Mittwoch, 1. August 2018

Galiziens wilde Küsten. A Coruna. Der Strand. Und die Austern.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus unterwegs, 
um einhand für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas 
bis in die Bretagne zu segeln. 
Fast bis Ende Juli war ich in Portugal unterwegs, bevor ich Spaniens Nordküste erreichte.




Es ist der Zeitpunkt gekommen, mich heute zu outen mit einer finsteren Leidenschaft, die manchem meiner Leser übel aufstossen wird und die selbst meine liebe Frau, die geduldig Mucken wie mich und meine halbjährliche Abwesenheiten erträgt, verständnislos dreinschauen lässt. Ich esse gerne Austern.

Wie mit jeder Unart, tue ich das meistens heimlich. Und irgendwo. Wo mich niemand kennt. Es ist keineswegs so, dass ich mich dafür schämen würde. Austern sind in den Augen der meisten Menschen nun mal was anderes als Bratkartoffeln. Austern polarisieren. Sie lassen niemanden gleichgültig. Die einen lieben sie. Den anderen sind sie pures Luxus-Geschlabber, den dritten sind sie nur letzteres. Bei meiner Frau und meinen Freund Josef, beide sonst Freunde guter Lebensart, sind Austern nach jeweils heftigen Salmonellen-Vergiftungen vor vier Jahrzehnten der blanke Schrecken. Also tue ich, was ich tue, meistens heimlich. Und esse halt Austern, wenn gerade niemand dabei ist. Eigentlich esse ich Austern nur, weil ich dabei an einen Menschen und seine Geschichte denken will, so wie jedem von uns bei einem bestimmten Gericht ein ganz bestimmter Mensch und eine Begebenheit dazu einfällt. Meine Geschichte von dem Mann mit dem Austern trage ich seit Jahren mit mir herum. Doch eine gute Geschichte will erzählt werden. Also heute: Austern. In Coruna.


Auf meinen Wanderungen zum Torre de Hercules, der am anderen Ende der Stadt liegt und über den ich gestern schrieb, lernte ich Coruna kennen. Ich stolperte in die schönsten Ecken der Stadt: Von den weißen Erkern und Veranden der Häuser rund um die Marina, denen man in Coruna wieder und wieder begegnet, bis zum Sandstrand auf dem Foto ganz oben, der sich einsam und doch wie ein Kleinod unmittelbar vor der Stadt erstreckt. Denn welche Großstadt - Coruna hat immerhin eine Viertelmillion Einwohner - kann schon von sich behaupten, sie hätte unmittelbar am Stadtzentrum einen derart prächtigen und Sandstrand wie die Playa de Riazor - die noch dazu an der Stelle liegt, die das alte Coruna auf seiner Insel über Jahrhunderte mit dem Festland verband.



Und dann entzückten mich noch manch andere Gebäude in Coruna, über deren Äußeres man streiten mag, aber deren Baukörper so harmonisch in die Rundung über der Bucht gesetzt war, dass es eine Freude war. Wenige Schritte von dem Gebäude oben liegt in einem abgelegenen Winkel, fast zwischen Mietskasernen und Feuerwehrhaus, eines der besten Fischrestaurants Corunas, die A PEIXARIA . Sie sah einfach aus von außen, und wie ein Ort, an den man seine Gäste schon mit besonderer Küche und nicht mal eben mit simplem Meerblick überzeugen und bei der Stange halten musste. Weils drinnen laut war, nahm ich draußen Platz, saß allein, neben mir nur ein paar jugendliche Schlemmer, die ihre wenigen Kröten für ein gutes Abendessen zu dritt mit Freunden zusammengekratzt hatten.

Auf der Speisekarte: 15 Fischgerichte. 5 Vorspeisen. Austern darunter. Ich überlegte. Erwog den Wochentag, denn Montags würde ich keinen Fisch essen, weil die Fischer ja zum Wochenende nie auf dem Meer wären und es eigentlich erst frühestens ab Dienstag fangfrischen Fisch gäbe. Erwog die alte Regel mit den Monaten ohne "r", in denen man keine Muscheln essen sollte. Aber mein Münchner Fisch- und Muschelhändler, der - was Austern angeht - meine finstere Leidenschaft teilt, hatte diese Regel längst auf den Sperrmüll antiquierter Meinungen geworfen, weil sie aus Zeiten stammen würde, in denen Kühlung und Transportwege längst noch nicht so kontrolliert und  organisiert waren wie heute. Nach Hin und Her im Kopf wagte ich mich an meine Bestellung. Als Vorspeise: Zwei Austern. Ein leichter Weißwein dazu. Hurra.


Was dann kam, verblüffte mich. Nicht nur, dass die Muscheln für den Sommer ungewöhnlich fett waren und nicht mager, weil Muscheln wie Menschen in der Hitze eben nicht viel zu sich nehmen mögen, nein: Sie stammten auch hier aus der Gegend, ein paar Kilometer nördlich von Coruna. Und waren in einer leichten Vinaigrette mit einer Kugel Vanilleeis angerichtet, das leicht in der kalten Austernschale schmolz. Ich machte mich etwas zögerlich an die Arbeit. Vanilleeis mit Auster in Vinaigrette? Aber der Geschmack war der Hammer. Der intensive Geschmack des kalten Meeres, den die Auster in sich trug, mit der zarten salzigen Säure der Vinaigrette und der schmelzenden Vanillesüße der Eiskugel hinterher. Das war ein ungeahntes Erlebnis.

Jetzt ging alles ganz schnell: Die zweite Auster war schneller vom Teller, als mir lieb war. Ich winkte dem Kellner, es war mir etwas unangenehm, ob er mit dem Hauptgang noch warten könne. Ich würde noch gerne von den Austern nehmen...

Ich dachte dabei an Claude Lanzmann, den vor wenigen Wochen verstorbenen Regisseur des legendären Films SHOA, voller Respekt. Und einem seiner Austern-Gelage, bei dem er und seine zwei Mitstreiter an einem Abend 60 Austern verspeist hatten. Und ich dachte an den Mann aus dem Dorf in Oberbayern, in dem ich aufgewachsen war, und wegen dem ich eigentlich überhaupt hier saß. Und Austern aß.

Er war Landarzt gewesen, in meinem Dorf. Und "Jahrgang '20". Grob. Schroff. Doch hinter der Grobheit seines kantigen Äußeren eine ungeheure Menge Empathie verborgen, als wolle sie geschützt sein wie ein Neugeborenes. Aber das sagte mir damals noch nichts, als ich zum ersten Mal mit 14 in der kleinen Praxis am Bahnhof mit einem Dorn in der Ferse saß. Er beugte seinen kahlen Schädel in dem zu eng sitzenden Arztkittel über meine Ferse und besah sich die Sache. Griff nach hinten, wo in einer Petrischale ein Skalpell wartete. "Wollen Sie die Stelle nicht vorher betäuben?" fragte meine Mutter, deren Griff an meiner Schulter schlagartig fest wurde. Der Kahlkopf blickte kurz auf. "Aah baaaah", hörte ich ihn sagen. Und dann stach auch schon das Skalpell blitzschnell in meine schmerzende Ferse, ehe ich überhaupt wusste, was er da tat. Ich machte einen Satz Richtung Decke, vor plötzlichem Schmerz, vor Überraschung, zum Umfallen bleich und doch zu bleich, um wütend zu sein, was der Doktor da mit mir machte.

Doch die grobe Kur des Doktors zeigte Wirkung. Sie war die Richtige gewesen. Zwei Tage später konnte ich wieder normal laufen - der Dorn war rausgespült, alles war gut. Ich dachte an den Doktor mit gemischten Gefühlen. Er hatte gewusst, was er da tat, kein Zweifel. Und hatte mir geholfen. Aber ob ich das so noch mal brauchte?

Jahre später. Ich war längst aus dem Dorf, das eine Kleinstadt geworden war, weggezogen. Da erzählte mir meine Mutter vom Doktor. Dass er vielen auf seine einfache, kantige Art geholfen hatte und nur bei einer Sorte Patienten wirklich grob wurde: Wenn sie weinerlich waren. Dass er selbst an Leukämie erkrankt war und die Krankheit ihn innerhalb eines Viertel Jahres dahingerafft hatte. Aber noch ans Krankenbett, noch in der Krankheit, in der ihm niemand helfen konnte, hatte er sich von seiner Frau erbeten, ihm einmal wöchentlich ein, zwei frische Austern zu bringen, die er so sehr liebte. Der Geruch des kalten Meeres...

Aber damit endet die Geschichte vom Doktor und den Austern noch nicht. "Jahrgang '20". Er war, wie mein Schwiegervater, 1920 geboren. Einer von denen wie mein Schwiegervater, die als  Medizinstudenten im 3. Semester sich plötzlich an irgendeiner Front in einem Zelt wiederfanden, um sich über die zerschossenen und zerfetzten Leiber Gleichaltriger zu beugen und sie irgendwie wieder zusammenzuflicken. Um ihnen zu helfen. Mit wenig mehr zur Hand als einem Skalpell und Nadel und Faden. Einer von denen, die lebenslang die Frage mit sich herumtrugen, warum ausgerechnet sie als einer von drei des Jahrgangs '20 das Gemetzel überlebt hatten. Und die anderen zwei nicht.

Zum "Jahrgang '20" gehörte es, niemals über diese Frage zu sprechen. Und niemals über das Grauen, das ihre Augen gesehen hatten. Und es doch niemals zu vergessen. Der Doktor, der in der Gemeinde ein geachteter Mann war, hatte vor seinem Tod zum Kopfschütteln aller verfügt, dass er nicht in einem Sarg bestattet werden wollte. Sondern in einer einfachen Kiste aus Birkenbrettern. So wie diejenigen, so sagte er es, denen er nicht hatte helfen können, die man einfach verscharrt hatte, irgendwo.


Durch die anbrechende Dunkelheit schlenderte ich zurück in den Hafen von Coruna. Ich denke gelegentlich an den Doktor. Vielleicht esse ich ja auch die Austern nur, damit ich ihn nicht vergesse. Es gibt schlechtere Gründe, Austern zu essen, als die Erinnerung an einen Menschen zu bewahren. Ich weiß, ich werde auf meiner Reise in die Bretagne sicher noch öfter Austern essen. Und an den Doktor denken. Und seine Geschichte.














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