großsegel. Und hole im Wasser, das der Nordwind kräuselt, den schweren Anker. 



Zwei Stunden später. Ich bin draußen, und das Kap von Santa Maria die Leuca, da äußerste Ende des Stiefelabsatzes, verblasst langsam hinter mir. Hier draußen hat der Wind kontinuierlich zugenommen. Erst waren es 15 Knoten. Und vorsichtig hatte ich Großsegel und Genua auf zwei Drittel entrollt. Aber irgendwann schwand die Vorsicht. LEVJEs Geschwindigkeit war mir zu wenig, und ich setzte Vollzeug. Alles, was ich hatte. Weiter draußen war der Wind mehr geworden. Und mehr. Erst 20 Knoten. Dann 25. Dann in der Spitze bis 27. LEVJEs siebeneinhalb Tonnen schossen wie ein Pingpong-Ball von rechts nach links, von links an rechts. Zuviel Segel. Reffen war angesagt. 

Reffen: Die Segelfläche verkleinern. Man rollt sie etwas ein. Das klingt einfach, meist sind es schweißtreibende fünf Minuten mit wütend schlagenden Schoten, knatternden Segeln, schepperndem Rigg, in denen ich zusehen muss, möglichst schnell über die Winschen zu kurbeln. Und den um sich hauenden Schoten aus dem Weg zu gehen. Blaue Flecken, eine aus dem Gesicht gehauene Brille wären jetz übel. 


Aber dann segelt LEVJE wieder so munter wie vorher zwischen den Wellenkämen entlang, surft ein Wellental, das seitlich kommt, entlang. Klettert wiegend auf den Gipfel der unter uns durchlaufenden Welle. Und surft vom gischtend brechenden Kamm der Welle wieder hinunter ins nächste Wellental. Ein nettes Spiel, über dem ich schnell vergaß, dass 25 Knoten eigentlich eine Windstärke sind, bei der man Respekt haben sollte, zumals als Einhandsegler. Früher, auf LEVJE I, war genau das meine Grenze. Sie war kleiner, wog nur die Hälfte, und war doch ein tapferes, braves kleines Schiff, auf dem ich Einhand in die Türkei und von dort nach Sizilien gesegelt war. 25 Knoten. Darüber wurde es mulmig, weil das Schiff, meine kleine Welt, zu kippelig, zu instabil wurden.


25 Knoten. Wieder eine Welle, die gischtend vor uns bricht und LEVJE kurz aus ihrem Kurs spültt.  Aber der Autopilot, der auf langen Fahrten steuert, schafft es in zwanzig Sekunden, LEVJEs siebeneinhalb Tonnen wieder einzufangen, auf Kurs zu bringen. Der Autopilot ist Einhandseglers wichtigstes Utensil. Er übernimmt das Steuern, während ich Segel setze, reffe, unter Deck nach dem rechten sehe. Zudem ist Steuern bei diesem Wetter Scherstarbeit, man schafft es für eine begrenzte Zeit, für zwei, fünf oder sieben Stunden. Aber nicht für die 12 Stunden, die ich über den Golf von Tarent unterwegs sein werde.


Kurz nach 13 Uhr erreiche ich etwa die Mitte des Golfes. 40 Meilen in alle Richtungen bis zum Land. 75 Kilometer zu schwimmen, in alle Richtungen. Der Wind klettert über die Marke von 31 Knoten. Er bewegt sich jetzt oberhalb der 28 Knoten, und auch ohne den Windmesser vor mir im Cockpit wüsste ich beim Anblick der Welllen, was es geschlagen hat. Sie rollen jetzt in langen Reihen steil daher. Mauern aus Wasser, eine unmittelbar nach der anderen, ein tiefer Graben dazwischen. Sie treffen LEVJE seitlich, brechend unmittelbar neben ihr, Spritzwasser weht eimerweise in unachtsamen Momenten über mich, wenn ich mich nicht schnell genug hinter die Sprayhood ducke. Schluß mit lustig. Spiel vorbei. Die Wellen lassen Levja jetzt kaum noch auf den Kamm klettern, sie brechen irgendwo seitlich neben ihr, wenn es weiter weg ist, sehe ich, wie der brechende Wellengipfel unter der weißen Gischt in der Sonne flaschengrün leuchtet. Schaue ich nach hinter, wo LEVJEs 1,80 tief hinunterreichendes Ruderblatt eine aufgwühlte See hinterlässt, dann sehe ich, wie der Wind sofort die Tröpfchen vom Kamm mit sich reißt. 


Ende des Spiels. This is going serious. Als eine Welle neben LEVJE bricht, werde ich erst mit Salzwasser überschüttet. Dann fliege ich in LEVJEs harter Bewegung quer durchs Cockpit, auf die andere Seite. Das geht zwei Mal so. Bis auch dem einzigen Dümmsten an Bord dämmert, dass ich etwas unternehmen muss. Reffen? Geht nur noch minimal - ich habe Vorsegel und Groß schon aufs 2. Reff gebracht. Noch mehr Reffen ist nur noch Kosmetik. Dann die nächste Variante: Ich falle etwas ab. Lasse LEVJE jetzt noch mehr mit dem Wind laufen. Es wird wieder ruhiger an Deck. Und LEVJE wird jetzt nicht mehr gar so wild von den Wellen geprügelt. Ich überlege, wie es nun weitergeht. Eine der Winkarten kündigte an, dass es vor Crotone am frühen Abend noch heftiger werden wird. Noch mehr Wind? Wir kommen langsam an unsere Grenze. Sicher. Ich versuche, mir übers Handy den neuesten Wetterbericht zu holen. Aber wir sind längst so weit draußen, für Stunden geht gar nichts mehr. Ich bin auf mich allein gestellt.


Für eine Stunde bleiben die Dinge, wie sie sind. Es weht in Böen über 30 Knoten. Die Wellen ragen steil. Dann: Fällt plötzlich die Zahl auf dem Windmesser. 27. 24. Dann wieder 30. 23. Die Wut der Wellen lässt spürbar nach, das Meer wird glatter. Ich kann wieder den richtigen Kurs legen.


Nachmittags um halb drei taucht plötzlich der Schemen des Festlands vor uns auf. Das Radar, das ich mitlaufen lasse, hat es längst schon gesehen, der gelbe Fliegenschisse oben rechts auf dem Bildschirm. Jetzt sehe auch ich es. Weitere drei Stunden später habe ich plötzlich wieder Empfang auf dem Handy. Ich lade mir den Wetterbericht. Doch der verheißt erneut nichts Gutes: „Nordovest 7. Temporali“. Nordwest sieben. Und weiter Gewitter. Bad News. Ich werde nicht ankern können. Ich brauche heute Nacht richtig Schlaf, sonst kann ich den morgigen Tag vergessen. Auf der elektronischen Seekarte finde ich den Hafen von Crotone. Da war ich noch nie. Ich rufe an. Und frage, ob sie in zwei, drei Stunden für mich und mein Schiff Platz im Hafen hätten. Pasquale ist dran. Ja, sagt er, komm ruhig. Wir haben noch Platz. Wenn Du in den Hafen reinfährst, siehst Du rechts einen Typen mit rotem Pullover auf der Pier. Das bin ich. Folge einfach unseren Anweisungen.“


Als ich ankomme, weht der Wind quer durchs Hafenbecken auf mich zu. Statt eines roten Pullovers sehe ich gleich drei auf der Pier. Sie winken. Halten mir die Mooring hin. Eine Drehung im Hafenbecken. Rückwärts rein zwischen die Schiffe. Aufmunternde Rufe von den drei roten Pullovern. Was haben die bloß? Ist doch alles ok. Als meine Leinen fest sind, stelle ich LEVJEs Motor ab. Die drei in den roten Pullovern schauen mich an. „Waren nicht viele heute draußen unterwegs!“, sagen sie.“ Ich nicke. „Vuoi una birra?“ „Willst Du ein Bier?“, fragt Pasquale, und greift in den Kühlschrank hinter sich. Und ich, todmüde, fühle mich wieder einmal aufgenommen, getragen, von einer Woge, wie sie nur die italienische Männerwelt dem Fremden gegenübern zu entfesseln fähig ist.


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