Donnerstag, 4. Mai 2017

Menschen am Meer: Maurizio und das blaue Ungetüm.

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.


Als ich klein war, waren meine Helden so ganz andere als heute. Vieles war groß, was mir heute klein erscheint. Die Straße, in der ich wackelnd Fahrradfahren lernte, war schier unendlich. 35 Jahre später stellte ich fest, dass sie nicht mal 35 Meter lang war. Ebenso riesig erschien mir der Bagger an der Baustelle, der heute nur jämmerlich klein ist und blau. Was habe ich ihn bewundert, den Mann im Führerhaus des Baggers. 


Zwischen damals und heute gleich geblieben ist, dass Staunen Voraussetzung für ein gutes Leben ist. Staunen lernte ich vorgestern wieder einmal bei Maurizio, dem Kranführer in der Marina San Giorgio.


Unsere erste Begegnung verlief, wie so oft bei meinen Begegnungen die interessant werden, knurrig. Im Herbst hievte Maurizio LEVJE aus dem Wasser. 9,40 Meter Länge. Keine vier Tonnen Gewicht. Kein großer Act, könnte man meinen. Aber tatsächlich muss man auch da aufpassen, wo man die Krangurte ansetzt. Sitzen sie falsch unter dem Schiff, zerdrücken sie den Kühlwasser-Einlauf, verbiegen die Motorwelle, zerquetschen das kleine Wasserrädchen der Logge. Also bat ich Maurizio, aufzupassen. Wegen der Gurte. Und dem Rädchen. Und entschuldigte mich bei Maurizio mit der Bemerkung, das daumennagelgroße Rädchen koste knapp 40 Euro, wenn es kaputtgeht. „Das ist etwa das, was ich am Tag verdiene,“ hörte ich Maurizio knurren, als der davon stapfte. Es gab mir zu denken.

Als LEVJE II nun aus dem Wasser kam - zum dritten Mal in diesem Winter - verkniff ich mir derlei. Maurizio und Michele brachten mein Schiff - siebeneinhalb Tonnen - ohne Schaden aus dem Wasser. Und wandten sich dann größeren Aufgaben zu. In der Halle wartete ein echter Brocken auf Maurizio. Eine Motoryacht von knapp 70 Tonnen. Knapp 30 Meter lang. Der Himmel weiß, wie sie sie vergangenen Herbst in die Halle hineingefummelt hatten. Die metergroßen Schiffschrauben des Monsters schwebten keine Handbreit über dem Hallenboden. Dafür passte sie auch nur Zentimeter unter die Betonträger des Hallendachs. Und auch das bloß, weil die Elektroniker den Mast mit Radar und Kommunikationsdomen abmontiert hatten.

Nun also dieser 70-Tonnen-Brocken. Dafür hat Maurizio sein kleineres Spielzeug aus der Garage geholt. Den 80 Tonnen-Kran. Er passt so eben unter das Hallendach. Und Zentimeter neben das blaue Wunderwerk im Winterschlaf.


Hustend steckt sich Maurizio eine Zigarette an. Und schaut die Bordwand hoch, ob die tonnenschweren Hebearme auch nicht an der Bordwand schrappen. Als ich ihn frage, warum er rauche, knurrt er bloß: „Zu nervös heute“. Der spirelige Werftchef Giuseppe, den alle in der Werft nur Peppo nennen, trägt auch nicht gerade zu Maurizios Ruhe bei. „Dai“, ruft er Maurizio im Vorbeigehen zu, „Mach endlich. In einer Stunde muss die im Wasser sein.“ Maurizio reißt sich aus seiner Betrachtung los. Michele schleppt noch zwei lange gepolsterte Holzbalken herbei, die sie unter die Gurte spannen. 


Maurizio hält den einen in seiner Position, ich sehe seine Tätowierung. Sehe seine Hände. Es sind die Hände eines Handwerkers. Hände, die einer Frau Sicherheit geben. Und Vertrauen. Worüber er wohl mit seiner Frau Abends redet? „Heute war einer da, der hat mir erzählte, ich solle aufpassen, damit ich sein rotes Rädchen unterm Boot nicht zerquetsche?“ 


Dann beginnt für die blaue Schönheit die Reise in diesen Sommer. Ob ich könnte, was Maurizio da jeden Tag macht? 350 Boote werden er und Michele in diesem Frühjahr aus dem Wasser heben. Dann zwei Monate Pause. Im Herbst werden sie dieselben 350 Boote wieder aus dem Wasser heben. Und Zentimetergenau in die lange Winterhalle rangieren. Und nicht nur hier in der Marina San Giorgio di Nogaro. Sondern überall an dieser Küste, an der es zwischen Venedig im Westen und Triest im Osten geschätzt um die 10.000 Liegeplätze gibt. 



Wieviele Menschen es noch vor 100 Jahren brauchte, um ein 70-Tonnen-Schiff ins Wasser zu bringen? Heute? Ein Klacks. Wenn auch ein nervenaufreibender, für die beiden, die noch benötigt werden, das tun. Es ist Zentimeterarbeit, die Motoryacht langsam ihre blaue Nase aus der Halle stecken zu lassen. Maurizio lässt das blaue Teil nicht eine Sekunde aus den Augen, während es langsam auf vier knirrschenden Reifen dahinrollt. Michele steht am obersten Deck des Schiffes. Und passt auf, dass oben und hinten nichts hängenbleibt, wenn 30 Meter Motoryacht aus dem Hallentor rollen. Alles läuft nur über die Fernsteuerung, den kleinen gelben Kasten, den Maurizio vor seinem Bauch trägt. Die Hände, die vorher noch die Planke an die Bordwand drückten, schieben jetzt kleine Hebelchen. Und bewegen damit 70 Tonnen lackiertes Glasharz und Stahl.


Dann ist das Teil draußen aus der Halle. Und wird erst mal abgestellt. Wie die parkenden Autos drumherum. Zwei Elektroniker klettern nach oben, um den umgelegten Mast mit Radar und Kommunikation wieder aufzustellen und zum Laufen zu bringen. Michele kriecht derweil unter das Teil, um fünf Stahlböcke genau unter dem Kiel wieder in die richtige Position zu bringen. Zu gerne würde ich Michele und Maurizio fragen, was in ihnen vorgeht, wenn sie unter 70 Tonnen herumkriechen, die lose in acht Stoffgurten baumeln. Was jetzt passiert, wenn sie eine der Eisenstützen in die falsche Position bringen. An einer Yacht ist Reparatur immer gleich teuer. An einem Schmuckstück wie diesem? Unbezahlbar.


„Ich mach’ das seit 1977", erzählt Maurizio. "Damals fing ich in Bibione an, in der Werft. Ich hatte Techniker auf der Technikerschule gelernt. Und dann bin ich gleich in die Werft. Da bin ich dann geblieben. Am Kran.“




„Was seine Frau ihm heute Abend kocht?“ frage ich Maurizio. „Spezzatino con Patate al Forno“, grinst Maurizio und klatscht in die Hände, „Geschnetzteltes mit Ofenkartoffeln“. Und was bekommt sein Helfer Michele? Der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß es nicht. Wieder grinst Maurizio: „Sorpresa della moglie“ - 'Überraschung. Von der Ehefrau.' Wenn das kein Essen für Helden ist.

Vielleicht ist das die zweite Wahrheit: Wir sind nichts ohne einen Widerstand im Leben. Einen Widerstand, der uns etwas entgegensetzt, an dem wir uns spüren. Wir brauchen ihn, wie die Luft zum Atmen. Maurizio die 70 Tonnen. Ein Schreiner den Widerstand des Holzes. Ein Schmid den Widerstand des Eisens. Meine Lektorin den Widerstand der Worte. Ein Weltumsegler den Widerstand des Meeres. Ein US-Präsident den Widerstand der Welt.


Hoffen wir, dass die Sache mit dem Widerstand immer gut ausgeht. Bei Maurizio. Und auch beim US-Präsidenten.





Maurizio und Michele können Sie treffen. Ihnen bei ihrer täglichen Arbeit zusehen. Und darüber ins Staunen kommen. In der Marina San Giorgio di Nogaro südlich des gleichnamigen unscheinbaren Städtchens. Oder bei jedem anderen Kranführer im Hafen Ihres Vertrauens.


For this Article special thanks to:
Maurizio. Michele. CANTIERE MARINA SAN GIORGIO.
Peppo. Davide. E tutti gli altri.

1 Kommentar: