Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt.
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln.
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen.
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.
Es ist Mai in der Marina San Gorgio di Nogaro am Fluss Corno. Waren die letzten Nächte zuhause in Deutschland regenreich und kühl, so ist es hinter den Alpen warm geworden. Selbst jetzt, weit nach Mitternacht, bin ich ohne Jacke unterwegs durch den Hafen von San Giorgio, der im Licht des Vollmonds liegt. Auf der Jagd nach guten Fotos. Auf der Jagd nach guten Gedanken.
Das eine ist dabei so schwer wie das andere. Und doch: Seit ich nun ein paar wenige Stunden am Meer bin, am Wasser, ist alles federleicht. Und alle Schwere abgefallen. So, als wäre im Wasser in minimaler Dosierung ein Botenstoff enthalten, irgendein Pheromon, das aus dem Wasser aufsteigt, das ich in feinster Dosierung hier am Meer inhaliere. Und das mein Leben leicht macht, sobald ich auch nur ein Millionstel davon einatme. Wenn ich nur wüsste, was es wirklich ist, das hier am Meer alles leicht macht?
Ist es der Anblick des für einen Moment still daliegenden Gezeitenflusses, der nur für einen Wimpernschlag reglos verharrt in dieser Nacht, genau zwischen Ebbe und Flut? Ist es der Gesang einer Nachtigall, der vom anderen Ufer des Corno zum Hafen herüberdringt? Die sich wiederholenden Refrains, die kehligen Lieder eines winzigen Vogels, der so klein und unscheinbar auf Fotografien wirkt, dass ich mich jedes Mal wundere, woher er die Stimmkraft nimmt und singt, eine ganze Nacht lang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Ein Lied nach dem anderen.
Vom Westen die Wolken, in lockeren Haufen. Mal lassen sie den Mond hell über dem Hafen scheinen. Und dann ist alles auch gleich wieder abgedunkelt. Und der Mond ist hinter einer dichten Decke verschwunden. Ich schlendere durch den Hafen, bin müde, und kann mich trotzdem nicht entschließen, auf Levje endlich ins Bett zu kriechen. Die Nacht im Hafen unter dem Vollmond ist zu schön. Zu außergewöhnlich.
Warum kann es eigentlich nicht immer so sein?
Ja: Warum eigentlich nicht? Es ist Mitternacht - und keine andere Tageszeit ist besser dafür geschaffen, um darüber nachzudenken. Und ehrlich zu sein. Ehrlich zu sein wie zu seinem besten Freund. Ehrlich zu sein wie zu seinem Partner. Und: Ehrlich zu sein zu sich selber. Versuchen wir es also, wo der Vollmond jetzt gerade zwischen zwei schnell ziehenden Wolkenbänken leuchtet.
Vielleicht ist zweierlei dafür verantwortlich. Zum einen: Äußere Zwänge. Dinge, die von außen an uns herangetragen werden. Ein "Funktionieren müssen" im Beruf, ein "Funktionieren müssen" im Eingespanntsein in unsere Doppelt-, Drei- und Vierfachbelastungen und -funktionen im Leben, irgendwo auf der Landkarte zwischen "Wollen" und "Müssen". Wir sind eingespannt im Beruf. Im Haushalt, den wir zu führen haben. Wir sind Konsumenten, die ständig wie die Ameisen neue Dinge in ihren Bau tragen. Wir sind auch "Steuerbürger", so nannte mich ein Finanzbeamter einmal, in der dauernden Verwaltung unseres selbst. Und der über 10.000 Dinge, die ein Deutscher im Durchschnitt heute besitzt. Wo es doch vor 500 Jahren keine 10 Dinge waren, die ein durchschnittlicher Deutscher sein eigen nannte. Da gerät manches unter die Räder.
Aber noch wichtiger ist das zweite: Dass wir einfach oft verkennen, wer der einzige Mensch ist, der uns helfen in all diesen Belastungen Erleichterung bringen könnte. Der einzig, der wirklich "was ändern könnte". Nämlich wir selber. Wie oft deuten wir reflexartig auf irgendjemand, um ihm die Verantwortung zuzuschieben für unser Unglücklichsein? Ein Boss. Ein Kollege. Unser Partner. Ein fieses Gesicht aus der weltweiten Politik, das gerade Schlagzeilen macht. Es gibt täglich viele Angebot, wem wir die Schuld zuschieben könnten. Dabei sind jedes Mal wir der einzige Mensch, der tatsächlich etwas ändern könnte.
Ob die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir versuchen würden, UNS zu ändern, statt sinnlos auf unserer Umgebung herumzuhacken?
Ich weiß es nicht. Aber dass diese Nacht mit dem Vollmondnacht über dem Hafen von San Giorgio einmalig ist; dass ich sie missen würde, wenn ich nicht hierher aufgebrochen wäre, mich auf den Weg gemacht hätte: Das weiß ich ganz sicher.
So wandere ich dahin, zwischen den still daliegenden Booten. Ich höre immer noch die Nachtigall, als ich zurück bin, auf Levje. Ich höre sie solange, bis ich endlich eingeschlafen bin.
Wenn Ihnen dieser Post gefiel:
Liken Sie ihn - mit einem Klick hier drunter ins Kästchen bei "Tolle Geschichte". Ich freue mich!
Übrigens: Danke für Ihre vielen Likes zu meinem Post über
"Maurizio und das blaue Ungetüm". Circa 3.000 Leser haben ihn in drei Tagen gelesen.
Eben traf ich Maurizio, er strahlte übers ganze Gesicht, als er sagte:
"Tutti lo sanno!" "Alle habens gelesen - alle wissen es". Na denn...
_____________
Lust auf noch mehr Mitternachtsgedanken -
und wie es ist in der Nacht allein auf dem Meer?
In meinem Kinofilm:
Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt?
Was geschieht, wenn man sich einfach aufmacht und fünf Monate Segeln geht?
Darf man das? Und wie ändert sich das Leben?
Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen