Mittwoch, 19. August 2015

Die vergessenen Inseln: Kythira. Wo Aphrodite dem Meer entstieg.


Woher sie nun wirklich kam: Man weiß es nicht. Irgendwoher aus den Tiefen von Zeit und Raum, den unermesslichen Meerestiefen der Menschheitsgeschichte, aus denen Mythen aufstiegen, Blasen gleich, zur Oberfläche, die "Gegenwart" heißt. Mythen, die sichtbar werden in Geschichten. Mündlich weitergegeben von Generation zu Generation, gedreht und gewendet, umgedichtet, umgedeutet, neu erzählt. Doch im Kern immer dieselbe Geschichte.

Wann und wo entstand ein Abbild eines weiblichen Wesens als Förderin allen Wachsens? 
Wann und wo begann die Anbetung einer Frau als Gebärerin? 

Mit der faustgroßen Venus-Statuette, die man im österreichischen Villendorf fand? Verfertigt um das Jahr 25.000 vor Christus aus einem Kalksteinbrocken, gesichtslos und üppig und schön in ihrer Fülle, Muttergottheit? Die es nicht nur einmal gibt, sondern gleich vielfach und weiträumig, wie die große Eiszeit-Ausstellung in Stuttgart Anfang unseres Jahrtausends zeigte? Was wiederum ein Hinweis wäre, dass der Kult um "die große Frau" schon zwischen den Eiszeiten weit verbreitet war?

Begann es im Zweistromland mit Ishtar, der wichtigsten Göttin Babylons um 3.000 vor Christus bis in die Jahre der Hellenen? Ishtar, zuständig für Krieg und sexuelles Begehren gleichermaßen, für Wachsen und Gedeihen und Verkümmern und Vergehen? Verehrt in Hymnen, ihr Symboltier, der Löwe, angebracht am großartigen Ishtar-Tor, an dem jährlich im Berliner Pergamon-Museum Hunderttausende vorbeischreiten? Ishtar, die der Hymnus besingt:

"05   Sie voll schwellender Kraft // mit Liebreiz bekleidet
06   geschmückt mit geschlechtlicher Kraft, // Verführung und Fülle.
...
14   Das Schicksal von jedeinem // hält sie in der Hand,
15   in ihrem Anblick ist geschaffen Frohsinn,
16   Lebenskraft, Gesundheit, Lebensfülle, Schutz!

17   Über Geflüster, Erhörung // Liebeserweisung, Güte
18   und Zustimmung verfügt sie.
19   Das Mädchen, das ausgesetzt wurde // findet in Ihr eine Mutter.
...
25   Grausig ist sie unter den Göttern // ist übergroß ihre Stellung
26   Gewichtig ist ihr Wort, // und über diese ist sie mächtig.
27   Ishtar: Unter den Göttern // ist übergroß ihre Stellung."
(zitiert von: UNIVERSITÄT DUISBURG-ESSEN, INSTITUT FÜR EVANGELISCHE THEOLOGIE unter  https://www.uni-due.de/~gev020/courses/course-stuff/meso-ishtar-hymn.htm)

Oder: Beginnt es mit Astarte, Göttin der Syrer, der Phönizier und anderer westsemitischer Völker an der Küste des heutigen Syrien, Libanon und Israel? Die Astarte verehrten als Himmelskönigin und Liebesgöttin? Mein guter Herodot dachte sich das so jedenfalls, dass damit alles begann, mit den Männern aus Thyros, den Phöniziern, die nach dem großen Zusammenbruch der alten Reiche um das Jahr 1.000 wieder begannen, als Händler das Meer Richtung Westen zu befahren. Herodot erzählt in seinem 1. Buch vom Tempel der Aphrodite Urania in Askalon: "Es ist dies, wie ich erfahren habe, der älteste von allen Tempeln, die die Göttin hat. Auch der Tempel auf Kypros ist von Askalon aus gegründet worden ... und den Tempel in Kythera haben Phoiniker, also Bewohner jenes syrischen Landes, gegründet." (Herodot I, 105).


Schenken wir also, während ich LEVJE von Süden, von Kreta kommend, auf die Insel Kythira zusteuere; schenken wir also Herodot für diesmal Glauben, auch wenn die archäologischen Beweise für seine Version bislang fehlen. Glauben wir Herodot und seinen Geschichen in mindestens zwei-,  dreifacher Hinsicht: Dass der Kult um die Göttin aus dem Osten kam. Dass er verbreitet wurde von Seefahrern, Händlern: Die aus dem Osten kamen und den Kult mitbrachten. Dass der Kult in der Welt der frühen Griechen hier auf Kythira seinen Ausgang nahm und hier neben Zypern vielleicht ein erstes, wichtiges Heiligtum der Aphrodite entstand. Dass also hier, genau hier auf Kythira, Aphrodite dem Meer entstieg. Botticelli hat sie so gemalt, sie, die später bei den Römern Venus hieß. Aber so anmutig, wie sich die italienische Renaissance das ausmalte, lief das nicht. Der Gründungsmythos, und hierin entspricht er ganz der mörderischen, kriegerischen, der archaischen Welt der Bronzezeit erzählt es wesentlich grausamer. Unversöhnlicher. Chronos war es, Sohn der Gaia und des Uranos, der Erde und des Himmels, der seinem Vater auf Anstiftung der Mutter mit einer Sichel das Gemächt abschnitt. Und es hinter sich ins Meer warf. Eben jener Chronos, der aus Angst, selber entmachtet zu werden, die eigenen Kinder auffraß, auch den Demeter. Nur eines der Kinder überlebte, weil Chronos' Frau es vor ihm im Gebirge auf Kreta, nicht weit von hier, keine 50 Seemeilen, versteckte: Zeus. Aber auch da sind wir noch nicht mit unserer Geschichte.

Sondern bei dem, was Chronos verächtlich ins Meer geworfen hatte. Das brodelte und gischtete im Meer, und brandete und schäumte, das Blut, das Gemächt, der Same des Uranos, der sich mit dem Meer verband, schäumte. Und dem Geschäume entstieg, so überliefert es Hesiod, Aphrodite, die "Schaumgeborne". Zum Umfallen schön. Im Styling die Ahnherrin anderer Meeres-Schönheiten wie Brigitte Bardot oder weiland Bo Derek. Und stieg ähnlich wie Bo Derek an Land, hier auf Kythera. Und später auf Zypern.
  

Was aus all dem wurde?

Chronos? 
Natürlich überwand ihn sein Sohn Zeus, als der vom Honigwein berauscht dalag. Als Zeus ihn band, spuckte er alle Kinder, die er zuvor gefressen hatte, wieder aus: Hera und Demeter, Poseidon und... Zeus aber steckte Chronos auf eine abgelegene Insel, die Elysischen Gefilde. Und da, so geht der Mythos, lebt Chronos noch heute.

Aphrodite? 
Sie legte eine unglaublich steile Karriere hin. Als Liebhaberin, als Göttin, als Model. Als Liebhaberin, weil sie chronisch untreu war. In die Liste ihrer außerehelichen Amouren - verheiratet war sie nämlich auch, mit demübellaunigen Hephaistos, dem Schmied, Gott des Feuers und der Schmiede. Aber der reichte ihr nicht, in ihr Repertoire gehören ettliche prominente Namen, das "Who-is-who" der griechischen Mythologie. Ares, der Kriegsgott, zum Beispiel. Dem jungen Paris verdrehte sie den Kopf, als der sich unter den drei Göttinnen für sie als Schönste entschied und ihr, genau ihr den Apfel reichte - was ihm schlecht bekam. Da ist sie wieder, die uralte Geschichte von Schönheit und Zerstörung. Oder der Trojaner Anchises, ein Irdischer. Aus dieser Beziehung entstand Aeneas, einer der wenigen, die den nachfolgenden Untergang Trojas überlebten. Und als Gründer Roms dann auch gleich der Ahnherr von Julius Caesar selbst wurde.
Als Göttin machte sie Karriere, weil die Griechen sie als vielerlei verehrten. Als Himmelsgöttin und Symbol für die überirdische Liebe. Aber auch als Symbol für das irdische Begehren, Göttin der Hetären, Dirnen, Lustknaben, als Aphrodite Porné. Als Männermordende und Dunkle. Aber auch als Beschützerin der Seefahrer. Was sich Männer in Jahrtausenden eben so alles ausdenken.

Und die Römer? Sie steigerten diese Verehrung noch einmal, indem sie einfach in heilloser Griechen-Bewunderung aus Aphrodite Venus machten, eine Göttin für ein Weltreich, das das gesamte Mittelmeer umfasste. Ein Symbol für Jahrtausende.

Als Model machte Aphrodite aber die größten Furore. Botticelli! Watteau! Die Venus von Milo! Die weniger bekannte Venus von Knidos, geschaffen vom unglaublichen Praxiteles! Beide sind noch heute erhalten und können im Internet bestaunt werden. Und von der Venus von Knidos geht die Geschichte, dass die Stadt, über die ich in einem früheren Post schrieb, einst so verschuldet war, dass ihr der Gläubiger anbot, alle Schulden zu erlassen: Wenn sie nur die schöne barbusige Marmorstatue ihm überliessen. 
Es spricht für die griechischen Bewohner von Knidos, dass sie genau das nicht machten. Und lieber ehrenhaft ihre immensen Schulden abbezahlten.


Kythira?
Zu wichtig das Eiland auf dem Seeweg vom Peloponnes nach Kreta nach Ägypten und nach Syrien, um vergessen zu werden, zunächst einmal. Die kretischen Minoer hatten hier einen Handelsposten. So wichtig, dass Krieg entbrannte, unter anderem auch darum zwischen Spartanern und Argeiern. Herodot erzählt auch diese Geschichte, wie beide Heere, um größeres Blutvergiessen zu vermeiden, jeweils dreihundert auswählten, die kämpfen sollten. Die sie waren sich ebenbürtig, die dreihundert, die auf die dreihundert trafen, und nur drei von ihnen lebten am Abend des Tages noch, zwei Argeier und ein Spartiat. Die Argeier eilten darufhin in ihre Heimatstadt, um den Sieg zu übermitteln, derweil der Spartaner den toten Gegnern die Rüstungen auszog, als Beute. Als am nächsten Morgen die Heere anrückten, um zu erfragen, wer denn gewonnen hatte: Da beanspruchten beide Seiten den Sieg für sich. Streit brach aus, die Schlacht begann, die Spartaner siegten. Und "seit dieser Zeit schoren die Argeier ihr Haupt, während früher langes Haar Gesetz war." Kein Argeier solle lange Haar tragen, bevor die Schmach nicht getilgt sei, erzählt Herodot in dieser Geschichte von der Klugheit und der Dummheit der Menschen.

Kythira aber versank danach im Vergessen. Die Venezianer errichteten eine Festung, zur Sicherung des Hafens, der türkische Korsar Cahireddin Barbarossa überfiel und plünderte die Insel, wie so viele andere in den Scharmützeln zwischen Venezianern und Osmanen.

Und heute? Ist Kythira, das man [ki:thira:] spricht, irgendwie ein Geheimtipp unter meinen vergessenen Inseln. Irgendwie tatsächlich vergessen, das Inselchen gleich südlich des Peloponnes. Und auch Kythira hat seine schöne Tochter fast vergessen, fast. Nur ein einziges Hotel hier in Kapsali, dem netten verträumten Hafenstädtchen unter der venezianischen Festung, heißt nach ihr. Vergessen also - fast. Wären da nicht all die Anbeter der Aphrodite, die auf Kreuzfahrtschiffen wie der CLUB MEDITERANEE 2 hierher kommen mit der Durchsage des Bordfunks: "Welcome in Kythira. Where Aphrodite was born!" 
Der Mythos - er lebt.



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Vom Autor von MARE PIU: 

Ein Mann verliert seinen Job.
Aber statt zu resignieren, begibt er sich einfach auf sein kleines Segelboot.
Und reist in fünf Monaten: Von München nach Antalya.

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