Montag, 23. Juli 2018

Am Kap de Peniche. Der Leuchtturm von Cabo Corveiro.


Mitte Mai bin ich in Sizilien aufgebrochen, um einhand 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Seit Anfang Juli bin ich in Portugal unterwegs. Und heute in Peniche, 
einer Hafenstadt nördlich von Lissabon. 



In Peniche stand ich vor der Wahl: Sollte ich nach links abbiegen? Aufs Meer hinaus? Und weiterziehen?Oder nach rechts? Und bleiben? Und meine Tage in Peniche verlängern?

Es waren die Menschen, die ich in Peniche traf und die den Ausschlag gaben. Carlos, der sanfte Hafenmeister mit den traurigen Augen, der hilfreich war, womit immer ich ankam, ob es das durchgebrannte Birnchen in Levjes Kompass war oder der gelegentlich qualmende Motor. Carlos, der mich begrüßte mit den Worten: "Thomas. Was für ein schöner Name. So schön, dass mein Sohn auch diesen Namen trägt." Oder meine Bootsnachbarn, Françoise und Max. Max ist 80 und seine Frau 75. Doch davon merkt man nichts. Die beiden sind so jugendlich und neugierig auf ihrer 35 Fuß Yacht unterwegs, als gäbe es kein Alter und ab 75 keine Beschwerden. Nur Francoise ist traurig. Nach zwei Jahrzehnten kehrt ihr Schiff zum ersten Mal wieder zurück in seinen Heimathafen nach Frankreich, nach Capbreton an der Atlantikküste. 20 Jahre bereisten sie darauf das Mittelmeer vom einen Ende zum anderen. Waren im Libanon und Syrien in der hintersten Türkei. Kennen Zypern. Haben die Friedhöfe des I. Weltkriegs auf den Dardanellen gesehen wie das Schwarze Meer und die Küsten Portugals. Noch drei Wochen später sollte ich jeden Morgen von Françoise und Max ein eMail erhalten, eine Art morgendliches Bulletin in drei Zeilen, wo sie, die vor mir abgefahren waren, gerade steckten. Ob in den Nebeln vor Galizien oder den Regenschauern und Kreuzseen Asturiens.

Und dann war da noch Gilles auf seiner Alcor. Gilles sieht aus, als wäre er Mitte 40, dabei ist er Mitte 60. Doch das hat nicht nur mit seinem hageren Äußeren zu tun. Es ist, als wäre er im Leben der jüngste Sohn seiner Mutter gewesen, das Nesthäkchen der Familie, und wäre es für immer geblieben. Der Kleinste und der, bei dessen Anblick der Mutter das Herz immer ein klein wenig mehr aufging. Das Leben war für ihn vor allem eines: Federleicht, aller irdischen Schwere entrückt. Genau so hatte das Leben ihn auf seiner Alcor nach Peniche verschlagen. Ein geplatzter Kühlwasserschlauch, der mit nachfolgendem Kolbenfresser Gilles Motor draußen vor dem Hafen von Peniche ein hartes Ende setzte. "Alles komplett verrottet und verrostet", sagte Gilles, als würde er über den Sonnenschein am Strand erzählen. Gilles, der 65 ist, wird nun für einige Monate nach Frankreich zurückkehren, nach Lyon, woher er stammt, um etwas Geld für einen neuen Motor zu verdienen. Schließlich will er jetzt, dem drei Frauen im Leben nicht reichten und der darum vier Töchter in die Welt setzte, nach Senegal an die Küste Westafrikas. "Mein Großvater war da in der französischen Armee und ist dort auch bestattet. Ich möchte da nach seinen Spuren suchen. Daran denke ich seit Jahren." Tagsüber sehe ich Gilles nie. Doch er ist da, er sitzt auf seiner Alcor und schreibt an seinem Roman. "Es wird ein Buch über das Paradies", überrascht mich Gilles eines Abends bei einem Glas Bier. "Es ist die Geschichte 


eines Mannes, der die Welt bereist. Und mit jeder Begegnung, mit jeder Erfahrung, die er macht, klüger wird und klüger. Es geht so lange, bis er am Ende gelernt hat, was zu lernen war. Und wird, wie ein Kind." Ich konnte nicht anders, als ihn zu fragen, ob denn auch das Inferno in seinem Buch vorkäme, denn das Paradies sei nichts ohne das Inferno. Doch Gilles ließ sich nicht beirren. Das Paradies war sein Gegenstand. Und das Schreiben seine Profession. Sein dritter Roman sollte es jetzt werden, einen Verleger hätte er auch schon, und als ich nach den ersten beiden fragte, antwortete er ohne Reue. Sie wären ihm nicht gut genug gewesen. Als sie vollendet waren, habe er sie leichten Herzens in den Mülleimer gegeben. 

Es ist ein buntes Völkchen, das sich im Hafen von Peniche trifft. An französischen Seglern schätze ich immer wieder, dass ein Boot weniger das schmückende Acessoire ihres Erfolgs im Leben, sondern Werkzeug ist, ein Leben zu leben, wie sie es es sich vorstellen. Mag das Schiff auch noch so schlicht sein und betagt wie Gilles Boot: Das einfache "Ich lebe, wie ich will. Also bin ich." strotzt diesen Seglern aus jeder Pore, sie gehen unbeirrt auf ihren einfachen Schiffen auf lange Fahrt, wo einem sonst in Häfen nur allzu oft jenes "Ich kann Dinge kaufen. Also bin ich." begegnet.


Und noch eines fesselt mich an Peniche. Auf einer Wanderung entlang der Ufer von Peniche entdecke ich, dass die Stadt nicht nur eine Insel war, sondern immer noch eine ist. Ganz im Westen, wo die letzten Häuser von Peniche längst hinter mir liegen und auch das Land beim Leuchtturm am Cabo Corveirho wie abgeschnitten endet, ist Peniche nur noch Felseneinsamkeit. Die Klippen fallen senkrecht hinunter wie die Cliffs of Moher im Westen Irlands, zu denen ich unbedingt noch einmal reisen will. Wo mich sonst die Höhenangst plagt, stelle mich an die Felskante und schaue hinunter, wo sich unter mir nicht bloß Wellen brechen, sondern mächtig anrollende Gebilde, die irgendwo aus den Weiten des Atlantik heranrauschen, vollgesogen mit Kraft und Wucht und all dem, was dort draußen an unbändiger Wildheit ist.


Ich schaue hinüber zum "Nau de Corvos", dem "Schiff der Krähen" genannten Felsen, hinter dem die Sardinenfischer von Peniche hinausziehen aufs Meer, als hätten sie sich zu einem kurzen Ausflug um dieselbe Stunde an diesem späten Nachmittag verabredet. Wie viele Schiffe wohl am Krähenschiff zerschellt sind und dort unten liegen? Es müssen einige sein. Denn mit dem Bau des Leuchtturms begann man früh, noch zu Zeiten vor Napoleon, lange vor der Dampfschiffahrt. Doch das ist sicher nicht die ganze Wahrheit. Oft ist unser Hirn zu klein, uns vorzustellen, wieviel Vergangenheit manche Dinge und Orte besitzen. Ich bin mir sicher, dass auf den Klippen der einstigen Insel Peniche, die an dieser Stelle mehrere Kilometer weit in die Unwirtlichkeit des Atlantik hineinragt, schon viele Feuer brannten. Neolithische Spuren finden sich am Cabo Corveiro ebenso wie an den anderen Kaps an der portugiesischen Westküste. Was Menschen hierher in die Unwirtlichkeit zog, bleibt ihr Geheimnis. Doch ich vertraue spätestens auf die Römer, die dem Schiffsverkehr im Binnenland und auf dem Meer ungeheures Augenmerk schenkten und die die ersten waren, die - uns ähnlich - konsequent technisch alles und jedes machten, was eben notwendig und machbar war.


Ein paar Schritte nördlich des Leuchtturms geben die merkwürdigen Felsformationen Rätsel auf. Mannshohe Stücke verwitterten grauen Gesteins voller Rundungen und Kurven, die verworren daliegen wie die Teile eines Puzzles. Als warteten sie, endlich wieder zu einem Bild zusammengesetzt zu werden. Als wäre ein unverständliches und längst vergessenes Ornament in die Felsen gehauen, das jene uralte Geschichte überliefert, wie diese Welt entstand. Doch ich kann dies Ornament der Erdgeschichte nicht lesen, verstehe nur, wie alt dies alles ist und sehe das riesige Muster, in dem die beiden Reisenden, die mitten darin sitzen, sich verlieren wie wir in der Welt.

Noch ein Blick aufs Krähenschiff. Und hinüber zu den Inseln der Berlengas, von dem eben das letzte Ausflugsboot zurückkehrt. In den Hafen von Peniche. Ich glaub, ich bleibe noch.


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