Sonntag, 19. August 2018

La Rochelle: Die Türme. Die Tide. Wie plötzlich das Wasser unter Levje weg war.


Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich  
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste. 



Die Türme der Hafeneinfahrt in den Vieux Port von La Rochelle. Sie zieren jeden Prospekt von La Rochelle, sie stehen auf fast jeder touristischen Webseite. Ich hatte das Bild der beiden Türme im Kopf, als ich mich im Mai von Sizilien aus auf die Reise machte. Ich habe sie nicht vergessen. Ich wollte dorthin, wollte zwischen dem größeren Tour St. Nicolas und dem kleineren Tour de la Chaine hindurchfahren. Bilder lösen etwas aus. Bilder motivieren.

Nun war ich dort. Auch wenn ich die beiden kleineren Leuchttürme rechts daneben im ersten Moment übersah: Es war ein guter Moment. Zufrieden drehte ich meine Runde. Und kehrte dann eine Seemeile zurück, in den Port de Minimes, die eigentliche Marina von La Rochelle, der auch ein Steg im Vieux Port untersteht.



Der Port de Minimes, zu dem ich durch den Kanal im dichten Samstagsverkehr entlang der Spundwände motorte, wartet gleich mit mehreren Superlativen auf. Erstens ist er mit 3.600 Liegeplätzen wohl der größte der Freizeithafen nicht nur in Frankreich, sondern auch in Europa. Und zweitens steht La Rochelle mit fünf Metern Tidenhub auf meiner Liste ganz an der Spitze. War jahrelang mein Rekord in Venedig und den Lagunen von Grado bei 1,70 Meter, hatten mich seit Gibraltar eigentlich immer zwei Meter Tidenhub begleitet. Doch fünf Meter sind noch einmal etwas anderes, auch wenn Royan an der Gironde, der Hafen aus dem ich gekommen war, schon der erste Hafen gewesen war, in den man nicht mehr so mir-nichts, Dir-nichts einlaufen konnte, wie ich wollte. Sondern erst die Flut abwarten musste, über die vor dem Hafen liegenden Flachs drüberzukommen.

Doch mit der Tide macht man ständig neue Erfahrungen. Als ich am nächsten Morgen am Kanal entlang spazierte und dieselben beiden Motive noch einmal aufnahm, sahen Kanal, Betonwand und die Türme in der Ferne ganz anders aus:



Von der breiten Wasserfläche war nichts anderes übrig als das schmale Rinnsal, auf dem sich nur noch ein Schlauchboot bewegte. Auch die Türme ragten nun viel höher.

Fünf Meter Höhenunterschied machten sich auch auf meinem Steg bemerkbar. Gelangte man bei Flut zu Fuß fast eben über die Brücke auf die Pier, an der Levje vertäut lag, so sah dieselbe Landschaft sechs Stunden später ganz anders aus.

Vorher:

Nachher (vom gleichen Standort aus 6 Stunden später aufgenommen):


Die Brücke war plötzlich eine steile Rampe, die sichtlich Mühe kostete und dazu zwang, Anlauf zu nehmen, wenn man ein Fahrrad hinaufschieben wollte.

Doch meine Abenteuer mit der Tide waren damit noch keineswegs zu Ende. In der Nacht am Steg weckten mich ungewöhnliche Geräusche an Bord. Ein Knacken, das aus dem Salon kam. Dann Stille. Vielleicht hatte ich mich getäuscht? Dann war das Knacken wieder da. Ich stand auf, um nachzusehen. Da war nichts. Alles ok. Ich hob die Bodenbretter an. Alles trocken. Ich wollte schon wieder zurück ins Bett, als sich das Knacken ein drittes Mal meldete. Was war da bloss los? 
Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. Ob die Tide das war? Levje hat zwei Meter Tiefgang, den ich beim Check-In im Hafen auch angegeben hatte. 

Ich schaltete den Tiefenmesser an, sicherheitshalber. Er brauchte einen Moment. Dann erschienen drei Zahlen im Display: Die 1. Die 3. Die 0. 1,30 Meter??? Dann fehlen ja siebzig Zentimeter, wo Levje doch zwei Meter Tiefgang hat?!? Voller Grausen beugte ich mich über die Bordwand. Tatsächlich. Levjes Festmacher führten steil nach unten und hielten den kleinen Schwimmsteg nach oben. Das war doch nicht möglich?

Ich spurtete nach draußen, wie ich war. Levjes Bug ragte über dreißig Zentimeter aus dem Wasser in die Luft. Levje schwamm nicht mehr, sie stand im Wasser. Ihr Kiel hatte sich 70 Zentimeter, soweit er konnte, in den Schlick des Hafengrunds gebohrt. Nackt, wie ich war, rannte ich in der Dunkelheit unter dem Neumond zu den anderen Booten rings um mich, alles Segelyachten in Levjes Größenordnung. Mindestens zwei von ihnen ragten ebenfalls mit straff gespannten Festmachern aus dem Wasser. Hatten die Marineros mir den falschen Liegeplatz gegeben?

Als erstes taucht in einem solchen Moment reflexartig der Gedanke auf, einfach den Motor zu starten und aus dem Schlammassel rauszufahren. Blödsinn. Doch bemerkenswert, wie sich in so einer Situation Fluchtreflexe einstellen. Ich überlegte. Rief auf dem Smartphone den Tiedenkalender auf. Tatsächlich. Für 1 Uhr 26 war der Pegel tatsächlich auf Null. Nicht auf 1,20 Meter darüber wie sonst meist auch.


Des Rätsels Lösung: Der Mond war schuld. Genauer gesagt: Der Neumond. Neumond bedeutet, dass der Mond zwischen Sonne und Erde steht, was seine Anziehungskraft verstärkt genauso wie bei Vollmond, wo die Erde zwischen Sonne und Mond steht. Bei Vollmond und bei Neumond entsteht die Springtide - eine vom normalen Tidenhub stark abweichende Tide.

Da blieb nur eins. Einfach warten. Und hoffen, dass sich der Kiel nicht im Schlamm festsaugte und diesmal die Erde Levje festhielt. Ich wartete einfach. Das Knacken war nicht mehr zu hören. Das Wasser stieg wieder. Eine Stunde später war Levjes Bauch fast wieder im Wasser.

Die Tide: Ich hatte mir alle möglichen Gedanken gemacht. Aber auf den Mond zu achten: Das hatte ich nicht. 

Die Türme: Ich besuchte sie am nächsten Tag. Neben einem herrlichen Rundblick auf den Hafen und heranziehende Regenschauer kann man von ihnen vor allem eines tun: Einen Blick von oben herunter werfen. Auf die Tide.









5 Kommentare:

  1. Danke Thomas für den ëinfühlungsvollen Bericht über meinen Heimathafen und schade das wir uns nicht getroffen haben ! Weiterhin immer eine Handbreit ... kannst Du gut gebrauchen auf Deiner Weiterreise

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  2. Hallo Thomas, zur Tide vielleicht ein Tipp: Die Franzosen verwenden einen Koeffizienten, um einen schnellen Blick auf die Höhe der Tide zu gewährleisten. 120 ist Springtide, 20 ist Nipptide. Mittelwert ist demzufolge 70. Beispielhaft kannst Du diese Coeff in folgendem Dokument finden: http://medias.belle-ilev2.ingenie.fr/documents/documentation/documentation-VL18M-FR.pdf

    Ich wünsche Dir eine schöne weitere Reise
    Norman

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    1. Hallo Norman, herzlichen Dank für den wertvollen Tipp, ich werde ihn sicher anwenden. Ich kenne den Koeffizienten auch aus einem anderen Tidenrevier, dem einzigen im Mittelmeer, den Lagunen in der Nordadria. Dort ist mir im kleinen Stadthafen von Aquileia mal etwas ähnliches passiert. Das war aber kein offizieller Liegeplatz.
      In La Rochelle war ich schon erstaunt: Es ist ja die größte Marina Europas: Ich vermute, man hat dort bei der Vergabe des Liegeplatzes an mich und die Bootsnachbarn einen Fehler gemacht?! Jedenfalls war ich nicht darauf vorbereitet, genau in dieser Marina vorher den Tidenkalender am Liegeplatz zu kontrolloieren. Man lernt nie aus.

      Herzliche Grüße und Danke für den Tipp.
      Thomas

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    2. Hallo Thomas,

      Lass mich zum Thema „...vorher den Tidenkalender am Liegeplatz zu kontrollieren...“ noch eine kleine Anekdote hinzufügen.

      Vor zwei Jahren lag ich in einer bretonischen Marina am Visiteur-Ponton in der hintersten Ecke. Ich hatte vor, drei Nächte zu bleiben. Mein Tiefgang war mit 1,95 m wohl etwa vergleichbar mit Deinem. Da meine Berechnungen zur Wassertiefe mir ein wenig knapp erschienen, lotete ich etwa eine Stunde vor dem Nachmittags-Niedrigwasser mit dem Handlot die tatsächliche Wassertiefe. Meine weiteren Kalkulationen ergeben, dass ich zwar für die beiden kommenden Niedrigwasser sicher war, aber für die darauffolgende Nacht rechtzeitig auf einen anderen Platz verholen musste. Seitdem habe ich stets ein besonders wachsames Auge auf die Entwicklung der Koeffizienten auch an den folgenden Hafentagen und in Zweifelsfällen immer mein Handlot parat.

      Ich freue mich schon auf Deine Eindrücke von dem Revier.

      Norman

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  3. Ein toller Bericht, hätte auch jetzt Lust zwischen den zweit Türmen durchzufahren :-D Ich finde auch den Gedanken des Bildes schön, in Sizilien wegzufahren, um diees Türme zu erreichen. Koeffizient 20 ist aber ein Extremwert. Klingt wie ein Jackpot :-D

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