Der unwirtliche Norden des Inselchens Tsimintiri, wo sich vor etwa 2.500 Jahren ein Shakespeare'sches Drama vollzog. |
Oft auf meiner Segelreise durch die Ägäis frage ich mich: Bin ich es, der dank glücklicher Fügung Orte findet, die Geschichten erzählen? Oder sind es die Orte, die mich finden?
Denn so war es auch mit Despotiko, der vergessenen Insel. Den Tag über war ich von Kimolos herübergesegelt, ein längerer Schlag, an Sifnos vorbei. Am späten Nachmittag begann ich Ausschau zu halten nach einem Platz, um ankernd die Nacht zu verbringen. An zwei, drei Buchten segelte ich vorbei, bleib ich hier? Bleib ich da? Bis ich mich entschied, noch vor Paros in die weite Ankerbucht Ormos Despotiko einzulaufen, die jeder kennt, der durch die Gewässer um Paros und Naxos streift. Es ist ein Ankerparadies, das da zwischen dem bewohnten Antiparos im Osten und den unbewohnten Inseln Tsimintiri und Despotiko, den alten Piratenschlupfwinkeln liegt: weit, geräumig, das türkise Wasser begeisternd, vor dem Wind geschützt nach allen Himmelsrichtungen, Wassertiefe und Grund ideal zum Ankern. Ein Platz wie wenige. Ich blieb vier Tage.
Meiner Gewohnheit folgend, nutzte ich den späten Nachmittag, um mit meinem Dinghi Streifzüge zu unternehmen. Zuerst nach Antiparos - da wars touristisch. Dann nach Tsimintiri (im Bild ganz oben): baumlos, strauchlos, menschenleer, und der Meltemi treibt aus Nordwesten die Brandung an die Felsen. Doch plötzlich stehe ich - wie fast immer auf den Ägäis-Inseln und vorher schon auf Milos - in antiken Tonscherben. Die ersten Spuren uralter Besiedlung.
Am Dritten Tag dann mit dem Dinghi hinüber nach Despotiko selber. Das Dinghi an Land gezogen und vertäut und langsam Richtung Gipfel marschiert. Und plötzlich finde ich - oder es findet mich - dies:
Ein weitläufiges Areal. Grundmauern aus behauenen Quadern. Die Reste einer Tempelanlage der Antike - ein Kultplatz, vielleicht nicht so groß wie Olympia, aber beeindruckend mit den fast fugenlos aufeinandergelegten Quadern, den üppigen Grundrissen, den Säulen mitten auf dieser vergessenen, nur von einem Schäfer bewohnten Insel, dessen Hunde mich aus der Ferne anbellen, während ich allein durch die Ruinen streife.
Kein Zweifel: dies muss in der Antike ein bedeutendes Heiligtum gewesen sein, ein Ort, den zuverlässig untereinander streitenden und kriegenden Hellenen ein Stück Gemeinsamkeit zu schaffen. Was ich fand, ist dies:
Es ist das antike Prepesinthos, ein Heiligtum, im sechsten, siebten Jahrhunderts vor Christus dem Apoll errichtet. Ein zentraler Ort, den die Menschen vor 2.600 Jahren mit einer Bitte, einem Gebet, einem Flehen oder einem Dank aufsuchten. Ein Ort, an dem sie den Göttern, einem Gott, Apoll, ein Opfer, ein Geschenk darbrachten. Manche Gold. Manche eine Figur. Andere nur einen Krug. Oder einen tönernen Weinbecher, in dessen Boden sie mit ungelenker Hand "Für Apoll" ritzten.
Aber etwas stimmt nicht mit diesem Ort. Irgendetwas ist falsch. Und das hat mit dem marmornen Abbild des "Kouros", des Jünglings, zu tun, den man im Bauschutt der weitläufigen Ruinen fand. Denn der Kouros, vielmehr die vollständige Statue, war nur wenige Jahre in Prepesinthos aufgestellt. Der Kopf wurde etwa um 560 vor Christus geschaffen, und dies unergründliche Lächeln, das der Jüngling zeigt, verschwand nur wenige Jahre später im Erdboden: die Statue wurde zerstört - keine 70 Jahre, nachdem der Künstler sie geschaffen hatte. Zerstört nicht durch Erdbeben oder eine Naturkatastrophe. Sondern durch militärische Gewalt, durch absichtsvolle Zerstörung. Um danach in Trümmern als Baumaterial Verwendung zu finden.
Man ging zunächst von lokalen Unruhen aus. Dann von den Perserkriegen, in denen Naxos und Paros als wichtiger Trittstein für die Perser auf dem Weg nach Athen eine große Rolle spielten.
Aber die jüngste Spur ist weit spannender. Sie führt nach Athen. Und mitten hinein in das größte Ereignis der griechischen Antike: Den Einmarsch der Perser mit ihren gewaltigen Heeren nach Griechenland. Und den Sieg der Athener über diesen Feind. Die Spur führt von der vergessenen Insel Despotiko zu Miltiades, dem Strategen, der die athenischen Truppen in der Schlacht von Marathon zum Sieg führte. Miltiades, der als größter Feldherr seiner Zeit galt. Der ein Jahr nach seiner erfolgreichen Kampagne von seiner Heimatstadt Athen beauftragt wurde, die Insel Paros zu unterwerfen. Aber die Bewohner von Paros und der umliegenden Inseln ließen sich nicht unterkriegen. Leisteten erfolgreich Widerstand, und es war vermutlich während dieses Kriegszuges, dass das nur wenige Meilen vor Paros liegende Apollon-Heiligtum von Griechen zerstört wurde. Und das Lächeln des Kouros für 2.500 Jahre im Erdboden verschwand.
Miltiades verletzte sich auf diesem Feldzug bei der Belagerung der Stadt Paros, keine fünf Seemeilen nördlich von Despotiko. Am Bein. Glaubt man Herodot, hatte eine Priesterin ihn verleitet, über den Zaun eines in der Nähe liegenden Tempels (!) zu klettern:
"Er ging hinein in das Tempelhaus, um dort irgend etwas zu tun, ich weiß nicht, ob er von den unberührbaren Dingen dort eines mit fortnehmen oder sonst etwas tun wollte. Aber schon an der Türe überlief ihn ein Schauder, er eilte zurück und verrenkte sich beim Herabspringen von der Mauer den Schenkel. Andere sagen, es sei eine Verletzung des Knies gewesen.
Da kehrte denn Miltiades krank mit der Flotte nach Athen zurück..."
Und wurde dort wegen seines Fehlschlags angeklagt. Man war gnadenlos: Auf einer Krankenbahre hatte sich Miltiades vor Gericht für seine misslungene Expedition zu rechtfertigen. Aber lassen wir die Geschichte meinen guten Herodot zu Ende erzählen, fast ein Zeitgenosse des Miltiades, der mich auf LEVJE mit seinen Geschichten immer begleitet:
"Miltiades konnte nicht auftreten, um sich zu verteidigen, weil der Brand seinen Schenkel verzehrte und ihn an das Lager fesselte. Seine Freunde verteidigten ihn. Sie sprachen ausführlich von der Schlacht bei Marathon und von der Eroberung der Insel Lemnos, die er den Athenern gewonnen und den Pelasgern genommen hatte. Das Volk erließ ihm die Todesstrafe, erkannte ihn aber doch für schuldig und legte ihm eine Strafe von 50 Talenten auf. Darauf starb Miltiades; der Brand hatte seinen Schenkel zerstört. Die fünfzig Talente zahlte sein Sohn Kimon."
Herodot, Historien VI 136
Mit PEANUT, meinem Dinghi, auf dem Weg zurück von Tsimintiri.
Als ich zurück zu LEVJE rudere, bin ich nachdenklich über diese Geschichte, die sich nur wenige Seemeilen von hier vor 2.500 Jahren abspielte. Die Gier eines erfolgreichen Mannes. Und sein elendes Sterben.
Zum ersten Mal liegt Nebel draußen über dem Meer. Eine erste Ahnung von Herbst ist da, selbst hier in der Ägäis. Wo die vergessenen Inseln dem, der zuhören mag, gute Geschichten leise ins Ohr flüstern.
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