Samstag, 11. Juli 2015

Heute in Griechenland (6): Emmanouela, 32, Sozialarbeiterin in AgiosNikolaos.

Vor Wochen bin ich auf LEVJE von der Türkei aufgebrochen und über Marmaris, Rhodos nach Kreta gesegelt. Überrascht von den Ereignissen in Griechenland am vergangenen Sonntag bin ich aus Deutschland gestern zurückgekehrt zu meinem Schiff LEVJE im Hafen von Agios Nikolaos, um von hier zu berichten.

                                                                             Weiterlesen bei: Heute in Griechenland, Teil 1. Hier.


Das ist Emmanouela Giannikaki. Sie ist geboren 1983 in Rethymno auf Kreta. "Eigentlich wusste ich schon mit 18, was ich machen will: Ich wusste: ich will anderen Menschen helfen". Und deshalb belegte sie an der Universität das Studienfach "Sozialarbeit", das sie auch mit Diplom abschloss. Danach ging sie zurück in ihre Heimat, nach Kreta und begann 2008 hier zu arbeiten.

MARE PIU: Wie war das denn 2008? Sie waren 25 Jahre alt, kamen frisch von der Uni - war das leicht, einen Job zu finden?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Naja. 2008 war das nicht ganz so leicht. Ich musste mich schon etwas anstrengen. Aber ab 2010 ging das dann ganz leicht.

MARE PIU: Was war denn in 2010 anders?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Bis 2010 ging in Griechenland eigentlich alles gut. Aber 2010 unter Papandreu: da war sie plötzlich da, die Krise. Und jeder, aber auch wirklich jeder wollte plötzlich einen Sozialarbeiter. Sozialarbeiter waren plötzlich gesucht.

MARE PIU: Sie bekamen dann in 2010 eine Festanstellung hier bei OKYDAN?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Der Grund für den plötzlichen Bedarf an Sozialarbeitern war, dass die Regierung in der Krise ein Gesetz verabschiedet hatte, dass jede Kommune in Griechenland soziale Arbeit zu leisten habe und das auch selbst organisieren müsse. Also haben sich hier auf kommunaler Ebene ein paar Verantwortliche zusammengetan und haben OKYDAN als gemeinnützige Orgnaisation  gegründet. Dessen Vorstand wird gewählt, in unserem Fall hier in Agios Nikolaos ist das der Klinikchef Dr. Mouthazakis. In jeder größeren griechischen Kommune gibt es diese Organisationen, sie heißen aber überall anders.

MARE PIU: Haben Sie denn Kontakt zu anderen Organisationen? Zum Beispiel nach Athen oder Thessaloniki?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Haben wir leider nicht. Das ist alles sehr dezentral und spielt auf kommunaler Ebene. Das System ist aber überall dasselbe.

MARE PIU: Es war bestimmt nicht einfach, das aufzubauen?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Im Gegenteil. Agios Nikolaos war 2010 schon relativ weit, es gab hier schon sehr viel: 2009 hatte mir ein Einwohner erzählt, dass er Altkleider gesammelt habe und nicht wisse: wohin damit. Wir haben dann einen Shop aufgebaut unter dem Namen MAGAZI und dort begonnen, Kleidungsstücke für Bedürftige für 1 EURO abzugeben. Von den Einnahmen kauften wir Lebensmittel, die wir an Notleidende kostenlos verteilten. Das funktioniert bis heute. Wir verfügen hier einen Vorrat an Kleidung und Lebensmitteln, aus dem OKYDAN regelmäßig verteilt.


MARE PIU: Gibt es Menschen, die hungern oder betteln gehen müssen?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Das muss man differenziert sehen. Wirklich arme Menschen, die betteln gehen müssten, die haben wir in Agios Nikolaos nicht. Es ist ja auch so, dass jeder hier etwas anbaut: Tomaten, Gurken, Bohnen, irgendetwas. Die Grundversorgung ist dadurch schon mal sichergestellt, über den Sommer. Im Winter müssen wir dann schon öfter einspringen. Wer nichts anbaut, wer nichts hat: dem helfen oft Nachbarn oder Angehörige. Es war ja in 2010, als wir begannen, so: dass eigentlich nur Ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen von uns Nahrungsmittel bezogen. Jetzt ist die Situation eine ganz andere: Sehr viele Familien benötigen plötzlich Lebensmittel von uns.


MARE PIU: Wir sitzen hier im 4. Stock bei OKYDAN. Darf ich neugierig sein: Was ist in den Ordnern im Bücherregal hinter Ihnen?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Jeder Ordner ist eine Familie, eine Person aus Agios Nikolaos und Umgebung, die mich aktuell wegen irgendwelcher Probleme angesprochen hat. Als wir mit OKYDAN 2010 anfingen, waren es 30 Familien im Monat. Die Griechen sind ein sehr stolzes Volk: "Pah, Probleme habe ich keine, heißt es nach außen." Sie kommen zuerst zu mir wegen irgendwelcher Probleme in der Familie. Und dann packen Sie langsam aus, dass dies, das jenes nicht stimmt. Dass sie in Not sind. Hilfe brauchen.
Aktuell sind es 200 Familien im Monat, die ich hier in diesem Büro betreue, die mich hier aufsuchen. Das sind die Ordner hinter mir. Von denen sind aber nur 4 über 60. Die betreue ich als Langzeitarbeitslose.
Da drüben die Ordner: das sind weitere 300 Bedürftige in unserem Programm HELP AT HOME: Menschen im Alter zwischen 70 und 100 Jahren, zu denen wir hinausgehen, Essen, Medikamente bringen und uns um die Hygiene kümmern.

MARE PIU: Das ist ein gewaltiges Pensum: Von 30 auf 500 Fälle monatlich...


EMMANOUELA GIANNIKAKI: Da liegt auch das Problem. Seit Ausbruch der Krise 2010 gibt es so viel zu tun. Ich bin die einzige Sozialarbeiterin in Agios Nikolaos, die Finanzierung weiterer Langfrist-Stellen für OKYDAN durch die Kommune ist derzeit nicht möglich. Wir kriegen nicht mehr Geld. Und für mich allein ist das einfach zu viel. Wir könnten sechs Sozialarbeiter beschäftigen.

MARE PIU: Wie kommen denn die Menschen mit der täglichen Limitierung der Geldmengen zurecht: 60 Euro täglich für Besitzer einer Bankkarte und 120 Euro wöchentlich für Menschen, die keine Karte haben. Was tun die, die nicht auf die Bank gehen können? Oder der Rentner auf dem Foto, der weinend vor einer Bank zusammenbrach, weil er kein Geld bekam?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Das mit den Cash-Machines ist nicht das Problem: 60 € pro Tag sind 1.800€ im Monat. Das ist mehr, als einem Griechen normal zur Verfügung stehen. Und für die, die keine Karte haben, gibt es 120 € pro Woche. Von den Menschen, die wir betreuen, hatten wir keine Anrufe von älteren Menschen und auch keinen Klagen, dass sie nicht mehr an Geld kämen. Nicht einen. Wir gehen ja auch raus und kümmern uns um die Familien und die Menschen, bringen Lebensmittel und Medizin, kümmern uns ums Reinigen der Wohnung.
Menschen, die vor Geldautomaten weinen, das kann ich nicht glauben. Diese Bilder aus dem Fernsehen und der Presse glaube ich nicht. Es kann schon sein, dass jemand vom Warten in der Hitze erschöpft ist. Aber hier und Heraklion hat die Bank den Wartenden Wasser und Orangensaft rausbringen lassen. Das kam gut an.

MARE PIU: Was denken Sie denn, wie sich die Zahl der Leute, die Not leiden, in Agios Nikolaos weiter entwickeln wird?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Ich denke, das dürfte jetzt stabil bleiben wird.

MARE PIU: Sind Sie da nicht zu optimistisch?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: ---


MARE PIU: Sie erleben hier ja täglich viele Schicksale. Was hat die Krise in Griechenland aus ihrer Sicht verursacht?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Die Probleme wurzeln meiner Meinung nach in den Jahren 2000 bis 2006. Damals riefen die griechischen Banken jeden zuhause an: "Möchtest Du gerne mal in Urlaub fahren? Hättest Du gerne ein neues Auto? Du kannst eine Kreditkarte haben. Würdest Du nicht gerne ein Haus bauen? Kein Problem. Wir finanzieren das!" Also nahmen viele Menschen das Geld und erfüllten sich ihre Wünsche. Manche bauten ein Haus. Andere eins mit Pool. Weder andere bauten gleich vier Häuser. Erfolgreich sein hieß in diesen Jahren: möglichst viel Geld von der Bank aufgenommen zu haben. Und als das Geld nicht mehr reichte: nahm man halt einfach noch mehr Geld auf. Und irgendwann nahm man Geld auf, um die Schulden zurückzuzahlen. Dann kam die Krise 2010. Jeder dachte nur noch an sich und versuchte sich zu retten.

MARE PIU: Und wie kam es am vergangenen Sonntag beim Referendum aus ihrer Sicht zum "Nein"?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Auch ich habe mit "Nein" gestimmt - und das aus vielerlei Gründen. Da ist einmal eine große Enttäuschung. Vor fünf Jahren sagte man uns: "Ihr müsst vorsichtiger mit Geld umgehen. Ihr dürft nicht so viel ausgeben. Ihr müsst sparen. Ihr müsst das so wie wir machen, dann wird alles besser." "Okay" , sagten wir. "Dann macht ihr das bitte für uns." Aber nichts wurde besser. Alles wurde schlimmer. Ich bin einfach enttäuscht. Fünf Jahre und lauter Lügen. Ich glaube einfach nichts mehr.

Und dann kam Alexis Tsipras. Er denkt, was wir denken, und er hat uns bisher nicht angelogen. Ich kann diese Lügen nicht mehr hören.


MARE PIU: Und was erwarten sie für die nächsten Monate?

EMMANOUELA GIANNIKAKI: Die Situation ist offen - Gott allein weiß, was kommt. Ich hoffe, dass sich der Premierminister sehr schnell mit der EU einigen kann. Ich wünsche mir, dass Reformen kommen, ich möchte, dass endlich die Probleme in unserem behoben werden. Dass die Reichen bei uns auch Steuern zahlen. Und sollte ein Schuldenschnitt kommen: Dann bin ich bereit, mein Teil zu leisten und zu bezahlen. Ich möchte einfach gerne ein anständiges Leben leben.


Ab kommenden Mittwoch auf MARE PIU: Wie es ist, in schwierigen Zeiten, Bürgermeister einer Gemeinde am Meer zu sein. Ein Interview mit Antonis Zervos, Bürermeister von Agios Nikolaos.



                                                 Weiterlesen bei: Warum Despina kein Geld von mir annimt. Hier.
                                                 Weiterlesen bei: Warum ein Unternehmer sagt: "Everybody in Greece 
                                                                            pays like Hell."


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