Mittwoch, 11. Mai 2016

Pantalica


Es gibt Orte, an die ich auf meinen Reisen immer wieder zurückkehre. Orte, die mich magisch anziehen. Wahrscheinlich ist das alles leicht erklärbar: Ein "guter Moment". Vor langer Zeit.
Aber was leicht erklärbar scheint, ist in Wahrheit der Anfang der Schwierigkeit zu erklären: Was einen "guten Moment" denn nun eigentlich ausmacht? Was die Ingredienzen sind, die man einfach aus dem Regal nehmen muss - und dann kommt er heraus, als chemische Reaktion, als Endergebnis, als Fertigprodukt, "der gute Moment"?

Pantalica besuchte ich Mitte der Neunziger zum ersten Mal. Die Ingredienzen, die den Moment damals schufen: Die erste Reise mit meiner neuen Freundin. Katja, die vorschlug, dahin zu fahren, ich wusste nichts von Pantalica. Zwei große Schluchten, die sich auf einander zubewegten. Zwei Flüsse, Anapo und Calcinara, die sich tief, tief eingegraben hatten durch die Kalkschichten, die irgendeinem fernen Erdzeitalter-Ur-Ur-Meer entstiegen waren. 5.000 (!!) in den Fels gehauene Grabkammern, die meisten oben an der Felskante, nie unten. Die meisten nach Osten und Süden, selten nach Norden. Die Wanderung durch das dichte, tiefe Grün im damaligen Mai, das so gar nicht meinem Bild vom verbrannten Sizilien entsprach. Leuchtend roter Mohn. Lupinen. Kniehohes Gras. Meine Sorge, als ich durch die dichten Halme streifte, ich könnte hier, genau hier von einer Schlange gebissen werden, eine Sorge, die mich, der ich im Ausland viel wandere, selten streift. Warum hier?
Pantalica. Zwei Canyons, eine Stunde vom Meer, von Siracusa entfernt.



Die Welt, durch die wir uns bewegen, ist voller Gewissheiten. Das Wetter wird morgen soundso. Dies ist meine Handynummer. Das gibts heute Abend zu essen. Und wenn jemand stirbt, dann kommt der Bestatter. Tatsächlich ist die Art, wie wir mit dem Tod umgehen, jenem, der uns in unserem unmittelbaren Umfeld betrifft, Ausdruck unserer Kultur. Friedhöfe. Orte ehrenden Gedenkens. Teure Grabsteine. Ein Name, zwei Jahreszahlen. Ein paar Blumen.

Vor allem dank Ethnologen und Archäologie weiß man, dass die Arten, wie Kulturen mit dem Tod ihrer Angehörigen umgehen, in die Myriaden gehen. Es ist immer wieder erstaunlich, welchen Variationsreichtum es gibt. Steinzeitliche Kinder, in hockender Position auf den Inseln der Ägäis in Tonkrüge gebettet. 
Die bronzezeitliche Fürstin, deren Grab man keine 30cm unter der Grasnarbe beim Bau des Gymnasiums Grünwald bei München fand, liegend, den Kopf mit einem Bronzekranz bekrönt, den Blick der leeren Augen für immer nach Südosten. 
Die Kelten im gerade 100 Kilometer entfernten Manching, die mit den Schädeln von Verstorbenen und Feinden unter ein und demselben Dach lebten. 
Die heutigen Toten, die wir außerhalb der Wohnorte auf eigenen Arealen in die Erde betten. Und den Gärtner mit der Grabpflege betrauen. 
Die Grabkammern von Pantalica. Einfach in die Felsen gehauen, in die aus dem dichten Grün zwischen Oliven, Macchie, Pistazien herausragenden Vorsprünge, Felsnasen, Hangkanten.



Die Archäologen sagen, dass Pantalica besiedelt wurde etwa zu der Zeit, als Troja unterging. 
Als die Fürstin von Grünwald bestattet wurde, etwa im 13. Jahrhundert vor Christus. 
Längst wurde das Meer befahren, 5.000 Jahre zuvor war wohl von hier, von Sizilien aus, ein Volk aufgebrochen und hatte 50 Seemeilen weiter südlich, auf den Inseln von Malta, eine einzigartige Zivilisation mit den gewaltigen Steintempeln von Hagar Quim begründet. 
1.300 vor Christus? Die Minoer befuhren zu diesem Zeitpunkt bereits 800 Jahre auf festen Handelsrouten das östliche Mittelmeer. Um die gleiche Zeit waren Mykenier, deren Erben, nach Eroberung Troyas im Niedergang begriffen. 
Ägypter schlugen sich um 1.300 unter Ramses II. mit den Hatti an der Grenze im heutigen Palästina herum. Eine unruhige Ecke, heute wie damals, warum eigentlich? 
Keine allzuferne Zeit also, die Zeit von Pantalica. Keine Epoche, über die wir nichts wüssten. 1.300 vor Christus: Eine Zeit, in der große Wanderbewegungen einsetzen. Eine Welt, die nach längerer Phase "stabiler" Verhältnisse dabei ist, in Umordnung, Neuordnung, Chaos, Veränderung überzugehen. Schatten am Horizont. Dunkle Wolken. Neuankömmlinge, die fremde Sprachen sprechen und auf Booten kommen. Beginnende Bewegung überall im östlichen und mittleren Mittelmeer - auch auf Sizilien.

Es waren wohl Menschen von den Küstenregionen im Osten und Süden Siziliens, die sich unter dem Druck neuer, übers Meer gekommener Siedler offensichtlich von den Küsten weg Richtung Landesinneres bewegten. Die Namen der Neuankömmlinge, zusammengefasst in fremd anmutenden Namen von Völkern: Ausonier. Morgetaner. Und auch: Sikeler. Sikeler, die der Insel mit den drei Kaps für alle Zeit den Namen geben sollten: Sizilien. Shekelet, von denen die alten Schriftsteller erzählen. Jene, die vorher an den Küsten gesiedelt hatten, suchten Zuflucht vor ihnen auf den schwer zugänglichen Höhen zwischen den beiden Canyons von Pantalica. Um irgendwo dort ihre neue Stadt zu gründeten. Von ihr ist nichts erhalten, man weiß nicht, wo sie lag, man weiß nur, dass der Höhenrücken besiedelt war für 600 Jahre. Solange, bis die Griechen kamen.




Was blieb, waren Grabkammern. Über 5.000 von Ihnen liegen in der Landschaft verstreut, manche einzeln, manche in Gruppen eng beieinander liegend, so eng: man könnte meinen, dies wäre über Jahrhunderte Bestattungsanlage einer Familie und aller ihrer Angehörigen gewesen. Und 150 Meter weiter der einer anderen Sippe. Was verblüfft, ist der Aufwand, den die Lebenden für die Toten mit Schaffung der Grabkammern betrieben. Der in den Fels gemeisselte Eingang misst ungefähr ein Meter mal ein Meter fünfzig. Dahinter ein kleiner Raum, breiter und höher als der Eingang, im Volumen etwa ein, zwei Kubikmeter groß. 
Vermutlich wurden Holzgerüste errichtet, um überhaupt Kammern in drei, vier Metern über dem Boden errichten zu können. Wir befinden uns in der Bronzezeit. Presslufthämmer, Dynamit, Gesteinsbohrer waren noch 3.300 Jahre weit weg - Erfindungen unserer Jahrhunderte. Stattdessen: Einfache Meissel aus in Hartholz gespanntem Gestein. Und aus weicher Bronze. Weichmetall, das auf harten Kalkstein-Fels auftrifft. Kleine Gesteinssplitter, die ein Hammer man mit jedem Schlag auf den Bronzemeissel wegsprengt. Ein paar kleine Steinsplitter mit jedem Schlag. Der Meissel, der an dem harten Gestein schnell stumpf wird. Sich vielleicht rasch verbiegt.

Sie sind nicht groß, die Grabkammern. Vielleicht etwas mehr als ein- bis eineinhalb Kubikmeter. Die Eingangsöffnung ist so klein mit ein Meter mal ein Meter zwanzig, dass an jeder Grabkammer eigentlich immer nur ein einziger Mann arbeiten kann. Mehrere würden sich behindern, in der beengten Eingangsöffnung sich gegenseitig im Weg stehen, nein, das geht gar nicht. 
Also ein Mann, der an einer Grabkammer arbeitet. Wie lange braucht ein Mann mit einfachstem, splitterndem Stein- und sich verbiegenden weichen Bronze-Meisseln und Werkzeugen, um etwa einen Kubikmeter harten Kalksteins abzusprengen, abzulösen, Steinchen für Steinchen, bis eine Grabkammer fertig ist? Eine von Fünftausend? 
Die Rechnung ist einfach: Nehmen wir an, jeder Hammerschlag sprengt Splitter und Stäubchen und Steinsprengsel im Volumen eines kleinen Spielwürfels aus dem Gestein. Etwa einen Kubikzentimeter. Dann bräuchte es zwischen ein und zwei Millionen Hammerschlägen, um eine Kammer herauszumeisseln. 1.000.000 bis 2.000.000 Schläge.  Gehen wir weiter davon aus, dass ein guter Arbeiter, ein ausgebildeter Mann etwa 40 Schläge pro Minute ausführen kann. Pausen eingerechnet. Dann schafft er 2.400 Schläge in der Stunde - was dann immerhin der Gesteinsmenge eines Würfels mit  13,4 Zentimeter Kantenlänge entspräche. Könnte der Mann jeden Tag etwa sechs Stunden in derartigem Tempo arbeiten - Pausen und Zeiten für Abräumen der Trümmer eingerechnet, Werkzeug wird "gestellt", dann: Wäre eine solche Grabkammer nach knapp 140 Tagen fertiggestellt. 140 Tage. Vier Monate und ein halber. Ein halbes Jahr, grob geschätzt, also.

Gehen wir davon aus, dass mehrere Männer an einer Grabkammer arbeiteten. Nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, um sich abzulösen. Dann liesse sich die Zeit für die Fertigstellung auf siebzig Tage verkürzen - vielleicht auch deutlich weniger, wenn Tag und Nacht und "rund um die Uhr" gearbeitet worden wäre.

Wahrscheinlich ist, dass die Grabkammern nicht sämtlich "aus einem Guss" entstanden. Die Sikeler, die sie errichteten hinterliessen keine schriftlichen Zeugnisse. Forscher unterscheiden verschiedene Komplexe an vier unterschiedlichen Stellen von Pantalica.  Gemeinsam ist ihnen, dass sie in den fünf, sechs Jahrhunderten ihrer Nutzung mehrfach und immer wieder genutzt wurden. Verschlossene Kammern, in denen bereits mehrere Tote bestattet waren, wurden für weitere Beisetzungen geöffnet. Als Archaeologen um 1910 mit der Erforschung des Höhenrückens begannen, fanden sie die Kammern, die heute leer sind, mit ein und sieben Toten beiderlei Geschlechts - zusammen mit den typischen Bronzezeit-Beigaben wie Tonkrügen, Bronze-Dolchen, Fibeln


Was es aber mit den Riten der Sikeler auf sich hatte, ihren Toten in den Hängen regelrecht Häuser hoch oben in den Felsen zu errichten so wie im Leben auf Erden, was sie bewog, ihnen Alltagsgegenstände mit in ihre letzten Wohnungen zu geben, dies wird ihr Geheimnis bleiben.






Was aus alldem wurde?
Die erste Kultur von Pantalica?
Etwa mit dem 7. Jahrhundert vor Christus endet die Nutzung der Grabkammern. Pantalica - oder wie immer der Name des Ortes gewesen sein mag, und seine Bewohner gerieten unter Druck und in die Konflikte der an der Ostküste städtegründenden Griechen. Vermutlich von Griechen aus Syrakus wurde die Stadt im 7. Jahrhundert zerstört.

Die zweite Kultur von Pantalica? Noch verschiedene Male wurde der Höhenrücken zwischen den beiden Flüßen Ort der Zuflucht. Die nächste große Besiedlung fand statt, als sich im 7. Jahrhundert Raubzüge der Araber mehrten. Und die frühchristlich Reströmisch-byzantinische Bevölkerung ebenfalls die Flucht ergriff. Sich landeinwärts auf den geschützten Höhenzügen niederließ. Und die Höhlen ein weiteres Mal besiedelte.

Pantalica heute?
Ein großer Naturpark, in dem der Seewind über die Canyons hinwegstreicht. Ein einsamer Fleck - für mich immer wieder ein Highlight Siziliens, nur etwa 50 Minuten von Siracusa und der Küste entfernt. 






Und für alle, die Fernweh & Meeres-Sehnsucht jetzt gleich befeuern wollen:




Was passiert, wenn wir unser Leben ändern?






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