Montag, 22. Mai 2017

1 Abend am Meer. 5 Fragen ans Leben. Und 1 mögliche Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben.





Sonntag Abend, Hafenmole Marano, Norditalien: Verlagsleiterin Susanne Guidera und ich brainstormen darüber, wie wir unseren gemeinsamen Verlag millemari. im nächsten Jahr ausrichten. Nicht, dass wir nicht viel auf die Beine gestellt hätten in den vergangenen zwei Jahren. 14 Bücher sind entstanden. 2 Kino-Filme. 1 DVD. Im Vorbeigehen mal eben 8-10 Kalender. Ich habe in den vergangenen drei Jahren drei Bücher geschrieben - das letzte, eben abgegeben, wird im Frühjahr 2018  bei PENGUIN als Spitzentitel erscheinen. 

Ein kleiner unabhängiger Verlag ist entstanden, der Bücher und Geschichten über Menschen am Meer verlegt. Über berühmte Weltumsegler. Über unbekannte Segler, die entweder ganz jung oder wie ich nach Jahren "im Geschirr" aus Lust am Neustart aufs Meer gegangen sind, um irgendwie eine andere Seite ihres Lebens und unseres Planeten zu entdecken. 

Man könnte sich eigentlich zurücklehnen. Und den lauen Abend am Meer in Marano genießen. Wenn man das könnte. Ich kann's aber nicht. Drum sitzen wir am Meer. Und brainstormen, wie es im Frühjahr 2018 weitergeht. Projekte werden gewälzt. Ideen werden gesponnen, während sich langsam die Nacht über die Fischkutter und die Pier vor der Hafenbar IL MOLO senkt. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder an den polnischen Segler denke, dessen propperes kleines Stahlschiff gestern noch an dieser Pier in den Wellen der Lagune leise schaukelte. Und den ich beneidete.

Drei ausgeheckte Projekte und eine Nacht auf LEVJE später erreicht mich morgens um sieben ein Mail meines besten Freundes Andal aus Berlin. Er ist noch voll im Geschirr, führt eine Firma. Aber seit 27 Jahren funktioniert unsere Freundschaft, weil wir uns gegenseitig mit Fragen bombardieren. Eigentlich kreisen wir mit unseren Fragen immer wieder wie in der Strömung eines reißenden Flusses treibende junge Hunde, die nach einem roten Ball schnappen. Der kleine rote Ball: Die Frage nach dem richtigen Leben.

Heute morgen um sieben ragen Andals Fragen vor mir so hoch auf wie der Bug der COSTA LUMINOSA über dem kleinen Japaner auf der Pier in Triest. Aber Freundschaft besteht auch aus richtigem Timing. Seine Fragen kommen mir, der ich mich wirklich wie der kleine Japaner mit dem Rucksack vor dem großen Bug des Lebens fühle, gerade recht. Deshalb, weil Andals Fragen sich ja mal wieder ums richtige Leben drehen, beantworte ich sie jetzt mal öffentlich. Denn schließlich drehen sich Andals Fragen ja auch darum, ob es sich gelohnt hat, nach 28 Jahren deutlich mehr Abende am Meer statt am Schreibtisch zu verbringen.

"Denkst Du, dass ein Fischer, der jeden Morgen losfährt, einer der glücklichsten Menschen ist?"

Ok. Ich werde einen Fischer suchen. Und ihn befragen. Ein Fischer weiß das sicher am besten.

Ansonsten: Du erinnerst Dich sicher an den Satz, mit dem Dein unvollendeter Roman begann? "Kluge Menschen leben dort, wo Ihre Sehnsüchte genährt werden." 
Deine Romanheldin damals zog es an den Schrottplatz, immerhin. Dein Satz ist wichtig. Sehr wichtig. Ich bin letzte Woche auf einem Bagerschiff auf dem Tagliamento mitgefahren, um den zwei Männern, die tagein, tagaus die Flüsse der Lagunen und die Kanäle Venedigs ausbaggern, eine ähnliche Frage zu stellen. Ob sie nie die Wärme eines geheizten Büros vermissen würden. Nein, sagten sie. Der wochenlange Nebel im Winter wär nervig. Aber der Sommer würde sie voll entschädigen. Da wollten sie mit keinem tauschen.


"Um wieviel Prozent ist auf's Meer losfahren besser als auf die Autobahn?"

90%. Ich habe irgendwann nachgerechnet und festgestellt, dass ich in meinen 28 Berufsjahren etwa 1,5 Millionen Dienstwagen-Kilometer zurückgelegt habe. Ich schäme mich still für meinen schauderhaften ökologischen Fussabdruck, der überwiegend dadurch entstand, dass mein Schreibtisch 67 Kilometer von meiner Behausung entfernt stand. 

Die zweite Erkenntnis: Irgendwo las ich mal, dass ein Mensch beim Fahren auf der Autobahn etwa demselben Stresspegel ausgesetzt ist wie ein Bomberpilot. Ich fürchte, die jüngeren, die kaum mehr Interesse am Besitz eines KFZ haben, haben instinktiv die Nachteile dessen begriffen, worunter wir noch Freiheit verstanden.

Die restlichen 10%? NOCH kommt man nicht ums Auto rum. Der Hafen in San Giorgio liegt 7 Kilometer außerhalb des Ortes. Ich hab noch kein Fahrrad auf der LEVJE. OHNE Auto gehts halt nicht. 


"Sollte man alle großen Einrichtungen abschaffen? Autobahnen? Frachter? Fähren? Shopping Center? Amazon? Gott?"

Ich finde nicht. Von uns beiden bist Du derjenige, der nachdrücklich daran glaubt, dass die Welt in den letzten 10, 20 Jahren eine bessere geworden ist.

Ich finde, am allerwenigsten sollte man Gott abschaffen. Die Menschheit hat dreieinhalb Jahrhunderte hingebastelt, um dessen Einfluss auf unser Leben zu verringern. Sie hats geschafft. Sich unabhängig gemacht. Leider bekommt uns das mittelmässig. Seit Gott bei den meisten aus dem Kopf ist, haben wir die Kacinskis und Orbans und Trumps und die Erdogans. Die gabs zwar immer. Es ist aber kein Zufall, dass sie gerade jetzt mehr werden. Ich habe den Eindruck, unser Wertesystem ändert sich gerade, und nicht zufällig, seit das Internet alle und jeden erreicht. Und alle alles sagen können. Das machen sich ein paar Leute zunutze. Da es ein übernational verbreitetes Phänomen ist, hat es irgendwie mit sich verändernden Werten zu tun.


"Ist mit Kielschaden in San Giorgio festsitzen nicht wie gefeuert werden?"

Also: Das ist gut! Naja, ist schon Frust dabei. Und ich merke, wie ich den polnischen Segler beneidete, der sein kleines Schiff genau hierher nach Marano an die Pier steuerte. Nein, weil ich finde, ich muss einfach jetzt was draus machen. Man muss einfach nur was tun. Es ist eine spannende Übung, etwas, das einen frustet, in etwas Positives zu drehen. Im Büro leidet man eher darunter, dass man den Dingen nicht entkommen kann. Aber hier? Mach ich halt einfach was anderes...


Danke, Anderle, für die Fragen. Und wenn ich jetzt noch die Nachteile meines freieren Daseins auflisten müsste:
- Selbständig sein ist nach Jahren fast drei Jahrzehnten "angestellt sein" ungewohnt. Das Geld ist eben nicht am 30. jeden Monats auf dem Konto. 
- Nicht mehr in der "Firma" sein, in einer Hierarchie oben, zwickt manchmal in der Seele. Ist aber gute Übung. Es zwingt dazu, den Gedanken der eigenen Unwichtigkeit zuzulassen.
- Das Finanzamt kommt in meinem Leben nicht mehr einmal im Jahr, sondern 12 x vor.

Trotz alldem: Wenn man die Freiheit liebt und irgendwie ständig was machen will: Sind mehr Nächte am Meer genau das Richtige.



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