Donnerstag, 13. April 2023

Ostern: Nachts auf einem Boot mitten durch Venedig.





Meine Reise Nachts auf dem Boot durch Venedig beginnt nahe des Bahnhofs Santa Lucia





























Geht das überhaupt? Nachts auf einem Boot mitten durch Venedig?

Ja klar geht das. Es klappt zwar nicht mit dem eigenen Boot auf dem Canal Grande wie in den Fotos dieses Posts. Wer diese Tour unternehmen will quer durch Venedig, der steigt am besten in Santa Lucia, Venedigs Hauptbhanhof in den Vaporetto der Linie 2 mit Ziel Piazza San Marco. Nimmt hinten in dessen Heck auf einem der sechs Sitze unter freiem Himmel Platz, auch wenn diese Mitte April noch ganz schön zugig sind. Doch ich verspreche: Die Tour durch die Nacht auf dem Canal Grande lohnt sich! 












Und schon gehts los. Die Bodenplatten des kleinen Stahlschiffs vibrieren, als der Propeller irgendwo unter mir eine mächtige Welle im Heck aufwirbelt. Auf dem luftigen Freiluftsitz hört man jede Umdrehung der Welle, jedes Wühlen des Propellers im Wasser, wenn das Schiff von einem der gelb-grauen schwimmenden Bushäuschen ablegt und sich dem engen Wasserweg des Canal Grande durch die Häuserschluchten folgt. Der Abendhimmel schickt vom Westen sein letztes Leuchten aufs Wasser und auf die Fassaden. Reglos wie Gesichter sind sie dem vorübereilenden Betrachter zugewandt.

















Denn Häuser können wie Gesichter sein. Und wie sie ihren strengen Blick auf uns richten. So frage ich mich auch an diesem Abend: Bin ich der Betrachter der Gebäude? Oder betrachten sie mich aus tausend Augen? Reise ich hier wirklich an Gebäuden entlang? Oder durchstreife ich Gebäude für Gebäude die Erinnerung an mein Leben?

Selten ist ein Fenster erleuchtet. Manchmal erhasche ich im Vorbeifahren einen Blick auf einen festlich hellen Saal. Oder die erleuchtete Dienstboten-Etage im ersten Stock mit den kleineren Fenstern, bevor es hinaufgeht in die Gemächer der Herrschaft. 

Wer lebte hier? Viele der auf dem Wasser thronenden Gebäude entlang des Canal Grande wurden im Mittelalter errichtet. Repräsentative Kaufmannssitze waren sie oder Paläste von Adligen. Doch immer waren sie erhabene Bauten, denen bis heute nichts ihre Würde nehmen konnte. Nicht das Wasser, das ständig an den Grundmauern nagt, nicht die Verarmung von Teilen des venezianischen Adels nach dem verlorenen Candia-Krieg, nicht der Untergang der venezianischen Gesellschaft mit dem Erlöschen Venedigs als selbständiger Republik durch Napoleon.

Reglos starren sie den Betrachter an aus dunklen Augen. Doch ihre Schönheit nach tausend Jahren lässt nichts und niemanden kalt, gerade in der Nacht nicht. Und selbst die neuen Schönheiten, die sich zwischen den alten Fassaden am Canal auf haushohen Reklameplakaten zeigen mit einem hingehauchten 





















"j'adore", "ich bete dich an", kommen nicht im geringsten gegen Magie und Schönheit der alten Häuserfronten an, bleiben unbeachtet zurück hinter dem vorbeieilenden Vaporetto. Versinken irgendwo in der Schönheit der Häuserfronten, ihrer filigranen Säulenfassaden und deren zeitloser Eleganz vor der majestätischen Kulisse des Vorfrühlingshimmels,




während unser Gefährt weiter mit klirrenden Bodenplatten den engen Windungen des Canal folgt. Kälte steigt an diesem Ostersonntag vom Wasser auf, es hat vielleicht 10 Grad, vielleicht 12 Grad, aber was macht das schon. Wer in die Gesichter der Mitreisenden sieht, sieht etwas ungewöhnliches. Niemand auf dem Vaporetto starrt aufs Handy. Alle Blicke sind nach draußen gewandt, ein ungläubiges Staunen malt sich auf die Gesichter über die unfassbare Schönheit, huscht vom einen zum anderen statt genervter Langeweile. Selbst wenn die Wasserkälte in den Knochen steckt: Was macht das schon? Denn dies hier ist großartig, ist Teil unserer Geschichte.

Doch während das Schiffchen mit klirrenden Bodenplatten weiter in die Nacht brummt und emsig von einer schwankenden Haltestelle zur nächsten brummelt, stellen wir fest: Wir sind nicht allein auf dem Wasser. Ein neonblau getauchtes Rennboot schießt an uns vorbei. Die stummem Zeitzeugen am Ufer, sie sind nicht im mindestens verblüfft. Nichts, was sie in fünfhundert Jahren nicht schon gesehen hätten, nichts Menschliches, was ihnen fremd wäre.



Ein Gondoliere stakt im Dunkel unter der Rialto-Brücke nah an uns entlang. Seine Gondola, dieses bis zu elf  Meter lange Gefährt ist leer bis auf einen Schemen, keine Liebenden sitzen darin. Der Gondoliere treibt sein Gefährt mit dem einen Ruder aufrecht stehend an uns heran, als gäbe es das eisige Wasser um ihn herum nicht. Um mich herum gerinnt alles zu einem Film von Federico Fellini, der selbst im Verkehr des Großstadt-Molochs Rom noch Urweltwesen entdecken konnte und Autobahnen als ihre Bühne betrachtete. 















Da! Endlich einmal Menschen auf einem Balkon. Bewohner eines dieser Häuser vielleicht. Reglos sitzen sie da wie die Fronten ihrer Paläste und blicken hinaus aufs Wasser. Erstarrte Geister, die einmal im Jahr zurückkehren in den Palazzo ihrer Vorfahren.














Doch immer wieder fesseln mich Gebäude wie die Zwillinge hier, die oben in stiller Eintracht übers Wasser leuchten. Ein Rausch der Bögen, Säulen und halbrunden Formen, der niemand kalt lässt, den auf dem zugigen Vaporetto die Flusskälte in die Finger beisst. Schatten, die nicht ins Dunkel gleiten. Schönheit, die nicht schwindet.














Und selbst als wir den eingewandeten Kuppelbau der Santa Maria della Salute erreichen, unseren Blick losreißen von den majestätischen Freitreppen und im langsamen Vorübergleiten freien Blick auf die ringsum schwarzweiß bedruckte Fassadenhülle haben, scheint die zum Dank gegen die Pest errichtete Kirche auch das noch locker auszuhalten. Großflächig inszenierte Couture, die dem Gebäude nichts anhaben kann und fast als Nichtigkeiterscheint. 

Wenig später, kurz nach der verhüllten Santa Maria della Salute hat der Rausch ein Ende. San Marco ist erreicht. Venedig, das viel für seinen Over-Tourism gescholten wird, kennt viele stille Ecken. Doch  bei San Marco regiert der Trubel, hier kreuzen sich die Touristenströme, verwirbeln ineinander, ein Strudel aus Besuchern, der seinesgleichen sucht und durch den wir Mühe haben, unseren Weg zu bahnen, um unser Vaporetto heimwärts zu finden in der Kälte. Noch einmal brechen wir auf dem Boot in die Nacht auf. Aber nur eine Station von San Marco hinüber zur Klosterinsel San Giorgio Maggiore, wo in der dortigen Marina Levje liegt.

Nein. Venedig haut mich jedesmal wieder aus den Schuhen. Ich begreife diese Stadt und ihren Zauber, wenn ich mich ihm immer wieder von der See und nicht von seiner Landseite her nähere.























































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