Mittwoch, 24. Juli 2019

Von England nach Irland und Schottland (18): Das erste Mal Schottland. Das erste Mal Haggis.


Was tut man, wenn man den Tag auf seinem Boot im Nebel und Regen verbrachte und zum ersten Mal in einem schottischen Hafen festmacht? Man trabt durch den Regen und die Kleinstadt und sehnt sich nach einem gemütlichen Pub. Etwas Warmes braucht der Mensch.

Im südschottischen Stranraer ist das zunächst nicht so einfach. Die Stadt war bis vor wenigen Jahren Fährhafen hinüber ins nahegelegene Belfast, bis die Fährgesellschaft beschloss, den Hafen ein paar Seemeilen weiter nach Norden zu verlegen, weil der von Stranraer verlandete. Der Ort hat das bis heute nicht verwunden. So verwegen der Name immer klingt, so verwegen man ihn mit "Straanraaaaaar" auch ausspricht: Die Hauptstraße der Kleinstadt ist verwaist, ein paar magere Schreibwarenläden und ein Plastik-Fingernagel-Studio, von guten Pubs ist nichts zu sehen. Nur Tripadvisor ist unerschütterlich und sagt, es gäbe Licht am Ende des Ortes. Wenn wir uns 20 Minuten durch den schottischen Nieselregen entlang der Bucht ostwärts kämpften, dann wäre da Henry's Bay House Restaurant, dessen Küche immerhin 500 Leute zu viereinhalb von fünf Sternen hinriss. Wärme. Whisky. Wohlbefinden.

Tatsächlich liegt Henry's Bay House dort, wo Stranraers Wohnhäuser enden. Und eigentlich sieht es auch so unscheinbar aus wie ein Wohnhaus. Aber das einstige Wohnzimmer ist voll, ein Tisch mit Meerblick ist noch frei. "Haggis 'n Blackpudding" steht auf der Speisekarte, als Antipasto, na dann los. Das verstehe ich wenigstens, wenn ich schon kein Wort verstehe von dem, was die Kellner mir zu sagen versuchen.

Es ist pure Neugier, die mich reitet. Jener derbere Teil meiner bayrischen Küche, Schlachtplatte, Blut und Leberwürste, Kesselfleisch und saures Lüngerl sind mir zutiefst zuwider, vor rotem Preßack laufe ich bis heute schreiend davon. Meine Begegnung mit "Trippa a la Fiorentina", gekochtem Kuhmagen in Streifen mit Tomaten- soße, dem florentinischen Traditionsessen, hat die Sache eher noch verschlimmert. Auch das, was wir heute als gehobene typisch mediterane Küche begreifen, war einst nichts anderes als "Arme-Leute"-Küche, für die verwertet wurde, was sich kein anderer auf den Teller legen mochte. "Spaghetti allo Scoglio" ist das Gericht, für das aus dem Meer in den Topf kam, "was am Felsen hängengeblieben" war. Spaghetti Bolognese waren, bevor man dafür bestes Hack verwendete, auch mal eher kleingehackte Schlachtabfälle. Die "Roba Vieja" in Spanien, "alte Klamotten", bringt heute restaurantmäßig die Leftovers von gestern auf den Tisch und der Pfälzer Saumagen verkocht zerkleinert, was keiner wirklich essen mag.


Da kommt mein Haggis mit Blackpudding. Schön sieht er aus, unter einer Whisky-Sahne-Sauce mit Pilzen. Eine Art Lasagne aus Haggis- und Blackpudding-Schichten, Blutwurst. Ein erster zaghafter Stich mit der Gabel. Konsistenz eines heimatlichen Fleischpflanzerls, einer Bulette, wie man auch dazu sagt.

Aaaaaaaah. Der Geschmack einer gekochten Bratwurst-Füllung entfaltet sich am Gaumen, ein leichter Duft nach Majoran und Muskatnuß. Konsistenz von lange im Bratgut mitgekochtem Getreidekörnern. Nein, das ist ja phantastisch. Ich denke, Haggis werde ich jetzt öfter essen. Auch Sven und Ida, die mit mir segeln, sind mit meiner Wahl durchaus einverstanden. Begeistert vom schottischen Essen und Haggis im Besonderen traben wir später durch den Nieselregen. Ich beschließe, fortan ein Haggis-Fan zu sein, fast wie der schottische Nationaldichter Robert Burns singe ich auf dem Heimweg zu Levje das Loblied des schottischen Haggis.


Doch so einfach ist das alles nicht. Essen findet im Kopf statt, und zunächst mal eine Etage oberhalb  des Gaumens, mit dem Denken. Als ich nach meinem zweiten Mal Haggis nachlese, was das denn eigentlich ist, sehe ich die Dinge anders. Wikipedia zitiert ein schottisches Kochbuch, daß das folgende Rezept für Haggis "nichts für schwache Nerven" sei. Weniger, weil man als "Kochbehälter" einen tierischen "Behälter" den Magen eines Schweins nimmt. Auch nicht, weil man dafür Herz, Leber und Lunge in einer leichten Fleischbrühe kocht, sondern weil der Autor dezent darauf hinweist, dass beim Kochen die an der Lunge hängende Luftröhre unbedingt über den Topfrand hängen muss.

Ist  alles feingehackt und zerkocht, kommt das dann mit Pfeffer, Muskat, Nierenfett und Hafermehl in den umgedrehten Schweinemagen und wird stundenlang gekocht.

Nach der Lektüre bin ich mir nicht mehr soooooo sicher, ob ich noch mal Haggis essen oder gar ein Gedicht wie Robert Burns auf Haggis schreiben werde, das die Schotten am nationalen Burns-Feiertag Ende Januar zusammen mit Haggis angeblich genießen. 

Was ich aus meinem Haggis-Erlebnis lerne, ist die immer gleiche Erfahrung mit dem Essen: "Seelig sind die geistig Armen." Oder: Ein bisschen Ahnungslosigkeit brauchts, will der Mensch glücklich sein. Oder will ich jetzt wirklich genau wissen, was denn jetzt alles in heutigen Brotbackmischungen meines braven Dorfbäckers, einer Pizza beim Lieblingsbäcker oder einem simplen Semmelknödel alles drinsteckt? Und selbst der fortschrittlichste Veganer wird zugeben müssen, dass er auch nicht weiß, was immer drinsteckt in Tofu und Fermentiertem.

Nein. Der Haggis ist nur ein Beispiel. Abgesehen davon: Haggis gibt es nicht nur nach dem angegeben Rezept. Es gibt ihn - selbstverständlich - auch nach "Original Recipe" Glutenfrei. Und auch vegetarisch, auf dem Foto ganz rechts.

Aber will ich wirklich wissen, was in der ersatzhalber statt Lunge verkochten Möhre wirklich drinsteckt?


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