Sonntag, 28. Juli 2019

Von England nach Irland und Schottland (19): Mull of Kintyre. Eine Halbinsel. Ein Song. Und die Whisky-Inseln.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles und von dort über Dublin und Nordirland zur Küste Süd-Schottlands.


Es ist, als hätten der Himmel und das Meer eine Pause eingelegt. Das Meer verharrt fast reglos unter einem dramatischen Wolkenhimmel, der noch nicht eins ist mit sich, ob er an diesem Spätnachmittag  noch einmal einen Eimer Sonne oder einen Eimer Regen über uns auskippen soll. 

Es ist Donnerstag, irgendwann kurz vor halb sechs. Der Wind, der eben noch da war, hat sich verzogen, wir liegen, wo wir liegen, wie in einer Pfütze. Nur noch ein schwacher Hauch fängt sich in dem großen gelben Schwachwind-Vorsegel über Levjes Bug, er treibt uns gerade mal mit eineinhalb Knoten weiter, ein schlendernder Passant wäre ein rasender Roland dagegen. Aber selbst unsere 1,5 Knoten sind nur graue Theorie. Der Strom, der vom Kap vor uns kommt, dem Mull of Kintyre, raubt uns die Fahrt. Die Logge zeigt 1,5, das GPS, das unsere Fahrt über dem Meeresboden anzeigt, sagt "0". Wir segeln - aber auf der Stelle. Wenn das so weitergeht, sind es noch 8 Stunden bis zur Halbinsel Kintyre und ihrer südlichen Spitze, dem Mull of Kintyre.


Doch Geschwindigkeit ist nicht alles im Leben. Einfach nur sein in dieser Weite, sich spüren in diesem ungeheuerlichen Innehalten um uns herum, das ist schon viel. Mir bedeutet es in diesem Moment fast alles. 

Blicke ich nach vorn, sehe ich den Schwarm gänsegroßer Basstölpel in einer Linie majestätisch wie Schwäne über die Wasseroberfläche vor Levje ziehen und weit im Westen verschwinden, wo die Sonne hinter den Regenwolken steht und sie erleuchtet. Schaue ich hinter mich nach Südosten, sehe ich den Leuchtturm wie den Turm Isengarts einsam auf seinem Felskegel stehen. Neben Levje sitzen zwei Trottellummen auf dem Wasser, ein Elterntier und ein kleineres Jungvogel. Die pinguinähnlichen Vögel gemächlich wie die Entlein auf einem winzigen Dorfteich und nicht sechs Meilen, zehn Kilometer vom nächsten Land entfernt. Immer wieder habe ich Freude an den possierlichen Tieren, irgendein Ahnherr von ihnen muss einst Modell gestanden haben für Plastik-Badeentchen. In diesem Moment treibt der Strom sie zu nahe an Levjes Rumpf heran. Ein paar hektische Kopfwendungen, wenn Levje an sie herankommt, ein leicht beschleunigter Schlag mit den Schwimmfüssen, dann macht es ein leises "Pfluntsch" auf dem Wasser und die beiden tauchen einfach Schnabel voraus in die Tiefe, wo sie sich für Minuten vor dem großen blauen Ungetüm in Sicherheit bringen. Abhauen kann wirklich kinderleicht aussehen.

Die Meeres-Landschaft, in der wir gerade windlos liegen, ist wie ein riesiges Amphittheater. Hinter mir der lange Schlauch des Loch Ryan, an dessen südlichem Ende wir die erste schottische Nacht im Hafen von Stranraer verbrachten. Im Osten die seltsam rundliche Insel Ailsa Craig, die sich aus dem Meer erhebt wie ein Totenschädel, der im nächsten Moment in voller Größe aus dem Wasser auftaucht. Im Norden die Meerenge, hinter der Insel Arran muss irgendwo der lange Loch Clyde mit den Häfen von Glasgow am Ende liegen.


Im Nordwesten voraus die Halbinsel Kintyre. Steile Felsen am Kap, die mit den sattgrünen Flächen ein seltsames Webmuster bilden, ein Ornament, eine Zeichenfolge, die ich so wenig deuten und lesen kann wie das Punktmuster, das der nächste Schwarm Basstölpel knapp über der Wasseroberfläche auf den Horizont vor mir tupft. Es gibt keinen Maler in diesem Moment, der die Ornamente malt, und keinen, der diese Schrift schreibt. Und doch ist es für mich in diesem Augenblick wie ein Text, dessen Bedeutung ich nur ahnen kann und in dem auch ich vorkomme als winziger Punkt.

Mull of Kintyre. Mull: Das gälische Wort für Vorgebirge. Der Name beschreibt das Gebirge an der Südspitze der Halbinsel Kintyre, die von hier aus mehr als 70 Kilometer weit aus dem Atlantik bis ins schottische Hochland ragt. Der südlichste Punkt der Halbinsel, an dem wir stehen, markiert zugleich auch die engste Stelle zwischen Irland und Schottland, die hier nur 17 Kilometer trennen. Irgendwo hier muss Paul McCartney seine Farm mit dem Studio gehabt haben, wo er den Song Mull of Kintyre aufzeichnete. Als der Song ein Millionenhit geworden, würde er sagen, er schrieb ihn aus keinem anderen Grund, als nur der Landschaft hier zu huldigen. Wenn es wahr wäre, könnte ich ihn beim Anblick der Landschaft gut verstehen, anders als damals, als ich den Ohrwurm zum ersten Mal hörte. Ich war 17, ich war mal wieder verliebt, und Paul McCartney lieferte die richtige Klangtapete für mein Lebensgefühl. Wäre nicht Ex-Beatle Paul McCartney der Sänger gewesen sondern Udo Jürgens, hätte man das mit Kintyre-Dudelsäcken unterlegte Stück als Schnulze abgetan. Aber so? War es einfach 1978 pure Sehnsucht auf schwarzem Vinyl, das sich als erste Schallplatte überhaupt in UK über zwei Millionen Mal verkaufte. Doch davon ist Mull of Kintyre gänzlich unbeeindruckt.


19.30 Uhr. Wir stehen vor Mull of Kintyre. Ganz links von mir sehe ich in der Ferne einen Tanker langsam vor der nordirischen Küste dahin schleichen. Immer mehr Schwärme von Basstölpeln ziehen langsam nach Norden, knapp an uns und knapp an der Wasseroberfläche vorbei. Was sie wohl dort vorne hinter dem Mull of Kintyre in der großen grauen Wand suchen?

Von Westen setzt leichter Regen ein, er zieht in Schlieren aus dem Grau über das grüne Webmuster des Vorgebirges, das eben noch grün leuchtete und jetzt hinter dem grauen Vorhang verschwindet.


Schlagartig ist Schluss mit dem Innehalten der Natur. Während die Regenfahnen über uns hinwegziehen, tauchen am Kap Seehunde nahe bei Levje auf. Sie schwimmen treuherzig wie Dackel um Levje. Erst drei. Dann fünf. Dann sind es zehn, die mit unverhohlener Neugier Kreise um das große blaue Teil ziehen. "Seid ihr was zum Spielen?", scheinen die Schlappohren zu fragen. Ich bin wie Sven und Ida fasziniert von den Tieren, fotografiere wie ein Wilder und sehe nicht, was meine Kamera bereits sieht und rechts oben in der Ecke bereits festhält:

Races! Brechende Wellen! Stromschnellen! 

Urplötzlich setzen hackige Wellen ein, sie brechen, obwohl kein Wind weht, als würde hier der Meeresboden ansteigen und wir gleich auf eine Untiefe laufen. Levje kracht mit lauten Scheppern voran, doch es ist keine Untiefe, sondern das Wellental nach der ersten brechenden Welle. Um uns ist das Wasser tief genug, alles frei. Die Seehunde sind vergessen, wir geigen plötzlich durch die Wellen, das Schiff wird ungut hin und her geworfen, wir suchen Halt, um nicht umgeworfen zu werden im Cockpit. Die graue Regenwand vor uns hat uns und die eben noch vorhandene Weite in lichtloses Grau gepackt. Wir müssen hier irgendwie aus diesen windlosen Stromschnellen raus, ein Glück, dass ich stur war und darauf bestand, den großen Blister wegzuräumen, so ist wenigstens das Schiff seeklar für die Stromschnellen. Zehn Minuten brauchen wir, dann sind wir durch die Stromschnellen hindurch. Prasselnd setzt Regen ein, in dem das nahe Kap Mull of Kintyre hinter uns versinkt, als wäre es niemals da gewesen.

Hinter dem Mull of Kintyre ändere ich den Kurs. Unser Ziel ist Islay, "Aaailii" gesprochen, eine der inneren Hebrideninseln im Nordwesten, 20 Seemeilen, 35 Kilometer weiter. Knapp vier Stunden geht es erst durchs große Grau, das wie Watte um uns liegt, bevor der Wind wieder da ist. Bis 23 Uhr ist es taghell, um Mitternacht tappen wir mit dem allerletzten Licht des Sonnenuntergangs entlang an Felsen und weißen und grünen Blinklichtern in die gut befeuerte Hafenbucht von Port Ellen und suchen nach einem Platz zum Ankern. Da, zwei Yachten vor uns vor Anker. Noch einen Kreis auf dem Wasser gedreht, den Anker fallen lassen, dann kann ich den Motor abstellen. Hundemüde und hellwach zugleich, bin ich aufgewühlt vom Mull of Kintyre und diesem Tag. Und neugierig auf Islay und Port Ellen. Namen, die nach schottischem Whisky schmecken.

Aber so neugierig mich die Lichter der still daliegenden Insel Islay machen: Mull of Kintyre wird mich weiter begleiten, nicht bloß als längst vergessener Song, sondern von jetzt als Ort, an dem der Himmel und das Meer eine Pause einlegten. Und mir einen besonderen Moment schenkten.






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