Mittwoch, 30. September 2015

Unter Segeln: Nachts in der Mündung des Acheron.

Der Wind hatte aufgefrischt, als es Nacht wurde. Er war den ganzen Tag von vorn gekommen, seit ich die Drehbrücke von Santa Mavra auf Lefkas passiert hatte. Den Nachmittag über ein leichter Nordwest, gerade so, um dagegen anzumotoren auf dem Weg nach Paxi, der vergessenen Insel. Aber in der Abenddämmerung hatte er aufgedreht, nicht viel, aber genug, dass LEVJE sich in der Welle feststampfte. Sollte ich aufkreuzen? Dann käm ich in Paxi erst um Mitternacht an. Nein. Aber querab lag die Mündung des Acheron, mit halbem Wind bei schneller Fahrt in zwei Stunden zu erreichen. Also: neuer Kurs 80 Grad. Ruder gelegt. Genua ausgerollt. Und LEVJE schoß in der Abenddämmerung los. Was vorher stundenlange Qual unter Motor war, wurde jetzt Lust. Ein Dahinstürmen entlang der seitlich anrollenden Wellen. Ein ruhiges Dahingleiten durch lange Wellentäler und über Wellengipfel. Ein unbewegtes schnelles Dahinschnüren von dreieinhalb Tonnen Boot. LEVJE spielte ihr Halbwind-Spiel: Immer wenn von quer ein Wellenkamm heranrauschte und genau an LEVJE's Rumpf gischtend, spritzend brechen wollte, war sie einen Tick schneller. Ließ den Wellenkamm gerade eben hinter sich vorbeiziehen, wo er kraftlos brach, statt an die Bordwand zu klatschen. Das ging viele Male so, und ich liebe das Spiel.

Jetzt, im späten September, fällt die Nacht schnell. Während im frühen August der Felsen von Monemvasia noch stundenlang brauchte, um vom Dämmer ins Dunkel zu gehen, geht jetzt alles ganz schnell. Kaum dass die Sonne verschwunden ist, noch ein bisschen Abendrot. Und dann ist es: Nacht. Finsternis. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ich navigierte unter Segeln nur mit dem iPAD und NAVIONICS auf die Mündung des Acheron zu, zur Sicherheit ließ ich die Seekarte auf dem iPHONE mitlaufen. Rechts tauchten in der Dunkelheit Felsen auf, an denen sich die Wellen brachen. Links war noch alles frei. Die Tiefe sank rapide: 19 Meter, wo laut Seekarte 50 sein sollten. Zeit, die Segel zu bergen und LEVJE's rauschende Fahrt zu beenden.


Acheron. Ein paar Häuser in der Dunkelheit. Lichter. Der Mond, der sich hinter einer Wolkenbank versteckt und nicht recht hervor will. Das Donnern der brechenden Wellen auf den Klippen rechts von mir, da wo die Flußmündung sein müsste. Langsam tuckern wir in die Bucht. Zwei Yachten liegen da, wiegen mächtig im Schwell, beide. Ein Nachtvogel, der herüberschreit, melodisch vom Ufer. Das Rauschen der Brecher rechts von mir, unentwegt und mächtig. Links von mir ein langsames, rythmisches Aufrauschen. Ein Sandstrand also. Langsam, langsam tuckern wir hinein in die Bucht. Noch fünf Meter Tiefe zwischen den beiden Ankerliegern. Ich will weiter hinein, in die Dunkelheit. Es muss doch ein ruhiges Plätzchen geben in dieser Bucht, in der der Schwell offensichtlich keinem Ruhe lässt. Das Licht einer Taschenlampe auf LEVJE, von der Charteryacht herüber. Noch vier Meter Tiefe. Noch drei einhalb. Noch drei. Langsam, fast eine Minute lang lasse ich LEVJE in einem Kreis auslaufen. Langsam einen Kreis gedreht, langsam, um festzustellen, ob nicht doch eine Untiefe, ein Fels herausragt, irgendetwas, das LEVJE bei mehr Wind ernsthaft beschädigen könnte. Nein, nichts. Alles frei. Dann los. Polternd fällt LEVJE's Anker ins Dunkel, ich ziehe langsam rückwärts, von der hinter mir liegenden Yacht aus dem Dunkel kommt in deutschem Englisch der Ruf, ob ich seinen Anker sähe, als ich näherkomme. Und kurz Vollgas gebe, um festzustellen: ob LEVJE's Anker hält im Stockdunkel. Er hält. Motor aus. Fahrtlichter aus. Ankerlicht an. Acheron.


Der Mond, der endlich aus seinem Wolkenversteck hervorkriecht. Acheron. Glaubt man dem Mythos, dann ist es dieser Fluß, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt. Der Acheron oder auch Styx bildet den Übergang von der einen in die andere Welt, den Hades, in den nach Vorstellung der alten Griechen nach seinem Ableben ausnahmslos jeder kam, ohne Unterschied, ob arm, ob reich, ob gut, ob böse. Um dort weiter als scheuer Schatten zu existieren, Schatten unter Schatten im Reich der Toten, ohne Schmerz, und nur ein Schatten. Nicht eben die Hölle. Doch auch nicht das Paradies. Über den Acheron hinüber brachte einen Charon, der Fährmann. Und damit der seinen Dienst ordentlich versah, legte man den Toten eine Münze unter die Zunge, den Obolus, für den Fährmann...

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Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt? 
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Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.



Der Film entstand nach diesem Buch: 
Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen 
und die Kunst, wieder sehen zu lernen
Einmal München - Antalya, bitte. 

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... War man hinüber, über den Acheron, dann gab es keine Rückkehr aus dem Hades, dafür sorgte Kerberus, der der dreiköpfige Höllenhund. Er bewachte den Eingang, ließ keinen hinein und keine Seele heraus.

Nur einer hat es gewagt, als Lebender in die Unterwelt hinabzusteigen: Orpheus, der Sänger, dem Apollon eine Lyra schenkte. So schön war sein Gesang, dass er Feinde damit besiegen und das Meer besänftigen konnte. Und weil er so schön spielte, gewährte ihm auch Persephone, die Göttin der Unterwelt einen Wunsch, auf der Suche nach seiner verstorbenen Geliebten Eurydike im Totenreich. Er dürfe hinüber, über den Acheron und unter den Schatten nach ihr suchen. Aber wenn er sie gefunden hätte, dann müsse er vorausgehen und dürfe kein einziges Mal sich nach ihr umsehen. Sonst sei sie für immer verloren. Und Orpheus fuhr hinüber, mit Charon. Und fand Eurydike, zu seiner Freude.

Der Mond ist weiter aufgegangen, über dem Acheron. Die Straße, die er übers Meer auf LEVJE hin zeichnet, ist schwächer geworden, je höher er stieg. Die Brecher rauschen rechts in der Dunkelheit an die Felsen. Es ist Mitternacht geworden, in der Bucht des Acheron.



Was aus all dem wurde?

Orpheus, Eurydike?
Natürlich konnte der Sänger nicht wiederstehen und drehte sich um zu seiner Geliebten, als er ihre Schritte nicht mehr hörte. Und dann - verschwand sie. Und wurde wieder Schatten unter Schatten, für immer. 
Aber weil die Geschichte gar zu schön ist, entstanden zahllose Kunstwerke aus Orpheus' und Eurydikes' traurigem Schicksal. Mosaiken in der römischen Antike, die immer wieder den Sänger mit der Lyra zeigen, Literatur, aber vor allem unzählige Opern, darunter so unvergleichliche wie Monteverdi's ORFEO oder Christoph Willibald Gluck's ORFEO ED EURIDICE.

Der Hades?
Für den war schon in römischer Zeit kein Platz mehr auf der Welt. Er verschwand aus unserem Glauben. Himmel und Hölle, das Paradies nahmen seinen Platz ein. Aber wer weiß schon, was danach kommt. Wenn wir nicht mehr an Himmel und Hölle glauben.

Der Acheron?
Den gibt es immer noch. Er ist ein nettes Flüßchen und liegt an der Westküste Griechenlands zwischen Lefkas und Parga in einer wunderschönen Bucht mit langem Sandstrand und acht Liegestühlen darauf. Die Bucht des Acheron, in ihr liegt man unruhig , weil hier immer, immer der Schwell hineinsteht und die Boote schaukeln lässt. Und dafür sorgt, dass man intensiv träumt, des nachts bis in den frühen Morgen.










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