Dienstag, 24. März 2015

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 9: Vor der großen Überfahrt. Von Blanesnach Barcelona.


Auch wenn es an Bord der ROXANNE meistens fröhlich und ausgelassen zugeht wie auf einem ganz normalen Törn: Beim Frühstück an Bord in Blanes an diesem Morgen: Immer wieder Gespräche über die Krankheit. Über das eigene Erleben dieser Krankheit. Immer wieder Geschichten. 


Wie Andrea die Nacht erlebte, nachdem zum zweiten Mal Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert worden war und die Ärzte ihr als einzigen Ausweg: die Chemotherapie vor Augen stellten. Wie sie die Nacht durch weinte. Wie es war, als sie zum ersten Mal nach der Chemo nach Hause durfte, zu ihrem Mann. Und gar nicht wollte. "Was sollte ich da? Eine Tasse aus dem Schrank holen: war echter Hochleistungssport, mit Puls sofort auf 180." 



Wie Marc - ausgerechnet - auf Mallorca, unserem Reiseziel zum ersten Mal entdeckte: dass er doppelt sieht, dass irgendetwas nicht stimmt mit ihm, irgendetwas, das nicht nur wie ein Kratzen im Hals, wie eine Grippe ist. 


Wie Hauke die Chemo erlebte: das "meine Abwehrkraft auf Null setzen." Das Einleiten der roten Flüssigkeit an einem langen, langen Schlauch. Damit er auch auf die Toilette konnte. Was Anna über Medikamente denkt, für die die Pharma-Industrie 800 € und mehr pro Spritze verlangt. Wie Susanne froh ist, dass der lange in ihr wuchernde Schilddrüsenkrebs entdeckt und behandelt wurde. Dass sie ihre Erkrankung "als Glücksfall" erlebt: "Ich habe meine Dankbarkeit wiedergefunden. Dankbarkeit für die ganz kleinen Freuden - nicht für das, was es zu kaufen gibt."


Bruchstücke. Wie Soldaten sie aus einem unvorstellbaren Krieg irgendwo in einem fernen Land erzählen. Aber bei den Soldaten, die hier um den Frühstückstisch sitzen, tobte der Krieg, von dem sie berichten, in ihnen selber. Die Bilder vom Frühstück auf ROXANNE: sie zeigen, wie nahe es den betroffenen Mitseglern immer noch geht: ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichten vom gleichen Leiden anderer betroffen aufzunehmen, weil jeder nachempfinden kann: wie sich der andere fühlt. 

Auch dies ist etwas, wofür man Marc Naumann's Idee der SEGELREBELLEN nicht genug wertschätzen kann: Einen Ort für Austausch geschaffen zu haben - aber einen anderen Ort, als ihn Psychotherapeuten anbieten. Einen Ort, wo Menschen im Sturm, in extremer Situation zusammengeschweißt werden zu einer Crew, sich nahekommen. Wo Menschen feststellen, was sie zu leisten wieder in der Lage sind. Was sie nicht gedacht hätten. Von sich. Das Meer: mit all seiner Schönheit, seiner Wildheit, seiner Gefährlichkeit, als Ort einer Selbst-Entdeckung. Und eines Stückchens Heilung. "Es ist gut, dass wir hier draußen drüber reden", sagt Andrea. "In all den Stürmen, der Kälte, da wird sie klein und fern, die Krankheit. Hier kann man drüber reden."

Als wir aus Blanes ablegen, sind wir nachdenklich. Die Sonne scheint. Zum ersten Mal eine leise, leise Ahnung von T-Shirt-Wetter. Und dass es Sommer werden könnte, hier am Meer, auch wenn er jetzt im März noch unendlich weit weg zu sein scheint. Jeden Tag ist es so, dass einer aus der Crew gesundheitliche Probleme hat. Jo, der sagt: er könne sich nach der Therapie nichts mehr merken. Anna, die zerbrechliche, die über Brennen im Magen klagt nach jeder Mahlzeit. Heute ist es Andrea. Draußen auf dem Meer, im Cockpit, meldet sie plötzlich, dass ihr Kreislauf in den Keller fällt. Wir denken sofort an Seekrankheit. Nein, Seekrankheit ist das bei Andrea heute nicht, nein. Bei dem Thema haben die Krebspatienten dem Rest ein großes Stück voraus: Sie haben kotzen gelernt. Es schockt sie nicht mehr. In der zweiten Nacht auf See, bei der langen, wilden Überfahrt, erbrachen fast alle mit großer Heftigkeit. Aber damit war es dann erledigt. Abgehakt. Für den Rest der Reise. Für alle. Die Seekrankheit war vorbei. 
Auch Kotzen kann man erlernen. Das ist eines meiner Learnings dieser Reise.


Nein. Bei Andrea ist es der Kreislauf, der heute nicht mitmacht. "Die Woge der Gefühle", nennt sie es später. Zwar ist immer ein Arzt für uns erreichbar, das hat Marc, ganz großer Bruder, schon so organisiert. Aber: Wir haben keinen Arzt dabei, bewußt. Denn den würde man bei jedem Wehwehchen ja konsultieren. Gerade das, dies wieder Verantwortung abgeben an andere: das will Marc Naumann mit seinen SEGELREBELLEN eben nicht. Genau das Gegenteil. Und so kümmert sich die Crew liebe voll um Andrea. Susanne, die sie in die Schocklage bettet. Jo, der ihr die Beine hochhält. Hauke, der mit ihr spricht.

Nach 10 Minuten grinst Andrea wieder. Und feuert munter ihre Ruhrpott-Slang-Breitseiten in die Runde ab. Dies ist ein zweites Learning für mich: Mit Bordmitteln ist auf einem Schiff mehr als nur Bootstechnik zu reparieren.


Als es Abend wird, laufen wir in Barcelona ein, in den Port Vell. Vom ersten Moment an ist Barcelona faszinierend für alle: schön, fesselnd wie ein Filmstar. Man kann nicht wegkucken. Ein Ausbruch an schönem Design, witzigen Ideen. Wie man altes Industriegemäuer verpackt. Und neues aufwertet. Der Bruch, die Herausfordrung unserer Jahre, den Niedergang der Industrien durch Neues auszugleichen: auf den ersten Blick scheint er hier gelungen.


Nur schade: dass wir keine Zeit haben. Die nächste Etappe geht von Barcelona nach Mallorca. Und für genau diese Etappe ist ab Mittwoch zwei Uhr Morgen Mistral angesagt. In Stärken von 8-10 Beaufort für die Nordostecke Mallorcas, die wir runden müssen. Wenn wir dem entgehen wollen und wenige Stunden vorher noch eben in den Hafen von Alcudia rutschen wollen: Dann müssen wir aufbrechen. Noch in dieser Nacht.

Und so geht die Crew der ROXANNE jubelnd, pfeiffend, singend noch in Hafennähe Tapas essen, wieder einmal froh um die Wärme eines Restaurants, die Wärme nach gutem Essen in uns. Gegen 22 Uhr klariert die erste Wache (Marc, Hauke, Anna, Susanne) das Schiff an unserem böigen Liegeplatz auf. Kocht Suppe. Bereitet Tee. Während die zweite Wache (Jo, Andrea, Kameramann Felix und ich) schon in ihre Kojen krochen. Für zwei, drei Stunden Schlaf. Denn die wird die ROXANNE um eins aus dem mitternächtlichen Hafen bringen. Und hinaussegeln werden auf die 100 Seemeilen lange Etappe von Barcelona nach Mallorca. 

Und davon werde ich morgen erzählen.




Marc blogt über diese Reise zeitgleich auf seinem Blog SEGELREBELLEN.
Andrea blogt über diese Reise zeitgleich auf ihrem Blog CHEMOCOOKIE.

                                                                             Weiterlesen bei: Marc's Geschichte. Hier.
                                                                             Weiterlesen bei: Segeln mit Nichtseglern. Hier.
                                                                             Weiterlesen bei: Was ist eigentlich Segeln? Hier.



... und weil diese Reise KEIN GANZ NORMALER TÖRN ist: bitte ich die Leser von MARE PIU, unsere beiden Posts möglichst an viele andere Interessierte weiterzuleiten. 
Um Marc und seine Idee zu unterstützen. 
Danke.



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