Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln.
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln.
Eine von ihnen ist die Ile d'Yeu.
Vor La Rochelle beginnt die Kette der französischen Atlantik-Inseln, die sich wie ein Riff entlang der Nordwestküste Frankreichs reihen. Obwohl sie Inseln sind, machen sie dem Reisenden auf einem Boot das Leben nicht leicht. Die meisten besitzen keinen festen Hafen, sondern sind nur über eine Brücke vom Festland aus erreichbar. Sie sind Gezeiteninseln: Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut beträgt 4-5 Meter - was im einen Augenblick noch eine geschützte Bucht oder ein Hafen war, ist innerhalb Stunden eine trockengefallene Sandbank, auf der Wattvögel nach Schlickwürmern stochern.
Die Ile d'Yeu ist nach der Ile d'Oleron, der Ile de Ré die dritte von ihnen. Sie ist nicht groß - wer sich im Hafen der geschäftigen Inselhauptstadt Port Joinville ein Fahrrad leiht, erreicht von dort in 20 Minuten jedes Ende der Insel. Und trotzdem ist dieses kleine, nur
drei mal sieben Kilometer große Eiland ein Ort, an dem ich schwach werde. Nicht bloß, weil hier das Auto zuhauf herumfährt, für das ich zum ersten Mal seit Jahren in Versuchung käme, Geld auszugeben - es ist das rote im Foto oben. Oder weil dies hier der Ort ist, an dem der "Deux Cheveux", der alte Citröen 2CV, die "Diane" und der "R4" noch unterwegs sind, als hätten sie alle sich hier auf dieser Insel geheimnisvoller Weise verabredet, zu überdauern und die heutigen Gesichtslosigkeiten der Autobauer einfach würdevoll zu ignorieren. Allein das ist schon eine Reise in die Vergangenheit, die den Abstecher auf die Insel allemal lohnt. Nein, die Ile d'Yeu mag klein sein an Abmessung. Aber kaum ist man eine Viertelstunde über die Sandpisten durch die duftende Macchie geradelt, ist man in ihrem Westen in einer anderen Welt. Plötzlich stehe ich inmitten der Felsküste. Ich lasse mein Fahrrad Fahrrad sein und wandere einfach ein Stück die Felsen entlang, wo nichts und niemand ist als die Möwen, deren Federn die Wiese wie verblühter Löwenzahn weiß überziehen. Die Westküste der Ile d'Yeu ist der Ort der Winde. Kein Baum, kein Strauch kann sich hier festklammern, nur Flechten und bärtige Moose überdauern auf den Felsen. Wo Schatten ist, wuchern Farne.
Und während ich draußen auf dem Meer einen Segler beobachte, der von Westen her auf die Küste zuhält, stehe ich plötzlich vor einem dieser geheimnisvollen Gebilde, die man Dolmen nennt. Ein von Menschen geschaffenes steinernes Haus aus seitlich aufgerichteten Tragsteinen und einem Deckstein obendrauf. Dolmen: Es gibt sie erstaunlicherweise in Europa in vielen Ländern - vor allem denen an der Meeresküste. In Spanien, in Portugal, wo man sie "Anta" nennt, in Frankreich ebenfalls in Küstennähe, in England, in Irland, in Dänemark, im Emsland, in Schweden. War hier eine erste europäische Zivilisation am Werk? Gab es vor uns schon etwas, Wissen, Können oder Glauben, was die Menschen Europas miteinander verband, was sie teilten?
Der Dolmen, vor dem ich stehe, ist jedenfalls ein kleiner. Aber trotzdem zu groß, um einfach achtlos dran vorbeizugehen. Wie schafften es die Menschen jener Zeit, den schweren Deckstein oben auf die Felsen zu legen? Auch zehn Mann könnten ihn nicht heben, selbst 20 oder dreißig nicht, sie bräuchten eine Idee und Werkzeug, mit ihren Händen könnten sie ihn niemals alle gleichzeitig richtig fassen.
Ich stehe da vor einem Rätsel. Die Dolmen der Insel d'Yeu datiert man auf etwa 4.000 Jahre vor Christus. Wir sind mitten in der Steinzeit, als am Nil und am Euphrat die Menschen die ersten Städte überhaupt gründeten und lernten, in größeren Gemeinschaften zu leben. Es gibt noch keine Schrift. Das Rad ist noch nicht da. Metall war noch lange nicht in Sicht, der Kran noch Jahrtausende entfernt, an heutiges Tauwerk vom Typ "Bruchlast 2 Tonnen" war überhaupt nicht zu denken.
Ein paar Schritte weiter entfernt stehe ich vor diesem:
Wieder dasselbe Bild, dieselbe Technik. Ein flacher Stein, den Menschen mit ihrer Muskelkraft allein nicht heben könnten, auf zwei natürlich aus dem Boden ragende Felsen gelegt. Der Stein scheint zu schweben, er ist seines Gewichtes beraubt. Ein Kunstwerk? Ein Kultplatz?
Ich rolle auf dem Fahrrad weiter in den Norden der Insel, wo der kleine unbenutzte Flugplatz ist. An der äußersten Nordwestecke der Ile d'Yeu steht dieses Gebilde:
Der Dolmen de la Planche à Puare befindet sich direkt am Sandstrand und am Meer. Vor 6.000 Jahren lag der Meeresspiegel des Atlantik um 10 Meter tiefer. Der Dolmen stand also nicht am Meer, sondern Hundert Meter landeinwärts, aber immer noch in Sichtweite des Meeres.
Hier wurde jeder Stein von Menschenhand gesetzt - auch die seitlichen. Im Arbeitsablauf bedeutet das für eine größere Gemeinschaft gewaltige Anstrengungen - und nicht nur Körperliche, sondern vor allem planerische. Zuerst muss ein Plan existieren, wie der Dolmen aussehen soll. Dann müssen Experten geeignete Steine in der näheren Umgebung ausfindig machen. Sie mit einfachem Werkzeug aus ihrer Umgebung herausbrechen, herausschlagen. Sie vermutlich auf Baumstämmen teilweise über Kilometer heranwälzen. Die Steine aufrichten. Sie nicht einfach planlos auf dem Sandboden aufstellen, sondern so im Boden verkeilen, dass sie für Jahrtausende fest stehen und nicht einfach wie ein Kartenhaus zur Seite umfallen. Und dann das größte aller Rätsel: Die seitlichen Steine nicht bloß irgendwie verbuddeln, sondern exakt so vermessen, dass die unebene Unterseite des schweren Decksteins nicht nur auf zweien wackelnd zu liegen kommt, sondern mit seiner ungleichmässigen Unterseite auf allen Seitensteinen wie auf Hauswänden stabil ruht. Und dann den schweren Deckstein über eine eigens dafür aus Erdreich errichtete Rampen nach oben wälzen - genau in die errechnete Position. Zuletzt den Dolmen mit kleineren Findlingen einkleiden und dann mit Erdreich so bedecken, dass ein Hügel entsteht.
Allen Dolmen gemeinsam ist nicht nur ihre Nähe zu Küste, sondern auch, dass sie Grablegen waren. Noch vor 200 Jahren entdecken Hobby-Ausgräber unter den oben abgebildeten Steinen gleich drei Grabkammern. Und in ihnen die Reste einer alten Kultur: Schaber aus Feuerstein. Klingen. Stechahlen. Gewichte, um ein Fischernetz waagrecht in der Strömung einer Bucht treiben zu lassen, um Fische hineinzujagen. Die kostbaren Zähne eines Pottwals, des größten Wales, der überhaupt Zähne besitzt. Waren sie in der Lage, Wale zu jagen? Die Knochenreste eines Menschen. Hier hatte eine Gemeinschaft ihrem Verstorbenen das Beste und Wertvollste an Ausrüstung mitgegeben, was er für die lange Reise in die Anderwelt und das Leben dort benötigen würde.
Von den alten Kulturen ist wenig geblieben, nur die Dolmen. Das ist erstaunlich. Die Dolmen überdauerten, weil den nachfolgenden Generationen die Steine zu schwer waren, um sie zu bewegen - sie hatten einfach das detaillierte Wissen wieder verlernt, riesige Steine nur mit Muskelkraft zu bewegen. Das Know-How, das vor 6.000 Jahren da war, mühsam erlernt, war mit seiner Zivilisation wieder verschwunden, verloren. Um sich Häuser zu bauen, begnügten sich nachfolgende Kulturen damit, die kleineren Findlinge aufzuklauben, mit denen die Dolmen einst verkleidet waren, und sie für ihre Behausungen zu verwenden. Übrig blieb, was den Menschen zu groß und selbst den Atlantikstürmen zu gewaltig war: Die schwebenden Steine. Und die Sagen, dass die, die sie errichtet hatten, wohl Riesen gewesen sein mussten.
Auch das ist, was Geschichte und tote Steine erzählen: Was wir einst lernten. Was wir einst konnten. Wozu wir in der Lage waren. Und was wir doch immer wieder vergaßen. Verlernten. Weil plötzlich etwas Neues kam, was das Alte ablöste. Soviel eine Gemeinschaft an Fähigkeiten neu gewinnt, soviel scheint sie im selben Moment auch wieder zu verlernen. Das war bei den Menschen der Dolmen damals vor 6.000 Jahren so wie bei uns heute.
Als in der Dämmerung der Wind wie fast jeden Abend auf über 20 Knoten auffrischt und der Himmel schon jetzt im August sich wie ein herbstlicher Sturmhimmel färbt, streife ich mit der Kamera durch den Hafen. Ich wüsste zu gerne mehr über das Volk, das die Dolmen hier in der Bretagne schuf. Aber ich bin sicher: Ich werde hier in der Bretagne noch mehr von den alten Steinsetzungen antreffen. Und auf viele alte Steine und ihre Geschichten stoßen - nicht nur auf der Ile d'Yeu, die ich sicher nicht zum letzten Mal besucht habe.
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