Mittwoch, 5. November 2014

Menschen am Meer: Mare Più in der Ausstellung DIE WIKINGER in Berlin.Oder: Das Geheimnis der Skelette von Weymouth.


Wir kennen das. Es passiert alle paar Jahre vor unserer Haustür. Da wird nach jahrelangem bürokratischen Ringen endlich eine Umgehungsstraße gebaut. Und dann entdecken Arbeiter menschliche Knochen. Holen die Archäologen hinzu, so wie in Weymouth, im südenglischen Devon 2008. Die entdeckten noch mehr Knochen. Dann ganze Knochenhaufen. Die Reste von 54 menschlichen Skeletten. Und feinsäuberlich daneben gestapelt: 51 Schädel. 

Die kriminalistische Entschlüsselung eines Rätsels, der ein Sensationsfund war, begann. Archäologen tippten zunächst auf Vorgeschichtliches. Aber die Isotopen-Untersuchung zeigte aufgrund der Spurenanalyse, dass die Skelette jüngeren Datums waren und diese Menschen nicht aus Britannien stammten, sondern aus ganz anderen Regionen: Sie hatten ungewöhnlich viel Fisch gegessen - die meisten von Ihnen waren aufgewachsen in Skandinavien, Norwegen, Dänemark. Einer weiter nördlich, in arktischen Gegenden. Zwei im Kiewer Raum. Und sie hatten zwischen 950 und 1020 gelebt: Wikinger.

Weitere Analysen ergaben, dass alle männlich waren. Zwei, drei waren in den Fünfzigern. Der Rest zwischen 12 und 25 Jahren alt. Und weil die Skelette neben zahlreichen Infektionen auch Spuren früherer Kampfverletzungen aufwiesen, gingen die Archäologen von einem sensationellen Fund aus: Sie hatten die Besatzung eines Wikingerschiffs auf Raubzug entdeckt.

Die Raubzüge der Wikinger nach England begannen um 796 mit dem Überfall auf das vor der englischen Nordostküste gelegene Kloster Lindisfarne. Das Entsetzen der Angelsachsen, die selbst zweihundert Jahre zuvor England trotz Gegenwehr eines Mannes namens Artus brutal erobert hatten, ist noch heute spürbar in den Zeilen eines Alkuin von York, der den blutbesudelten Kirchenraum des Klosters von Lindisfarne beschrieb. Die Wikinger hatten reiche Beute gemacht. Und kamen wieder. Mit noch mehr Schiffen.

Es war eine wilde Gesellschaft. In kleineren Einheiten, scheinbar wie Clans, organisiert. Und was dieses England anging, nicht auf planvolle Eroberung und Mehrung eines Reiches aus. Sondern einfach nur auf Raub. Und Plünderung. Plünderung: das bedeutet: was ein Mann davonschleppt an fremdem Gold, Geld und Gut, gehört ihm. Reich von Null auf Hundert. Und selbst wenn die Wikinger in Skandinavien und auch in Norddeutschland weniger als Plünderer, sondern planvolle, weitsichtige Händler auftraten, deren Handelswege zwischen 9. und 11. Jahrhundert von Skandinavien über Rußland bis hinunter nach Byzanz reichten, wo sie als "Waräger" die Leibgarde des Kaisers stellten: in England, bei den Angelsachsen, waren sie nur auf Plünderung, auf Raub aus. Genauso wie in Nordfrankreich. Und am Rhein entlang, von der Küste bis hinunter nach Köln.

Im Lauf des 9. Jahrhunderts entstanden aus sommerlichen Plünderzügen in England erste, feste Territorien. Von der englischen Nordostküste aus drangen Wikingerheere nach Südwesten vor, Richtung London, Richtung Wales. Alte angelsächsische Königreiche fielen: Mercia, Northumbria, East Anglia, von schwachen angelsächsischen Königen regiert. Nur Wessex im Süden leistete Widerstand - und konnte widerstehen: Die alte Römerstraße von London nach Nord-Westen, die "Watling-Road" wurde als brüchige Grenze eines noch brüchigeren Friedens zwischen dem Reich der Wikinger, dem "Danelag" und dem angelsächsischen Wessex anerkannt. Aber Überfälle auf schnellen Schiffen hinunter nach Wessex, in den englischen Süden, blieben trotz Frieden an der Tagesordnung. Der schnelle Reichtum lockte.

Sie müssen furchterregende Gegner gewesen sein: Einer der Kämpfer ließ sich die vorderen Schneidezähne waagrecht anfeilen: Aus rituellen Gründen? Archäologen vermuten eher, dass dieser Krieger sich vor dem Kampf die Rillen schwarz färbte, um noch furchteinflößender zu wirken.

Und so war es auch eine Crew beutegieriger Wikinger, die irgendwann um das Jahr 1000 auf ihr Schiff stieg. Und nach Südengland segelte, um zu rauben und zu plündern. Aber zumindest im Fall dieser Bootscrew waren die Angelsachsen wachsam: Die Schiffsmannschaft fiel Ihnen in die Hände. 54 kampfkräftige Männer, im Alter zwischen 12 und 50. Man nahm Sie gefangen. Man nahm Ihnen die Waffen ab. Dann Rüstungen und Kleider. Man führte sie nackt und ungebunden zur Hinrichtung an den Rand einer alten, von den Römern stammenden Grube. Und enthauptete einen nach dem anderen. Manchmal nicht ohne Gegenwehr. Die Archäologen fanden heraus, dass mancher noch versuchte, mit der Hand das Schwert abzuhalten, bevor die Klinge in den Hals drang. Es waren alte, hasserfüllte  Rechnungen, die die Angelsachsen an den 54 Seeleuten beglichen. Denn meist bei diesen Raubzügen in friedliche Dörfer waren es Angelsachsen, die die Opfer waren: Männer wurden erschlagen. Frauen und Kinder als Sklaven verkauft. Auch in das Frankenreich, zu uns. Aber nicht in diesem Fall.

Das Wikingerreich in England endete, als die normannischen Vettern von Süden aus in England eindrangen. "Ten-sixty-six", 1066, besiegten die Normannen die Angelsachsen. Und "verschmolzen" mit den nördlichen Vettern im "Danelag". Spätestens um 1150 war die Kultur der Wikinger und ihre Reiche verschwunden: Aufgegangen in größeren Reichen, und nicht zuletzt: "christianisiert": Zivilisiert, domestiziert, ihrer eigenen Kultur, ihrer Mythen beraubt. Absorbiert von Christentum. Und von neuen Königreichen.


Ein Teil der Skelette von Weymouth ist zu sehen in Berlin: in der gut verständlichen, sehr sehenswerten Ausstellung DIE WIKINGER. Im Walter-Gropius-Bau bis 4. Januar 2015.

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