Samstag, 12. August 2023

Vier Wochen allein in den Bergen (5). Am Morgen.

Jeden Morgen stehe ich früh auf. Jedenfalls: fast jeden Morgen. Ich wache auf, wenn die ersten fahlen Lichtstrahlen durch das kleine Fenster dringen und auf mein Matratzenlager fallen.

Ich stehe auf, ziehe mich an. Setze die Cafetiera mit dem Espresso auf den Gasherd, die nach einer Weile zu zischen und zu brodeln beginnt, ein kleines Dampfkraftwerk in meinem Leben, das ich nicht missen mag, hier nicht. Auf dem Boot nicht. Zuhause nicht. Es scheint jemanden zu geben hier auf der Hütte, der ähnlich denkt wie ich.

Ist alles fertig, trete ich nach draußen. Ich schaue hinüber auf die Zacken, aus Neugier. Niemals sind sie gleich, jede Minute anders, sie sind meine Fotomodelle, die ich immerzu fotografieren will wie ein besonderes Gesicht, das ich immer wieder sehen will.

Bin ich früh genug draußen, herrscht die perfekte Stille. Ich muss früh genug draußen sein, dann ist es selbst im Tal noch still. Was ich höre, während ich meinen Espresso schlurfe, sind die ersten Vögel. Raben und Krähen, die verschämt krächzen, als wären sie anders ihre Vettern in der großen Stadt noch auf der Suche nach Selbstvertrauen. Als würden die Berge sie Demut lehren genau wie mich. Ein Hausrotschwanz schmätzert schüchtern von irgendeinem Baum. Ein schüchternes "Huiiiiipp. Huiiiiiiipp" kommt von einem Baum, als wäre damit alles gesagt, was an diesem Morgen zu sagen ist. Alles ist still, als wollten selbst die Tiere die Stille bewahren, solange kein Lärm vom Tal heraufdringt.

Irgendjemand hat hinter dem Haus einen Weg angelegt, der im Zickzack in den Wald hinaufführt und sich 30, 40 Meter weiter oben irgendwo verliert. Ich weiß nicht, wer es war. Doch es muss jemand gewesen sein, der wusste, dass die wenigen Schritte weiter oben sich eine ganz andere Aussicht bietet als von der Hütte. Ich sehe sogar den Schlern, den merkwürdig geformten Berg, auf dem die Hexen tanzen in der Walpurgisnacht. Oft gehe ich den Weg mittags, wenn ich mit dem Schreiben zufrieden bin, hinauf, sitze auf dem weichen Waldboden, schaue eine Weile in die Runde, und bedauere, dass ich nicht riechen kann wegen meiner schlechten Nase, was es hier alles zu riechen gäbe. Ich kann nur vermuten, wonach es gerade riecht. Nach trockenem Holz in der Hitze. Nach Pilzen, die meine Nachbar Erwin jeden Tag nach Hause trägt. Nach Flechten und Moosen.

Heute nehme ich den Weg zum ersten Mal am Morgen. Nehme ich die ersten Stufen langsam hinauf, erscheint mir der Waldboden unter mir wie ein 1.000-Teile-Puzzle, das jemand perfekt für mich gelöst hat. Manchmal wünsche ich mir wieder so ein langweiliges Puzzle. Ich habe in meinem Leben nur vier, fünf Mal so ein Puzzle gelöst als. Wenn ich krank war und im Bett liegen durfte. Ich habe es immer genossen, nichts zu müssen, sondern einfach stundenlang Teile aneinanderfügen zu dürfen, bis sie passen. Ich habe mein altes Puzzle seit einem halben Jahrhundert nicht mehr angefasst, doch es liegt immer noch im Schrank zuhause und wartet auf mich. Doch statt meines Puzzles zuhause liegt dieses Puzzle vor mir:



Alles liegt an seinem Ort, es liegt, wie es liegen soll. Drei Tannenzapfen bilden erhobene Finger, als wollten sie mich erinnern an etwas Wichtiges, das ich nicht vergessen darf. Andere kuscheln sich aneinander, bilden kleine Nester. Erinnern daran, dass ich ein soziales Wesen bin, das glücklich sein mag im Alleinsein, aber niemals allein bleiben darf. Jemand hat dürre Ästchen geworfen über allem wie kleine Runen, die mir eine Zukunft vorhersagen, die ich nicht verstehe. Alte Flechten liegen, als wären sie niemals alt genug.

Es ist merkwürdig. Alles scheint hier an seinem Platz, auch die Widersprüche, die zum Leben gehören. Eine Ordnung ist in den Dingen, die ich nicht begreife. Und die, sobald ich mich darauf einlasse und nicht nur einfach darüber hinweg husche, auf eine unbegreifliche Art auf mich ihre Wirkung zeigt.
Im Kleinen wie im Großen.  
Nicht nur an diesem Morgen.
Irgendwie wird es still und ruhig in mir, wenn ich es nur sehe.
Was will ich mehr?


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