Dienstag, 3. Juli 2018

Die Flüchtlinge von Tarifa.

Seit sechs Wochen bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne - einmal um die Küste Westeuropas herum. 
In Tarifa begegnen mir Flüchtlinge - zum ersten Mal auf dieser Reise.






Die Straße von Gibraltar hatte ich nun hinter mir und war mit dem letzten Licht in der südspanischen Hafestadt Tarifa angekommen. Nichts hatte ich gesehen von Afrika und seinem nördlichen Ufer, von Marokko. Nichts. Afrika war im Nebel verborgen geblieben. Während der Durchfahrt am Vortag ebenso wie an diesem Morgen. Nur die riesenhafte Schnellfähre nach Tanger, die an diesem Morgen in den Hafen glitt und Levje an der rauen Steinmole beben und springen ließ, dass ich um mein Schiff fürchtete, nur sie erinnerte daran, wie nahe ich am anderen Kontinent. 

Am Morgen wachte ich auf vom Lärm eines Hubschraubers über dem Hafen und ungewohnten Geräuschen neben mir. Gestern Nacht war der Hafen noch leer gewesen. Jetzt: Polizeifahrzeuge der GUARDIA CIVIL. Polizisten am Ufer. Auf dem Wasser deren Schnellboote. Rotkreuz-Schlauchboote. Ein Seenotkreuzer. Und darauf: Flüchtlinge. Vorne vermutlich Maghrebiner aus dem nahen Marokko. Im Heck nur Schwarzafrikaner. 


Vermutlich hatte man sie aufgegriffen in dieser nebligen Nacht, irgendwo draußen auf dem 16 bis 40 Kilometer breiten Meeresstreifen, der einfach nur eine Wasserstraße zu sein scheint. Und doch, wie ich am Vortag feststellen musste, ein so schwierig zu befahrendes Gewässer, selbst mit einem seetüchtigen Schiff wie Levje. Um wieviel schwieriger ist das dann mit dem kleinen grauen Schlauchboot, das hinten am Seenotkreuzer hängt und mit dem Flüchtlinge versuchten, übers Meer zu kommen?

Die meisten von ihnen sind junge Männer, ausnahmslos zwischen 20 und 30. Eigentlich sind dies die Menschen, die das Kapital eines Landes bilden. Die einen Staat tragen sollten. Dort leben. Dort arbeiten. Sich engagieren in ihrem Land. Ein Auskommen finden. Konsumieren. Steuern zahlen. Dafür sorgen, dass es in einem Land besser geht. Doch das funktioniert offensichtlich nicht in den Ländern, ist vermutlich eine der Ursachen für die Migrationsbewegung aus Nordafrikas nach Norden.  Vielleicht kommt auch ein Quentchen Abenteuerlust hinzu: Die Lust, etwas Verbotenes zu tun, so wie vor Jahren Schüler als Mutprobe außen auf den Trittbrettern der S-Bahnen mitfuhren oder sonstwie lebensgefährlichen Quatsch machen. Die Motivation der Leute, die ich auf dem Boot sehe, ist nicht klar, während ich beobachte, wie sie zu zweit in Handschellen ans Ufer gebracht werden und ein Kameramann dies filmt.



Und auch echte Verzweiflung ist dabei. Plötzlich fasst sich einer der Illegalen auf dem Vordeck des Seenotkreuzers ein Herz. Er reißt sich los. Fasst den Poller, zieht sich hoch und springt auf die Hafenmole. Und rennt einfach los, als gäbe es keine GUARDIA CIVIL, keine Polizeifahrzeuge, keinen rundum vergitterten Hafen, keinen Hubschrauber. Seine Flucht ist nach wenigen Metern zu Ende. Polizisten packen ihn, er wehrt sich verzweifelt. Ziehen ihn zu Boden. Drehen ihn auf den Bauch. Als er sich weiter wehrt, drückt ihm ein Polizist die Unterschenkel überkreuz auf die Oberschenkel. Dann bleibt er still liegen, während ihm die Polizisten Handschellen anlegen.


"Sie haben keine Arbeit. Sind magisch angezogen von dem, was sie den lieben langen Tag von der westlichen Welt aus dem Fernsehen oder dem Internet mitbekommen", sagt Felippe. Er ist einer der Journalisten am Ufer. Er fotografiert und schreibt für die großen Agenturen Spaniens. "Die meisten von ihnen wollen einfach auch ein cooles Auto fahren. Einen coolen Job haben. Aber wie der Weg dorthin ist, das ist ihnen nicht klar. Sie sehen einfach nur das Glitzern und Gleißen unserer Welt. Und nicht die Schwierigkeiten." 
Aber in Marokko scheinen sich die Dinge doch wirtschaftlich gut zu entwickeln? "Da täuschst Du Dich. Da gibt es eigentlich nur Arm und Reich. Und dazwischen nichts. Eine Mittelschicht fehlt. Die haben keine Chance, sich da rauszuarbeiten." Und wieviele kommen jeden Tag in Tarifa an. Felippe denkt nach. "Schwer zu sagen. Um die 100 pro Tag allein hier in Tarifa. Manchmal mehr. Manchmal weniger. Letztes Wochenende waren es 700, die nur hier in Tarifa ankamen. Wie es in den anderen Städten aussieht, in Cadiz oder Malaga? So ähnlich."
Und die Bevölkerung Tarifas? "Weil es täglich passiert, haben sich die Einwohner Tarifas an all das gewöhnt. Gefallen tut es keinem. Es ist wie Sonne und Regen. Es gehört einfach zum täglichen Bild - so wie für mich auch. Wir können es nicht ändern.


Während mir Felippe das alles erzählt, kümmern sich die Rotkreuz-Mitarbeiter auf der Pier um die Flüchtlinge. Sie haben ein Zelt aufgebaut. Sie leisten medizinische Hilfe. Untersuchen auf Krankheiten. Eine rotblonde Spanierin in weißer Rotkreuz-Kleidung spricht mit einer Schwarzafrikanerin, die verstört auf einem Poller sitzt und vor sich hin starrt. Die Polizisten geben sich energisch, aber nicht gewaltbereit. In Handschellen werden die jungen Leute aneinanderkettet auf die Pier gebracht. Tägliche Routine. 

"Die Marokkaner", erzählt Felippe, "werden sofort zurückgebracht. Noch heute. Spanien hat mit Marokko ein entsprechendes Abkommen. Mit den Schwarzafrikanern ist das schwieriger. Oft existieren mit den Ländern, aus denen sie kommen, kein derartiges Abkommen."


Was ich an diesem Morgen sehe, ist bedrückend. Ich bleibe ohnmächtig zurück. Ohnmächtig, weil ich  die eigene Ohnmacht und vor allem die beschämende Ohnmacht der Politik gegenüber diesen historischen Phänomenen spüre. Haben die recht, die losziehen auf eigene Faust, um Menschenleben zu retten? Wer weiß, wieviele Flüchtlinge jede Nacht vor Tarifa ertrinken? Oder haben die recht, die in sozialen Foren alle Würde vergessen und sich nicht scheuen zu schreiben: "Lasst sie doch ersaufen."

Entwicklungen, die größer waren als wir selber und scheinbar unlösbar, die gab es immer. Als ich geboren wurde, war die Welt von einem Atomkrieg nur noch Haaresbreite entfernt. Als ich aufwuchs, lebten wir in einem geteilten Land, und hüben wie drüben war als mögliches Schlachtfeld ausersehen.   Es gab keine Lösung, wie beide Länder je wieder zusammenkommen könnten. Als ich Schüler war, detonierten IRA-Bomben im Hidepark. Es gab keine Lösung, wie man die beiden Konfessionen und Nationen der Iren und Engländer je an einen Tisch brächte. Die meisten dieser zeitgeschichtlichen Phänomene sind mittlerweile fast vergessen. Weil die Politik Lösungen entwickelte. Ich glaube nicht an das Funktionieren einer Mauer, ob sie aus Gesetzen, Stacheldraht oder Beton besteht. Ich glaube, dass es viele, viele Maßnahmen braucht. Dass es eines ungewöhnlichen Querdenkers in der Politik bedürfte, eines Charismatikers, der die festgefahrene Situation durch eine neue intensive Ostpolitik Zentimeter für Zentimeter über eineinhalb Jahrzehnte auflöst. Die Probleme werden an unseren Grenzen im Mittelmeer sichtbar. Gelöst werden müssen sie dort, wo sie entstehen. Ich wünsche mir einen Querdenker in der europäischen Außenpolitik, der die Dinge nicht mit Quoten, nicht mit Mauern, nicht mit "Kommt doch alle zu uns" angeht. Vielleicht werde ich es noch erleben. Doch ganz sicher wird diese Lösung kommen. Es wird nur Zeit kosten.



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