Donnerstag, 30. August 2018

Saint Nazaire. Im Bunker.


Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich  
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste 
und Saint Nazaire an der Mündung der Loire. 


Es ist Sonntag. Am Himmel über der Loire-Mündung zischen Jagdflugzeuge der französischen Luftwaffe im Tiefflug, steigen graziös in die Senkrechte und malen als Rauchfahnen das "Bleu, Blanc, Rouge" der französischen Trikolore in den Himmel. Bis sie Verschwunden sind im unermeßlichen Blau. 50.000 Zuschauer säumen die Strände in der Bucht von Pornichet, wo ich mit Levje ankere. "Plein Vol" heißt das Spektakel über dem Grande Plage, die Luftwaffe bietet ein Amüsement für die ganze Familie, es beginnt am späten Nachmittag und endet kurz vor 22.00 Uhr.

Schon am frühen Morgen sind die Straßen gesperrt, Pornichet ist dicht. Männer in schwarzen Uniformen mit Maschinenpistolen bewachen jede Kreuzung. In den Hafen kommt niemand mehr rein und auch nicht raus. Die Anschläge von Paris und Nizza haben in Frankreich ihre Spuren hinterlassen.

Ich gehe schnellen Schrittes Richtung Bahnhof. Ich möchte nach Saint Nazaire zu den U-boot-Bunkern des II. Weltkriegs, mein Großvater war hier im Krieg, er hat vermutlich als einfacher Maurer an dem Bauwerk mitgearbeitet, ich möchte sehen, was er sah. Aber erstmal geht der Bus nicht. Ich lege die Strecke zum Bahnhof von Pornichet im Laufschritt zurück, für den TGV darf ich kein Ticket lösen, weil er ausverkauft ist. Ich steige dann doch ein, als ein freundlicher Kontrolleur mich trotzdem reinwinkt.

Saint Nazaire ist an diesem Sonntag wie ausgestorben. Ob französische Städte an Sonntag Vormittagen so sind? Oder fuhren die Einwohner Saint Nazaires nach Pornichet zum "Flieger kucken"? Ich irre durch die Stadt, kein Mensch weit und breit, am Hafen ein Dolmen, mit Graffiti beschmiert. 

Als ich aus der Rue des Dolmen komme, liegt der Bunker vor mir am Meer. Alt und grau und böse, wie ein an diesem Ort verendetes Reptil, das es nicht mehr geschafft hat zurück ins Meer und wenige Meter davor einfach liegenblieb. Monströs.

Und monströs ist das Gebäude allemal. Über drei Fußballfelder lang und eines breit. Kirchturmhoch. Um ihn zu bauen, wurden fast 500.000 Kubikmeter Beton an Ort und Stelle gerührt und vergossen. Fast 26 Millionen prall gefüllte Mörteleimer in die gigantischen Holzschalungen gekippt. Zeitweise arbeiteten bis zu 4.000 Arbeiter an dem Bau, erzählt Sebastien: Angehörige der Organisation Todt, wie mein Großvater, ein einfacher Maurer, die im Frieden erst Autobahnen und dann im Krieg Bunker bauten. Zwangsarbeiter aus Spanien und Frankreich, Häftlinge aus den Internierungslagern. Franzosen, die als Freiwillige auf der Baustelle mitarbeiteten. Sie arbeiteten rund um die Uhr in zwei 12-Stunden-Schichten, von 7 bis 7. Der Bunker wurde in nicht einmal 18 Monaten fertig. Er wurde gebaut, um den Tod aufs Meer zu bringen. Um U-Boote zu warten, zu reparieren. Und um sie auszurüsten, bevor sie hinausfuhren, um britische und amerikanische Schiffe zu versenken.

Ich schließe mich einer Führung durch das Gebäude an. Unser Guide heißt Sebastien, er ist Ende 20, ein blonder Mann, offenes Gesicht und leises Lächeln, er könnte Norweger sein, doch er spricht jenes wunderschöne bilderreiche Französisch, das lässt keine Zweifel aufkommen. 


Sebastien erzählt. Von "Les Allemands". Von der riesigen Baustelle gleich nach der Besetzung Frankreichs. Wo denn die Arbeiter alle geschlafen hätten? Wo konnte man denn in so kurzer Zeit so viele Menschen unterbringen? Doch Sebastien ist sich da nicht so sicher. Auf der Baustelle. Und sicher auch in Privatquartieren. Ich stelle mir meinen Großvater vor. Ein einfacher Mann aus dem Schwäbischen, den sie im Dorf den "Urle" nannten, weil er Ulrich hieß. Ich weiß nicht, wie er in die Organisation Todt geraten war, ich nehme an, als Maurer war er anstelle des Wehrdienstes als Fachkraft dienstverpflichtet worden. Es passte zu ihm, eher in etwas hineinzugeraten, er war im Leben kein Aktivist. Im Dorf war er bekannt, weil er nur 50 Schritte vom Bahnhof entfernt wohnte und trotzdem Sommer wie Winter eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig stand, aus Sorge, ihn zu versäumen. Ich nehme mir vor, seine Geschichte zu recherchieren.

Sebastien erzählt weiter. Von "Les Ü-Botts". Von "Les Torpilles", den Torpedos, die wie die gesamte Ausrüstung mit Güterzügen direkt in die Halle und an die Piers mit den U-Booten herangekarrt wurden. Eine perfekte Maschinerie, in der alles untergebracht war. Von der Brotbäckerei für die U-Bootbesatzungen bis zur Krankenabteilung zur Erstversorgung Verwundeter über Lager mit allem, was man zur Wartung von Schiffen brauchte.  


Sebastien schwankt, wenn er vom Bunker als technischem Objekt erzählt. Er kommt nicht umhin, von dem Gigantismus der Maschinerie und der Monstrosität des Gebäudes fasziniert zu sein. Und steckt auch seine Zuhörer an. Die dreieinhalb Meter dicken Stahlbetondecken seien so stark gewesen, dass alliierte Bombardements ihnen nichts anhaben konnten. Selbst als mit Kriegseintritt der USA Material in ungeahnten Mengen und Größen zur Verfügung stand und Bomben vom Gewicht und Größe eines LKWs auf das Dach geworfen wurden, konnten die dem Gebäude nichts anhaben. Dauerbombardements machten dem Bunker selbst nichts aus. Er war sicher - die Stadt und ihre Zivilbevölkerung zahlten den Preis, sie gingen im alliierten Bombenhagel unter - genauso wie in Brest, in La Rochelle, in Lorient, in Royan. In fast jedem der Orte, die ich besucht hatte, las ich diese Geschichte.  


Die alten Poller, an denen die U-Boote vertäut waren, rosten im Beton vor sich. Als die U-Boote, die rausfuhren, nicht mehr zurückkamen, weil sie draussen versenkt wurden, als sich das Blatt wendete mit der Landung der Alliierten, wurde der Bunker von der Werft zur Festung. Er war eine Kleinstadt, in der die Besatzer geschützt waren - bis zur Kapitulation, während die Zivilbevölkerung weiter unter den Angriffen litt, wenn sie aus der belagerten Stadt nicht rechtzeitig entkommen war. 


Ob denn wahr wäre, dass die Resistance dafür gesorgt hätte, das Bauwerk zu schwächen, indem man beim Bau ungeeignetes Material dem Zement hinzugefügt hätte, möchte ein älterer Herr wissen. Davon sei ihm nichts bekannt, antwortet Sebastien höflich. Er spricht meist von "Les Allemands", den Deutschen, die das beim Bau so oder so gemacht hätten. Tatsächlich komme ich angesichts von 500.000 Kubikmetern Beton und den zahllos in den Beton gelegten daumendicken Stahlarmierungen ins Grübeln, ob denn "Les Allemands" das tatsächlich alles aus Deutschland herangekarrt und hier verbaut haben. In einem früheren Hafen in Royan las ich in einem französischen Buch, dass an den 8.119 Bunkern des Atlantikwalls über 3.000 französische Firmen mitgearbeitet hätten. Ob das stimmt? Allenthalben findet man Dokus über "La Resistance". Die Jahrzehnte nach dem Krieg sprach man in Frankreich ebensowenig über die eigene Beteiligung am Krieg wie in Deutschland. In Frankreich bestimmte das Bild von "La Libération", mit der ein vom Besatzern unterdrücktes Gemeinwesen "befreit" wurde, die Sicht. Und für die, die "Kollaborierten", stehen Leute, die man unmittelbar nach dem Krieg dafür erschoss, öffentlich demütigte oder gerichtlich aburteilte. Erledigt also. Doch wie tief die Gesellschaft gespalten war, dass es einen Riss in der Gesellschaft gegeben hatte zwischen denen, die ablehnten, was geschah und denen die Partei ergriffen oder gar das Feuer geschürt hatten, der ist wenig beleuchtet. Dabei ist es gerade dieser Riss, der jetzt 70 Jahre nach dem Grauen, wieder dabei ist, Gesellschaften in Europa zu spalten.


Die 75 Jahre alten deutschen Inschriften verblassen. Hier und dort ein Kürzel, "3. U-Fl." für die 3. U-Boot-Flottilie, für die das Gebäude errichtet worden war und die keine 3 Jahre hier beheimatet war. Sebastien erzählt, wie das mit dem Bunker weiterging. Daß man nach dem Krieg versuchte, das Gebäude zu sprengen. Doch das funktionierte nicht - wie die Bomben vorher versagte nun der Sprengstoff. Oder er hätte die Stadt im Wiederaufbau in Mitleidenschaft gezogen. Man wusste nicht, was man mit den Monstern, die in Brest, in La Rochelle, in Lorient und Saint Nazaire herumstanden, anfangen sollte. Es für die eigenen U-Boote nutzen? Es als Werft, als Lager, als Fabrik einsetzen? Von allem etwas. Doch die Hauptfrage war: Welche Rolle sollte denn nach dem Wiederaufbau der Stadt das Trumm mitten im Stadtzentrum spielen? Saint Nazaire entschied sich in den 90igern für eine eigenwillige Lösung: Der Bunker war nun mal Bestandteil der Stadt und ihrer Geschichte. Er sollte jetzt auch sichtbar ins neue städtebauliche Konzept integriert werden. Als Ort von gleich drei Museen. Als Ausstellungsfläche. Als Kunstobjekt und Heimat für Cafes und Bistros und Events.



Ein guter Ansatz. Die Museen sind entstanden. Und zeigen Saint Nazaire in bestem Licht. Der Flughafen Berlin Tempelhof hat der Stadt symbolisch einen ausgedienten Radar-Dom geschenkt. "Le Radom" steht heute auf dem Dach des Bunkers und ist Tempel für moderne Kunst.

Doch der Versuch der Integration ins Stadtbild ist schwierig. Saint Nazaire ist an diesem Sonntag im August wie ausgestorben. Auch der Bunker liegt verlassen, bis auf die Spaziergänger, die die herrliche Aussicht übers Meer vom Dach genießen - und das kleine Häuflein, das sich um den blonden jungen Mann mit Namen Sebastien schart. Es ist nun mal nicht so einfach, "alt und grau und böse" ins Bild einer Stadt zu integrieren.

Noch schwerer ist es, es die Dinge ins Gedächtnis zu integrieren, wie sie waren. Als Franzose. Aber vor allem als Deutscher.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen