Dienstag, 19. Mai 2015

Lust statt Last: Der Weg zurück vom Boot zum Flugplatz. Oder: Die Geschichte von Dolmus und Otogar.


Meist ist der Weg zurück nach dem Törn kein fröhlicher. Lag auf dem Hinweg noch alles Schöne in froher Erwartung vor einem, geht jetzt der Weg zurück. Die Aussichten, in den engen Flieger gepfercht zu werden und am Montag am noch engeren Schreibtisch zu sitzen, tun ein übriges. Aber statt in ein Taxi zu steigen, was in der Türkei stets teures Vergnügen ist, das sich die normale Bevölkerung niemals leistet, kann man ja mal das Alltagsgefährt von Otto-Normal-Türkin und -Türke besteigen: den Kleinbus, den man dort liebevoll "Dolmus" nennt (gesprochen: Dolmusch). Und das ist allemal ein günstiges Vergnügen mitten drin im Leben: Kostet die fünfminütige Fahrt mit dem Taxi hinein nach Marmaris etwa 22 Lira (umgerechnet 7 Euro), besteigt man den Dolmus für denselben Weg nur für 2 Lira - 65 Cent. Aber etwas Zeit muss man schon mitbringen, für den Dolmus.

                                                              Weiterlesen bei: Wie sieht eigentlich so ein Dolmus aus? Hier.

Meine Reise beginnt dort, wo nachts die Dolmuse schlafen: Im Otogar, dem Busbahnhof. Ein Otogar ist - wie unser deutscher Bahnhof und unsere Raststätten - ein Ort, an dem man viel über eine Gesellschaft lernen und erfahren kann. Wie verhält sich eine Gesellschaft? Wie organisiert sie sich und ihr "unterwegs-sein", das Lust und Broterwerb gleichermaßen dient? Ist eine Gesellschaft mit sich selbst beschäftigt? Oder hilfsbereit? Nach welchen Regeln kommt man vorwärts?

Nehmen wir mal einen x-beliebigen deutschen Großstadtbahnhof. Den von Köln. Oder Hannover. Oder von München. Das ist gleich, denn wesentlich unterscheiden tun sie sich, außer dass in Hannover ein Ernst-August davor steht, in Köln ein Dom und in München ein HERTIE, nicht sonderlich. Zwei Dinge fallen sofort ins Auge: Hektik ist angesagt. Menschen, die schnellen Schritts von A nach B eilen, nach geheimem Plan und Marschbefehl wie Ameisen eines Waldameisen-Baus. Ein organisiertes Durcheinander, ein Vorbeihasten, ein vor Schnelligkeit den eigenen Weg berechnen, gebremst nur, wenn man sich verrechnet hat und in einen zur gleichen Seite ausweichenden Entgegenkommer rennt. Ein rasches "Time is money", in dem Verweilen schon gar nicht angesagt ist, in dem das "ich muss aber doch heute noch..." unseres Alltags über den Perons regiert.

Das zweite, was auffällt: Ausschließlich systemgastronomisch organisierte Ess-Meilen, die den Reisenden auf seiner Hatz durch bundesrepublikanische Bahnhofszentren begleiten. Systemgastronomie von BACKWERK bis BURGER KING, von GOSCH bis HUSSEL, von McDONALDS bis DUNKIN' DONUTS. Alles, alles folgt den Gesetzen der Effizienz. Effizienz ist unser aller Kundenwunsch, das geht bei ALDI los und reicht bis "Bahnhof". In der Diktiertheit unseres Lebens kommt der Zauber des Reisens und Verreisens unter die Räder.


Leichter hat man es da, ist man einmal außerhalb von Raum und Zeit, wie im Urlaub. Zum Beispiel in einem türkischen Otogar. Das Wort allein ist in der an Pragmatismus reichen türkischen Sprache schon ein Witz. Eine Kreuzung aus "Auto" und "La Gare". Nicht genug damit: jedes Dorf hat seinen Otogar. Eisenbahn gibt es hier in der Südtürkei nicht. Das Land ist überzogen von einem feinmaschigen Netz von Buslinien: Die kleinen Busse, mit denen man für zwei Lira, umgerechnet 66 Cent, aus den Vorstädten hineinrollt. Den mittelgroßen Bussen, die im Stundentakt zwischen den Städten hin hund herpendeln und in denen die dreistündige Reise von Fethiye nach Marmaris 28 Lira kostet, etwas mehr als neun Euro. Sie alle treffen sich im Otogar. 

Männer stehen dort in geschäftigen Grüppchen herum, palavern. Der Himmel weiß, worüber. Ein Mann, der auf altem Roller am Straßenrand Frau und Kind abliefert, für die Fahrt in die große Stadt, eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Großmütter, die am Straßenrand stehen, mit großen Packen. Die Türkei ist ein Land, in dem gerne viel transportiert wird, werktags und feiertags, irgendwer steht immer am Straßenrand, irgendwer hat immer einen Ballen geschultert, um ihn von links nach rechts oder rechts nach links zu transportieren, Ameisen, doch statt mit effizienz-getrimmten Räderkoffern mit Ballen, Packen, Packeten bepackt. Aber anders als die Waldameisen bei uns daheim stehen die Menschen hier. Und warten. Ich habe aber noch nicht herausbekommen, worauf. Irgendwer - ob alt, ob jung - steht immer mitten im gottvrlassenen "nowhere" am Straßenrand. Und wartet auf irgendwas.


Blickt man auf weitere Unterschiede, wird man schnell fündig. Ein Otogar ist, dank südlichen Klimas, immer unter freiem Himmel. Im wesentlichen ist ein Otogar eine Männerwelt, ein kleines bisschen getragen wie in Italien von der Männer-Bündelei untereinander. Ein Beispiel: Aushängende Fahrpläne gibt es nicht. Wer irgendwo in will: der fragt einfach einen Mann, der meist im weißen Hemd und schwarzer Hose vor einem Dolmus steht. Als ich neulich herumirrte auf der Suche nach einer passenden Verbindung schwankend zwischen Bus, Leihwagen und sonstwas für die sechsstündige Reise von Marmaris nach Antalya, traf ich im Otogar auf Mehmet. Als ich ihn - ratlos, wie denn das lange Stück am besten zu bewältigen sei, genervt von räuberischen Taxifahrern - als ich Mehmet also entnervt im Gewühl des Otogars von Marmaris ansprach, wie ich denn am besten mein Wegstück zurücklege, lautete seine lapidare Antwort aus dem Stegreif und ohne irgendwo nachzublättern:

"8.15 tomorrow to Fethiye. 
10.30 from there 3 hours to Antalya. 
Half an hour Taxi to Havalimane." 

Das saß. Ein bisschen Mut gehört allerdings dann schon dazu, sich dem Wort eines Weißhemds wie Mehmet anzuvertrauen und vielleicht den mühsam ergatterten Flieger zu versäumen. Aber dies lernte ich schnell in der Türkei: Ein Wort ist ein Wort. Und so ließ ich also Leihwagen und Taxi getrost sein. Und begab mich mit geschultertem Seesack zum Otogar. Kaufe von irgendjemand im weißen Hemd, der vor einem Dolmus steht und ein Bündel mit Banknoten in der Hand hält, mein Ticket. Denn Schalter gibt es auch nicht. Dafür aber Männer im weißen Hemd. 

Der Bus fuhr pünktlich ab. Aber just, als wir in den Otogar von Fethiye einrollen, passiert uns ein Bus mit der Aufschrift "Antalya". "Mist. Der ist weg. Mein Flieger? Winke, winke???" Fragezeichen purzeln reißenden Bächen gleich durch meinen Kopf. Aber kaum bin ich meinem Bus entstiegen, steht ungefragt ein Mann in weißem Hemd vor mir: "Antalya?" fragt er. Ich bejahe. "Come", sagte er, "bus leaving." Ungefragt schreitet er voran, wieder einmal ist hier in der Türkei mein Vertrauen ins Leben gefragt. Der Mann verläßt den Busbahnhof, geht schnellen Schrittes um den Häuserblock, ich hasste ihm nach mit geschultertem Seesack, hinterher, einmal ums Karree. Auf die Hauptstraße. Dort ist eine Ampel. Die steht auf Rot. Davor steht gerade der Bus nach Antalya. 
Der Fahrer steigt aus, nimmt meinen Seesack. Öffnet die Tür. Ungefragt. Und schon bin ich drin.

Noch einen Unterschied gibt es, der mich in den Ländern des Mittelmeers und auch hier in der Türkei fasziniert: Handy-Netz und Internet funktionieren. Lückenlos. Auf vielen Fahrten mit Dolmus und Bus quer durch die südliche Türkei war dies immer ein großes Erlebnis, vom kleinen Bus aus überall im Internet sein und arbeiten zu können. Ein echtes Aha-Erlebnis für den, der mit dem ICE von München nach Hannover reist. Denn kaum hat dies Wunderwerk der Technik den Münchner Hauptbahnhof verlassen: Schon ists vorbei mit Netz - für Stunden. Sind wir wirklich so effizient, wie wir uns gebärden?


Auch im türkischen Dolmus trifft sich "tout-le-monde", Hauptsache mit Ballen und Säcken bepackt. Und während ich diesen kleinen Post schreibe, interessiert sich ein kleiner Junge auf dem Nachbarsitz neben mir, er barfuß wie sein Vater, für das, was ich da treibe. Und weil er mir so interessiert bei der Arbeit auf dem iPAD zusieht, stelle ich mein iPAD mal ganz schnell um und zeige ihm darauf sein Spiegelbild: Was Vater und Sohn höchlich amüsiert und die übrigen Angehörigen der Fahrgemeinschaft im Dolmus erst mal mit verhaltener Begeisterung betrachten. Das Leben ist einfach, der Kleine hat Freude mit seinem Spiegelbild, erklärt es seinem Vater. Er ist noch frei von sehnenden Gedanken an HALO 3 und WORLD-OF-WARCRAFT. Scheinbar. Denn er und sein Vater und das kleine behinderte Mädchen, das mit den beiden reist, sind Syrer. Drei von 1,7 Millionen, die die Türkei seit Ausbruch des Krieges aufgenommen hat. Wie bitte? Das wäre ja fast so: als würden die 80 Millionen Einwohner Deutschlands mal eben die Bevölkerung Sloweniens bei sich aufnehmen?

Vater und Sohn sprechen kein Englisch, kein Türkisch, irren auf wer-weiß welchen Wegen durch die Türkei. Kurz vor Antalya bittet mich der Vater um einen Stift. Auf einem kleinen Zettel kritzelt er Ziffern, eine Telefonnummer. Ich verstehe nicht, was er von mir möchte. Aber dann begreife ich: ich möge doch diese Nummer für ihn anrufen. Ich wähle die Nummer, gebe ihm das Handy, er telefoniert, reicht es quer durch Bus zum Fahrer, damit der mit der Person am anderen Ende der Leitung spricht. Offensicht weiß der Familienvater nicht, wo er jetzt mit den Kindern in Antalya hin soll. Aber das ist schnell geklärt. Am Otogar von Antalya, groß, überdacht, modern, trennen sich die Wege. Es ist so schrecklich wenig, was ich für die drei tun kann.


Und so widme ich diesen Post, während in Deutschland die Bahn nicht funktioniert, dem türkischen Dolmus und den Menschen, die mit ihm reisen. Ich schrieb diesen Post während dreistündiger Fahrt von Fethiye nach Antalya, durch mongolische Steppen, entlang an schneebedeckten Dreitausendern und antiken Hügelfestungen. Vorbei an Pappelhainen und menschenleerer Ödnis. Dem türkischen Bussystem, das sich - wiewohl auf den ersten Blick etwas rückständig - doch als ausgesprochen "effizient" erweist: was Zuverlässigkeit und Internet und Arbeiten von unterwegs angeht. Und: den Blick aufs wirkliche Leben.



                                       Weiterlesen über: Segeln in der Türkei. Hier. 
                                       Weiterlesen über: Die vergessenen Inseln. Hier.


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