Donnerstag, 16. Oktober 2014

Der Mensch und seine Sachen: Die Gorgo von Paros. Oder: Von Angst und Schrecken in Dunkelheit und Finsternis.


Ein Ort, den wir nicht verstehen und voll lauernder Gefahren, ist die Welt für uns nicht erst seit Putin, dem "Islamischen Staat" oder dem letzten Börsencrash. Furcht, Angst und Schrecken: sie gehören zu unserem Dasein, seit wir Menschen sind. Vieles an unserem Dasein hat sich verändert in den letzten 500.000 Jahren: dass wir Furcht empfinden, nicht. Nur wovor; und wie wir Menschen mit dieser Furcht umgehen, unterliegt einem ständigen Wandel. In seinem Buch "Traumpfade" denkt Bruce Chatwin darüber nach, ob es die Begegnung des Menschen mit dem Säbelzahntiger war, die die Angst ins menschliche Dasein brachte. Richtig daran ist: dass es den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte Naturgefahren, Naturgewalten waren. Es war nützlich, Angst zu haben, bevor wir uns unachtsam einen giftigen Pilz in den Mund schieben. Oder eine Kreuzotter in die Hand nehmen. Oder bei Windstärke neun aufs Meer gehen.

Betrachtet man die Entwicklung des menschlichen Lebens auf einer Uhr, die 24 Stunden hat: dann sind es vermutlich nur die letzten fünf Minuten auf dieser Uhr, in denen unsere Angst nichts mehr mit der uns umgebenden Natur zu tun hat. Unser Leben ist geprägt vom Schutz, den wir in großen Gemeinschaften, "Staat", "Stadt" oder "Firma" genannt, geniessen. Zu gruseln gibts da überschaubar wenig. Erst wenn ein Unwetter tobt oder eine Kündigungswelle anrollt: bricht Angst in unser Leben. Ansonsten schauen wir, wollen wir uns gruseln, Horrorfilme. Lesen in der Abendzeitung oder in Büchern Mordgeschichten. Fahren Geisterbahn. Springen mit Gummibändern an den Füssen in Abgründe. Oder kucken - in milderer Dosierung - "Tatort". Keine echten Gefahren, denn diese Schrecknisse bleiben ja im Fernseher, auf dem Papier. Und kommen nicht an uns heran. Aber irgendwo muss sie ja nun mal hin, unsere Angst. Denn sie ist in uns eingebaut.

Mit Schrecknissen anders gingen die Mittelmeervölker der Antike um. Meine Reise führte mich nach Paroiki, den Hauptort der Insel Paros. Im dortigen archäologischen Museum traf ich auf diese Figur einer Gorgo, die mir seither im Kopf umgeht. Gorgonen: Schreckgestalten, deren Blick denjenigen zu Stein erstarren lässt, der nicht gewappnet ist. Drei von Ihnen kennt die griechische Mythologie: Stheno, die Mächtige. Euryale, die Weitspringende. Und natürlich Medusa. Sie hat es kraft ihres greulichen Antlitzes tatsächlich bis in die Gegenwartskunst und auch in manche Gegenwartssprache geschafft: "Una medusa, una medusa", rufen italienische Kinder erschreckt am Strand, wenn sie tote Quallen entdecken. 

Unsere Medusa aus Paros aber ist ein echtes Kunstwerk, eins für den zweiten Blick. Der Körper zart, der eines Mädchens. Anmutig kniend, wie eine Dienende. Die Flügel setzen wir in unserer Bildsprache natürlich mit einem Engel gleich. (Die wurden aber erst etwa 1.300 Jahre später erfunden. Und dann mit den Flügeln aus der griechischen Tradition ausgerüstet.) Die Gesten anmutig. Bis hierher stimmt alles. 


Doch dann tritt Verstörendes ins Bild: Der Gürtel ist eine Schlange, den Schlangenkopf hält die Gorgo fest in ihrer Linken. Vollends verstörend der Kopf: Viel zu groß. Verzerrt zu einer Grimasse. Zu einem Sinnbild der Scheußlichkeit. Nichts, was wir sehen wollen. Nichts, was wir um uns haben wollen. Ein Schrecknis. 

Die Figur stammt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Homer war gerade ein paar Jahre tot, die Perser noch weit weg von Griechenland, Rom eben aus dem Ei geschlüpft, noch nicht mal ein Kaff, das Heiligtum von Olympia in vollem Betrieb. und auf der anderen Seite der Adria ritzte das rätselhafte Volk der Daunier seine wunderbaren Vogelmenschen in Stein. 

Man fand die Figur ein paar Meter von dort entfernt, wo sie heute noch steht: in Steinschutt und Geröll neben dem archäologischen Museum von Paros. Aufgestellt haben sie die Alten, vor ihrer Stadt: nicht um sich zu gruseln. Sondern um Schrecknisse von ihrer Gemeinschaft abzuwenden: Den bösen Blick. Krankheit. Siechtum. Krieg. Untergang. Der Schrecken, um die Schrecken ihrerseits zu bannen. Bedrohungen, deren Herkunft sie nicht verstanden. Wir kennen das: von den "Augen"-Amuletten auf Fischerbooten oder Häusern, von Malta über Sizilien bis in die Türkei. Die Mittelmeer-Völker haben sich, Islam hin, Christentum her, die Amulette aus der Antike erhalten. 

Und wir? "Angst macht erfinderisch." "Karrieren werden aus Angst gemacht." Aber mein Satz lautet: Angst haben wir alle. Es ist menschlich. Aber niemals sollte man seinen Ängsten folgen. Weder wenn es darum geht, eine schwierige Entscheidung im Leben zu treffen. Noch im Gewitter auf dem Meer. Es ist keine leichte Übung, Tag für Tag. Aber sie lohnt sich.

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