Freitag, 2. August 2019

Von England nach Irland und Schottland (21): Von Islay nordwärts. Wie ein Fluss im Gebirge.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich über die irische See nach Dublin und weiter an die schottische Westküste, wo ich unterwegs zu den Hebriden bin.


Ein Samstag Nachmittag gegen 16 Uhr, irgendwo vor der schottischen Westküste. Zuhause wäre ich an einem Samstag wie diesem wahrscheinlich zum Sperrmüll gefahren. Wäre einkaufen gewesen, für ein nettes Abendessen zu zweit oder mit Freunden. Der Samstag wäre klar gewesen. 

Jetzt kann ich nicht einmal sagen, wo wir genau sind. Ich kann zwar meine Position auf Grad und Sekunde genau angeben oder in der Seekarte nachsehen, aber da lese ich nur Namen von Inseln, von denen ich noch nie gehört habe. Recht voraus liegt die Insel Seil. Die  Insel rechts heißt Luing. Links sind Scarba und Lunga. Südlich von Scarba sind kleine Wogen in die Seekarte eingezeichnet. Und fettgedruckt THE GREAT RACE. Das verstehe ich. Es ist eine Warnung, dass in dieser Durchfahrt starke Stromschnellen sind. Schottland pur, irgendwo dort, wo die Lowlands in die Highlands übergehen und aus Hügeln Berge werden.

Der Vormittag war turbulent. Nach dem Ablegen von der Whisky-Insel Islay, deren Namen vor ein paar Jahrzehnten auch noch keiner kannte, kam ein frischer Nordwest auf. Er schob uns mit 25, 30 Knoten entlang der Insel Jura nach Nordosten. Jura, wo George Orwell in einem einsamen Bauernhaus hier irgendwo im Norden der Insel sein Manuskript Nineteen Eighty Four schrieb, 1984.  Ein Sozialist, der im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und jetzt mit dem Überwachungsstaat, der daraus in Stalin-Russland entstanden war, rigoros abrechnete. Er war schon krank, als er im Norden von Jura kurz nach dem Krieg ankam. In der nur mit Torfbrocken heizbaren Bauernkate  von Barnhill auf Jura wurde er vollends krank, schrieb unentwegt weiter, bis man ihn in eine Klinik nach Glasgow einlieferte. Es dauerte über ein Jahr, bis er 1948 sein Manuskript an den  Verlag senden konnte. Aus dem Zahlendreher entstand der Welterfolg, aber den erlebte George Orwell nicht mehr. Barnhill und sein Haus muss man hier irgendwo oben an der Küste von Jura sehen.

Jura links. Die Isle of Anna rechts. Der Wind mal mit 15 Knoten, mal mit 35 Knoten. Im langen Sound of Jura fühlte sich Segeln wie ein launisch-stürmischer Herbsttag auf den heimatlichen Seen in Oberbayern.  Ich stand stundenlang am Steuer und vergaß die Welt und das, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte an diesem Samstag Vormittag: Abspülen, Schreiben, ein Rührei in die Pfanne hauen. Sogar dass ich einen Pullover anziehen wollte in der kalten Brise vergaß ich, ich stand in Hemd und Hose am Steuer, wenn Levje sich querlegte, und badete in den erfrischenden Böen des Nordwest. 


Jetzt am Nachmittag hat sich meine Welt auf drei Farben reduziert. Auf die stahlblaue Farbe des Meeres. Auf das satte Grün der Inseln. Auf das duftige Graurosa der Wolken, die keine 100 Meter über die Inseln zu schweben scheinen und es nicht schaffen, das zarte Blau des Himmels zu verdrängen.

Dann ist schlagartig der Wind weg. Die Segel flappen, doch statt des Windes ist plötzlich ein kräftiger Strom da. Nur aus der falschen Richtung. Wo wir eben noch mit 7 Knoten dahinglitten, setzt jetzt Strom. Erst mit 4, dann mit 5 Knoten in der Durchfahrt. Wo Jura endet und die Insel Scarba beginnt, wird die Durchfahrt enger. Die Gegenströmung setzt jetzt mit 5 Knoten aus Norden.

Die Oberfläche des Meeres hat sich verändert und sieht aus wie ein Spiegelei: Glänzend glatte Wölbungen wie Dotter, wo breite Wirbel aus 40 Meter Tiefe vom Meeresgrund heraufgedrückt werden. Und rund um die Dotteraugen gezackte Zipfelmützen und Schaumkronen auf dem Meer. "Wir bewegen uns wenigstens in der richtigen Richtung", sagt Sven, als er aufs GPS schaut, das gerade 1 Knoten Speed over Ground anzeigt, während die Logge 6,5 Knoten angibt. Man wird bescheiden, was das Vorwärtskommen bei diesen Bedingungen angeht. Bescheiden und demütig.

Dann zeigt das GPS plötzlich 0. Das Wasser rauscht mit 5,5 Knoten an Levje Bordwänden entlang. Wir stehen unter vollen Segeln bei 15 Knoten Wind im Strom. Und jetzt?

Sven gibt als erster klein bei. Er startet den Motor. Bei 1.800 Umdrehungen Marschfahrt zeigt das GPS endlich eine Reaktion: 1,2 Knoten. Das ist die Geschwindigkeit, mit der sich  mein Einkaufswagen samstags im Dorfladen selbständig macht. "Wenigstens bewegen wir uns in der richtigen Richtung."


Ein Leuchtturm kommt auf der winzigen Insel voraus in Sicht. Ein gedrungener weißer Turm mit Laterne, zwei Gebäude, eine Mauer, die aussieht, als umfasse sie einen Friedhof. Sonst nichts. Fladda heißt die Insel, das kommt wohl von den Wikingern und heißt "flache Insel". Tatsächlich ist Fladda nicht größer als ein Fußballfeld, und die Häuser auf der Insel scheinen in Privatbesitz. Wie man auf der winzigen Insel wohl lebt, wo das Meer kraftvoll dahinströmt wie ein Fluss im Gebirge, wenn der auch noch zweimal am Tag vehement die Richtung wechselt? Das einsame Leben dort, nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel, es kann einem ganz schön was abverlangen, denke ich mir, während ein Wirbel eine große gelbe Qualle an die Oberfläche spült und ich dem norwegischen Segler nachblicke, den die Strömung rasend schnell an uns vorbei nach Süden trägt.


Immer wieder bin ich fasziniert von der Landschaft, ihrer Leere, ihrer Weite. Manchmal ist sie nur leer und grau. Dann wieder liegt sie vor mir wie ein hautfaltiger Nacktmull in grün, der im Wasser vor sich hin döst. Wären nicht die drei, vier Segler, denen wir an diesem Tag begegnen und die Fähre, die zwischen dem Leuchtturm der Insel Lismore und der vorgelagerten Insel mit der rotweißen Bake durchgeht: Die Einsamkeit meines Nachmittags wäre vollkommen.


Aber wohin mit uns am Samstag Abend, für die Nacht? Den letzten Hafen Oban haben wir längst rechts liegen lassen, vor lauter Begeisterung. Die Buchten um Jura und die nördlichen Inseln sind "Mausefallen", man kommt nur mit der Flut in die Bucht hinein, bei Ebbe ist man eingesperrt und dazu verdammt, wie in einer Badewanne auf die nächste Flut zu warten. Weiter also, weiter bis fast die Sonne untergeht und wir den Loch Aline erreichen. Ein See, der sich hinter der Burgruine auftut und den man durch eine flache Durchfahrt erreicht. Langsam, ganz langsam steuere ich Levje durch die enge, flache Einfahrt, während Sven unten Pasta kocht. Ein idealer Ankergrund, der bombenfest hält, während eine Seerobben mir beim Ankern kurz zuschaut und sich dann gelangweilt im Wasser schneutzt. 

Was für ein Samstag.



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