Donnerstag, 5. Juli 2018

In Cadiz beim Bäcker. Heute. Und vor 2.800 Jahren.

Seit Mitte Mai bin ich nun für mein neues Buchprojekt 
auf Levje unterwegs von Sizilien in die Bretagne - einmal um die Küste Westeuropas herum.
Nach der Straße von Gibraltar erreichte ich Cadiz, den alten Hafen im Südwesten Spaniens. Doch wie alt der eigentlich wirklich war, sollte ich erst hier begreifen.


Als ich von Tarifa lossegelte, dauerte es lang, bis der Sog der Straße von Gibraltar mein Schiff und mich losließ und nicht mehr zu spüren war. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas unter dem Schiff hing, was uns bremste. So hoch ich den Motor auch drehen mochte: mehr als vier Knoten waren nicht drin, solange ich mich von der Meerenge wegbewegte. Sobald ich testweise kehrt machte und auf die Meerenge zuhielt, schossen wir mit 7 Knoten dahin. Erst als wir am frühen Nachmittag Cabo de Trafalgar mit seinem türkisen Wasser und dem verführerischen Sandstrand erreichten, ließ der Sog der Meerenge nach. Gegen Mitternacht erreichte ich den Hafen von Cadiz. Ein freundlicher Marinero mit einem Hund, der in der Dunkelheit wie Idefix aussah, nahm meine Leinen an.

Cadiz hatte mich bei der Ansteuerung neugierig gemacht. Nicht nur, dass die Stadt am Ende einer schmalen Landzunge wie eine Insel vor der spanischen Küste liegt, nein. Auch der Hafen ist - ungewöhnlich genug - nicht dem Meer zugewandt, sondern dem Land. Die Stadt war ein Hufeisen und ihr natürlicher Hafen bietet Schutz, wie nur wenige andere. All das hätte mir auffallen sollen, ich kenne kaum einen zweiten Hafen, der so angelegt ist.



Am Morgen ging ich in die Stadt. Cadiz, die Inselstadt, hat fast 120.000 Einwohner. Stadtbusse rumpeln übers Pflaster, in den engen Gassen der Innenstadt ist an diesem Morgen schon auf den Beinen, wer auf den eigenen Rädern nicht unterwegs sein wollte. Und weil mein Herz nun mal für Bäckersfrauen schlägt, führte mich, als hätte als es anders nicht sein können, mein erster Weg in eine Bäckerei. Mein innerer Kompass suchte, während ich die Cadiz' Straßenschluchten entlanglief, das Wort "horno" - den spanischen Begriff für Ofen, aber eben auch für Bäckerei.



Und so stand ich plötzlich vor Anna in der Bäckerei der Antonia Butrón. In ihrer schwarzen Kochmütze hantierte sie an ihrem Ofen, aus dem sie gerade ein Blech herausholte, bedeckt mit einem duftenden Blätterteig-Fladen. Anna wusste etwas übers Leben. Und über Männer auch. Obwohl wir uns nie zuvor begegnet waren, hatte sie mit einem Blick nicht bloß erfasst, wes Geistes Kind ich war. Sondern auch die Leidenschaften, die wir im Leben teilten. Ohne ein Wort zu verlieren, nahm sie das große Messer. Holte das Tablett aus der Vitrine vor meinen Augen. Säbelte nach kurzem Bedenken ein Stück des in der Vitrine liegenden Blätterteig-Gebäcks ab. Und reichte es mir über die Theke.

"Dein Laden ist eine Sünde", radebrechtete ich unter Aufbietung all meines Spanisch-Wortschatzes. Sie grinste im Wissen einer Frau über hungrige Männermägen. "Probier das", sagte sie trocken. "Eine Empanada, gefüllt mit geröstetem Jamon und lauwarmer Dattel." Ich schloß die Augen. Eine lauwarme Geschmacksexplosion von süß und salzig auf meiner Zunge. "Aber falls Du nichts Salziges magst, hab ich auch das hier." Sie deutete grinsend auf die Schnitten, zwischen deren knusprigen Blätterteig mich ein dicker Belag aus Nutella erwartungsvoll anblickte. Als hätte sie in meiner Aura gelesen, dass es eine meiner Kinder-Heimlichkeiten war, mich mit einem Löffel über das Nutella-Glas herzumachen, wenn ich einmal allein zuhause war.

Die Empanada mit Jamon und Dattel. Weitere Köstlichkeiten? Am Ende des Posts.

Doch das mit dem Nutella ist lange her. Geschmäcker ändern sich, doch Leidenschaften bleiben. Ich entschied mich für die warme Dattel. Und für eine Empanada mit "Lachs und Roquefort" - bloß um zu sehen, ob sowas eigentlich Unmögliches zusammen funktionieren konnte. Und für noch etwas - um mich am Mittag zu überraschen. Mit einer Empanada in der einen und einem Espresso in der anderen verließ ich Annas Laden, nicht ohne mir zu versprechen, am Abend zu den Empanadas zurückzukehren.

Mein zweiter Weg in Cadiz führte mich wenige Minuten von Annas Bäckerei entfernt ins YACIMIENTO ARQUEOLOGICO GADIR. Der Bau sah aus wie ein modernes Theater, ich löste ein Ticket an der Kasse. Wie in einem alten Kino umfing mich gleich hinter dem Eingang das Halbdunkel des Raums, aus dem mich eine Platzanweiserin mit Taschenlampe über eine dunkle Rampe in die Tiefe führte. Und in die Vergangenheit führt. Denn plötzlich stand ich im Dunkel einer säulengetragenen Halle. Ich nahm die Sonnenbrille ab. Erkannte Einzelheiten. An der Wand lief im Hintergrund ein Film. Meeresrauschen, Möwengeschrei. Zwei kleine Inseln, kahl und unbewohnt. Und ein antikes Schiff, das in den Sund zwischen den beiden langgestreckten Inseln einlief. Die Halle hatte keinen Boden. Stattdessen führten Stege darüber hinweg. Im schwachen Licht darunter erkannte ich lehmgelbe Grundmauern. Wege. Kreisrunde Lehmringe im Boden. Bruchsteinmauern. ... Ich stand nicht nur im ältesten Teil von Cadiz, sondern in einer der ältesten Städte Westeuropas. Älter als Paris. Älter als London. Älter als Rom. Dem Teil, den Menschen vor fast 3.000 Jahren gegründet hatten. Ich stand in der Stadt der Phönizier, die unter dem heutigen Cadiz liegt. In Gadir.


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Wie Cadiz, wurden viele Orte an der Südküste Spaniens und vor allem in Portugal nicht von eingewanderten Stämmen, sondern von Seefahrern gegründet. Von Reisenden, die in einem ganz anderen und weit entfernten Teil der frühantiken Welt zuhause waren. Es waren Händler aus dem Libanon, die die Küstenorte weit hinter dem Ende ihres Meeres, eben in Südspanien und Portugal, gegründet hatten. Seefahrer, die den 4.000 Kilometer langen Weg vom Ostende des Mittelmeers bis an die Küsten der Pyrennäen-Halbinsel nicht bloß einmal zurückgelegt hatten. Es ist eine der großen Fragen, was sie bewog, einfach ihre Heimatstädte Tyros, Byblos, Sidon auf ihren Schiffen zu verlassen und nach Westen zu segeln. War es ein einzelner gewesen, ein König, der sie ausgesandt hatte? Um die Küsten nach noch mehr Rohstoffen abzusuchen - nach Kupfer und Zinn, denn beides im richtigen Verhältnis gemischt ergab Bronze? Nach den gedrehten Meeresschnecken, aus deren Saft man unter Lichteinwirkung den intensiv roten Farbstoff herstellen konnte, für den die Leute ein Vermögen auf den Tisch legten, um Kleider zu färben und Lippen zu bemalen? Nach Quarzsand zu finden, für die Produktion bunter Gläser? Um Gold zu suchen? Und Sklaven? Und Blei? Und Felle? Und Straußeneier, um sie den Toten als Symbol für ewiges Leben ins Grab zu legen. Und alles, was es sonst noch gab.

Sie waren Seefahrer. Und Händler. Händler sein, heißt: Etwas sammeln, wovon am einen Ort Überfluss herrscht. Es zu einem Ort bringen, wo daran Mangel herrscht. Vielleicht erklärt das die Unrast, die Neugier, mit der sie sich weiter und weiter nach Westen vorgewagt hatten, weiter als all die anderen frühen Seemächte des Mittelmeers.

Irgendwann um das Jahr 900 erreichte ein phönizisches Schiff auch jene Inseln, die eineinhalb Tagesreisen von jenem Ort lagen, an dem sich das weite Meer zu einem strömenden Gewässer verengte und den die Griechen "die Säulen des Herakles" nannten. Immer weiter getrieben von der Suche nach Neuem, hatte ein Schiff die Inseln vor dem Festland angesteuert. Vielleicht hatten sie ihr Schiff den langen Sandstrand hinaufgezogen. Und weil die Insel sie an ihre Heimatsstadt im Libanon erinnerte, die auch alle Inseln waren, weil es Stämme in der Nähe gab, die gute Felle herstellen konnten und ihnen auch einen Silberklumpen gezeigt hatten, hatte die Hälfte der Mannschaft beschlossen, zu bleiben. Und  an diesem Ort einen Handelsposten zu errichten.

Was sie taten, taten sie gründlich. Oben auf dem Gipfel der Insel bauten sie die ersten Häuser. Aber nicht irgendwelche, sondern exakt so, wie die Häuser in ihren Heimatstädten im Libanon aussahen. Zwischen den Häusern legten sie zur Bucht hinunter Straßen an. Aber nicht irgendwelche. Sondern auf eine Schüttung aus mittelgroßen Steinen folgte eine Schicht aus Lehm, den sie mit einem Holzstampfer festklopften. Von der Stelle aus, wo ich stehe, erkenne ich die Hufabdrücke von Rindern im Lehm der Straße.

Steinhäuser. Sie bauten Kuben aus Steinen, mit Lehm verschmiert. Wenige Fenster. Ein auf Balken ruhendes Dach, das einen große Terrasse bildete. Darunter ein großer Raum. Eine kleine Küche daneben. Leben fand hauptsächlich im Freien statt.

In der Küche eines jeden Hauses befand sich ein Lehmofen. Er war zu ebener Erde errichtet und hatte die Form eines Bienenstocks, nur größer. Die Menschen, die im achten Jahrhundert vor Christus dort kochten, taten das im Sitzen:



und über eine der beiden Öffnungen: Eine größere oben, durch die der Rauch abziehen konnte. Eine kleine nach vorne, durch die man Brennmaterial schob und drinnen entzündete, Stroh und Äste. War der Ofen innen heiß, schob man, was Garen sollte, zwischen die heißen Lehmwände. Ein Huhn. Ein Zicklein. Einen Hund.

Eine phönizische Küche in Gadir, vor 3.000 Jahren. Mit dem dort gefundenen Lehmofen, dem Tannur.

Um es dann mit allherhand feinen und scharfen Soßen und Tunken anzurichten. Alles konnte man in diesem Lehmofen garen. Den "Tannur", den Archäologen auch bei Grabungen in Israel entdeckten, ist in manchen Gegenden Nordafrikas heute noch der Standardherd. Er ist schnell und einfach selbst gebaut, wie Archäologen zeigten.

Sie nutzten den Tannur hauptsächlich, um Brot zu backen. Getreide, das sie vor dem Ofen auf dem tellerförmigen Mahlstein zerrieben. Mit etwas Wasser vermengten. Mit Kräutern versetzten. Und ohne Hefe zu runden Fladen kneteten, die sie an die heißen Innenwände des Lehmofens klebten. Vielleicht waren die Fladen ja mit etwas gefüllt? Gehackte Kräuter? Einfacher Käse? Gesalzener Fisch, den sie in eine Art Joghurt mit Lauch tunkten? Vielleicht gab es ja schon so etwas ähnliches wie die Vielzahl der Empanadas, die mir Anna in ihrem Laden gezeigt hatte? So sehr wir das Gefühl haben, diese Welt läge uns so unendlich fern - so nah ist sie uns doch.

Ihre erste Siedlung bestand, für etwa 200 Jahre. Dann zerstörte etwas die Siedlung - eine Flut, die über den Hügelkamm stieg. Ein Erdbeben, das die Inseln erschütterte und Häuser einstürzen ließ. Der Ort auf dem Hügel der Insel wurde von den Überlebenden und denen, die aus dem Osten mit Schiffen kamen, anscheinend schnell wieder aufgebaut. Denn der Kontakt mit der Heimatstadt im Osten: Der blieb vermutlich so intensiv und eng wie zu den anderen Städten in der Umgebung. Doch das: Ist eine andere Geschichte.

Auch wenn die ersten Bewohner von Gadir noch kein NUTELLA kannten: Irgendetwas klebrig-süsses hatten ganz sicher auch sie, um es zwischen die im Tannur gebackenen Fladen zu streichen...















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