Samstag, 9. Dezember 2017

Eine Dezember-Wanderung auf Sizilien.



Heute, am 8. Dezember, bin ich in Sciacca zu einer Wanderung vom Hafen hinauf in die Hügel hinter der Stadt aufgebrochen. Alles ist, wie es sein soll: In den Olivenhainen haben die Blumen einen weißen Teppich ausgelegt. Die Kakteen tragen Früchte. Der Hibiskus hängt schwer von roter Blütenpracht auf den Weg herunter. Die Bauern stehen auf Leitern in den Olivenbäumen und holen den letzten Rest der diesjährigen Ernte von den Bäumen. Laut reden sie, aus einem Baum hinüber in den anderen. Es sieht aus, als würden die Kronen der Oliven und nicht die Bauern miteinander sprechen. Aber letztlich macht das keinen Unterschied: Ich verstehe den Dialekt der Bauern so wenig wie das geheime Leben der Olivenbäume, vom Dialekt der Leute von Sciacca kommt bei mir nur ein gleich zweifach verschlüsseltes "Uglu fi Luuulu Lu" an, sie singen ihre Sprache statt sie zu sprechen. Und überdies scheint es streng verboten, die letzte Silbe ordentlich auszusprechen.

Als ich gegen Mittag am Hafen loslief, waren die Straßen ausgestorben. Nanu? Kein Auto. Kein Fußgänger. Kein kläffender Hund und keins dieser röhrenden Mopeds mit einem Jugendlichen drauf? Niemand. Nichts. Nur vor der TRATTORIA ITALIA von Nino am Hafen drängen sich Familien im

winterlichen Sonntagsstaat. Es hat zwar knapp über 20 Grad, als ich mit meinem Rucksack loslaufe, aber für Italiener ist Dezember nun mal Dezember, komme, was da mag. So wandere ich die steilen Gassen von Sciacca den Hügel hinauf in die menschenleere, reglose Altstadt oben. Alles leer, alles zu, wo sonst Leben ist. Erst oben vor dem Stadttor begegnet mir ein junger Mann, den ich fragen kann. "La Festa di Maria", sagt er trocken und schaut nur kurz vom Smartphone auf, "Tutto rosso." Was ich frei übersetze mit "Alles steht auf Rot": Kein Laden hat geöffnet, kein Bäcker. Und erst recht keine meiner Gelatterien. Und La Festa di Maria? Es ist das Fest Mariä Empfängnis -  nein, nicht das Fest, wo Maria den Jesus empfing, sondern deren Mutter Anna eben ihr Töchterchen Maria. Warum das zu ausgestorbenen Straßen in Totenstille führt? Ich weiß es nicht, nehme mir aber vor, es zu ergründen. Je mehr ich dies Italien zu kennen meine, umso rätselhafter ist es mir.



Wie so oft, wenn man im Ausland einfach in die Landschaft losspaziert, stellt einen das vor Probleme. Wer daheim gewohnt ist, dass man überall und überallhin laufen kann, kommt schnell an Grenzen. Nicht nur an eigene, sondern an die von allem, auch die des schier allwissenden GOOGLE. MAPS sagt, dass ich hinter der Porta di San Calogero einfach einen Feldweg nehmen könnte. Doch plötzlich stehe ich mutterseelenallein in matschigem Bauschutt vor einem Schild, auf dem mir die REGIONE DI SICILIA das Weitergehen untersagt. So kehre ich um, ich möchte mich am Festtag nicht mit einer ganzen Region rumstreiten, und laufe weiter durch reglose Vorstädte, deren einzige Regung ein Wehen des Vorhangs ist. Nicht mal ein Fernseher sendet wie sonst farbigen Krach in die Luft. Einfach. Alles. Still.

Dafür ist der Ausblick mit jedem Schritt erhabener, je höher ich komme. Und gewaltiger. Vor allem hinunter aufs Meer. Je höher ich komme, desto mehr regt sich das Leben. Ich sehe zwar immer noch keine Menschen, aber immerhin bellt vor jedem Haus, an dem ich vorbeikomme, ein Hund. Meistens


 sind es drei. Sie morsen sich in irgendeinem Hundealphabet die ganze Häuserreihe links und rechts zu, dass hier gleich einer entlangkommen wird, für den es sich lohnt, die Stimme zu erheben. Zwei wilde Straßenköter haben Mitleid mit mir. Und begleiten mich ein Stück die still daliegenden Windungen hinauf, zu meinem Ziel, dem Gipfel des Monte Kronio, der auch Monte di San Calogero heißt und zu den Öfen des Heiligen Calogero.

Monte Kronio? Die Öfen des Heiligen Calogero? Von der Kathedrale auf dem Gipfel, die man nach zweieinhalb Stunden erreicht, hat man einen fantastischen Blick, allein das ist schon die einsame Wanderung wert zu dem Ort, an dem der heilige Calogero, der "gute Alte", als Eremit, als byzantinischer Fremder unter Fremden lebte. Und bis zum gesegneten Alter von 95 Jahren Bekehrungsarbeit leistete. Er ist einer der meistverehrten Heiligen Siziliens, der hier lebte. Und mich 1.500 Jahre nach seinem Leben regelmäßig immer noch ins Schleudern bringt. Es wimmelt in Sciacca von Männern, die entweder Carmelo, Camillo oder Calogero heißen. Und meist bringe ich die Vornamen durcheinander.

Der Berg des heiligen Calogero hats zudem in sich: Steht man vor der Kathedrale und schaut von dort hinunter, dann



dampft und wabert es aus dem Inneren des Berges. Heißer Dampf quillt leise zischend aus unterirdischen Grotten auf dem fast 400 Meter hohen Gipfel ans Tageslicht, wo der Wind die Schwaden gleich mit sich fortträgt. Ich lese, dass dort, wo Calogero, der Eremit, einst lebte, eine Höhle tief hinein in den Berg führt. Es dauerte, bis sich nach einem Flickschuster im 17. Jahrhundert um 1955 herum erstmals wieder eine Expedition in die dampfende Grotte hineintraute. Sie drangen 40 Meter tief ein. Doch die Bedingungen dort unten waren ungut. 38° Temperatur und 100% Luftfeuchtigkeit sorgten dafür , dass niemand sich länger als 20-30 Minuten dort aufhalten kann - die Dauer eines ausgedehnten Saunaganges. Erst als sie Anfang der Sechziger mit schwerem Gerät in den Dampf vorrückten, entdeckten sie, dass dort drinnen im Dampf wohl schon lange vor ihnen Menschen unterwegs gewesen. Man fand griechische Pithoi. Große tönerne Vorratsbehälter dort drinnen, und wer weiß, ob es Furcht oder Gier oder Neugier waren, die Menschen samt waschmaschinengroßer Tonkrüge vor 2.000 Jahren in den feuchten Dampf getrieben hatten.

Es ist spät geworden, als ich gegen vier vom Monte Calogero zurück nach Sciacca aufbreche. Noch eine dreiviertel Stunde bleibt mir, bis die Sonne untergeht. Jetzt, wo sie tief steht, ist es tatsächlich Dezember - nun auch in Sizilien. Wo unter mir der Dampf aus dem Berg quillt, ist es frisch, und mir ist kalt. Mutig, wie ich nun einmal nicht bin, nehme ich einen Feldweg statt der Straße ins Tal, den mir GOOGLE MAPS vorschlägt. Ich stelle mich darauf ein, nach einer dreiviertel Stunde steilem Abstieg am Ende dieses Weges vor einer Steilwand oder einem Abladeplatz für Bauschutt zu stehen, die mich zur Umkehr in die Dunkelheit zwingen. Tatsächlich wird der Weg nach 20 Minuten schmaler und schmaler, bis er plötzlich in der hereinbrechenden Dämmerung zu einem ausgespülten Bachbett wird, durch das ich mehr klettere als laufe. Gedanken an "Wie steht man am besten eine Nacht ohne Ausrüstung bei 6 Grad Außentemperatur durch?" wehen durch mein Gehirn. Aber nach wenigen Minuten wird ein Weg durch Olivenhaine daraus, ich habe die Stadt wieder vor mir, während von Nordwesten Wolken aufziehen und die Sonne noch einmal durch die Wolken bricht.



Und während ich entlang einer Ausfallstraße weiter Richtung Sciacca wandere und langsam Richtung Zentrum gleich in der ersten Gelatteria am Busbahnhof kleben bleibe, die mir in der sizilischen Kälte nun so unwiderstehliche Eissorten wie Baccio, Cioccolato nero, Kinderbueno oder Ferrero Rocher anbietet, während ich mich also meinem Eis zuwende, entdecke ich: Wie Italien am Festtag Mariä Empfängnis - Gottseidank - doch wieder in die Normalität zurückgefunden hat. Lange Autoschlagen wälzen, drücken, drängen sich im Schrittempo durch die schmalen Gassen der Innenstadt. Hilflos eingekeilt ein Wagen der Polizia, deren Insassen über meine Eissorten rätseln. Über den Leuchtsternen schallen Frank Sinatra-Weihnachtssongs in den Winterhimmel, als wäre dies New Yorks Fifth Avenue.

Das Leben ist zurückgekehrt. Nach Sciacca. Halleluja.






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