Freitag, 27. Juni 2014

Menschen am Meer: Die Geschichte vom Großvater, dem Meer und den roten Lackschuhen.

Diesen Beitrag hat uns MARE PIU-Leserin Susanne aus Marbach am Neckar geschickt. Wir von der Redaktion finden ihn so gut, dass wir ihn unverändert bringen. An Susanne also vielen Dank.


Mein Opa hieß Alfred und war Kapitän auf großer Fahrt. Besonders groß war er nicht, was vielleicht auch daran lag, dass er immer breitbeinig dastand, damit es ihn nicht vom Schiff weht. Auf dem Hochzeitsfoto aus der Amandus-Kirche in Papenburg ist er kleiner als meine Oma, und das liegt nicht nur an ihrem Hut. Aber er war Kapitän auf großer Fahrt, so nannte man diejenigen Kapitäne, die die ganz großen Schiffe fahren durften, die Waren vom einen Ende der Welt holten und am anderen Ende der Welt abluden. „Löschen“ nennt man das Abladen. 


Wenn er breitbeinig dastand, dann hatte er meist auch die Arme vor der Brust verschränkt. Das war ein Ausdruck dafür, dass er sehr stur war, und das ist definitiv eine Eigenschaft, die sich vererbt.  Bei meinem Opa fing es mit der Sturheit schon an, als er 15 Jahre alt war. Er wollte nämlich zur See fahren, was ein bisschen unpraktisch war, denn er war in eine Bad Godesberger Kaufmannsfamilie hineingeboren worden. In Bad Godesberg gibt es weit und breit kein Meer, und in den Köpfen von Alfreds Eltern gab es keine Seefahrer. Jeden Morgen, wenn seine Mutter ihn weckte und rief: „Alfred, aufstehen, du musst zur Schule!“, dann rief mein Opa: „Ich will nicht zur Schule, ich will zur See!“ Wahrscheinlich hat er dabei unter der Bettdecke die Arme verschränkt. Er hatte einen Plan. Und irgendwann ist er bei Nacht und Nebel von zu Hause ausgerissen und zu Fuß nach Hamburg gegangen, was wirklich eine ganz schön weite Strecke ist. 

In Hamburg angekommen ist er in den Hafen spaziert und hat als Schiffsjunge auf einem großen Schiff angeheuert. Und weg war er. Keine Ahnung, ob er daheim in Bad Godesberg einen Zettel auf den Küchentisch gelegt hat, wo drauf stand: „Ich bin zur See“. Das wäre natürlich nett gewesen, aber bei seiner Sturheit vielleicht eher unwahrscheinlich.  Zu der Zeit hat man jedenfalls von einem, der zur See ging, nicht so schnell wieder was gehört. 

Alfred also war nun Schiffsjunge auf irgendeinem großen Schiff und musste alles Mögliche machen, was so anfiel. Zum Beispiel musste er nachts das Nebelhorn blasen, natürlich nur, wenn Nebel war. Dazu musste er rauskucken, ob Nebel ist, und um das tun zu können, musste er nachts wach sein. Aber wach war er sowieso oft, denn er hatte viel Hunger, offenbar wurden die Schiffsjungen nicht so gut mit Essen versorgt. Das Nebelhorn hing über seinem Bett, ich stelle es mir gebogen vor, hohl natürlich, mit einem Band von einem Ende zum anderen, so dass man es an den Haken über die Schiffsjungenkoje hängen konnte. Manchmal hatte er Glück, und der Smutje schenkte ihm eine zusätzliche Portion Suppe. Die schüttete er dann in das Nebelhorn, denn er hatte ja keine Tupperdose, in der er eine Suppe hätte aufbewahren können. Außerdem hängt man an Bord eines Schiffes alles gern auf, das hat den Vorteil, dass, wenn das Schiff sich auf die Seite legt, zum Beispiel das Nebelhorn mit der Suppe drin immer noch gerade hängt. Oder die Hängematte mit einem selbst drin, sehr praktisch. Nun war mein Opa zwar nicht mehr vor Hunger wach, dafür hatte er jetzt Angst, dass es Nebel geben würde und er die Suppe würde ausschütten müssen. Denn ein Nebelhorn mit Suppe drin gibt keinen Ton von sich, schon klar.  

Wenn ihr jetzt gedacht habt, dass er auf so einem Schiff mit dickem Schornstein unterwegs war, dann werft das Bild mal schnell raus und ersetzt es durch ein großes Segelschiff mit vielen Masten und massenhaft Segeln daran. Und mit so einem Segelschiff ist mein Opa um Kap Hoorn gesegelt. Das ist eine Ecke an der Südspitze von Südamerika, wo ziemlich viel Wind und raue See ist. Früher, bevor sich einer die Abkürzung durch den Panama-Kanal ausgedacht hat, musste man um Kap Hoorn segeln, um nach Kalifornien zu kommen, und die Leute, die das mit einem Segelschiff der Handelsmarine gemacht haben, hießen "Kap-horniers". Die Kaphorniers waren ein ziemlich vornehmer Club mit Leuten, die sehr stolz darauf waren, einer zu sein. Man kannte sich. Aber der Club der Kaphorniers hat sich schon seit einiger Zeit aufgelöst. Warum wohl? Na klar, heutzutage gibt es keine Handelssegelschiffe mehr, mit denen man um Kap Hoorn segeln könnte – und das ist nun mal die Aufnahmebedingung für den Club. 

Die Kaphorniers sind alle lange tot, wie auch mein Opa. Bis dahin war er aber ein zäher Geselle. Einmal hat er Malaria gekriegt, als er gerade in Guayakil war, da haben sie ihn ins Krankenhaus gebracht. Dort ringelten sich nachts die Schlangen an den Beinen der Krankenhausbetten hoch und zwischen die Decken der Kranken, warum auch immer. Damit das nicht passierte, standen die Beine der Betten in Blechdosen, in die man irgendwas hineingeschüttet hatte, was Schlangen meist nicht mögen. Als der Malaria-Anfall vorbei war, ist mein Opa zum Hafen spaziert, aber sein Schiff war schon längst weg. Damals hat man nicht gewartet, wenn einer mal auf dem Klo war oder mit Fieber im Krankenhaus. Und ich frage mich, ob er, als er da so am Hafen stand, sich wohl vorgestellt hat, dass genau hundert Jahre später seine Urenkelin in Guayakil in einem Café sitzen würde. 

Mein Opa hat dann eben auf einem anderen Schiff angeheuert und ist woanders hingefahren. Als er irgendwann wieder einmal in der Nähe von Deutschland war, beschloss er, auf die Kapitänsschule in Papenburg zu gehen. Wahrscheinlich ist er zu Fuß hin. Dort hat er meine Oma kennengelernt, und die hat ihn dann irgendwann überredet, Lotse zu werden. Das hat den Vorteil, dass man tagsüber auf See ist und den anderen Schiffen zeigt, wie sie in den Hafen hinein und wieder hinausfinden können. Wenn der Tag zu Ende ist, kann man aber Feierabend machen und zu Hause bei seiner Familie sitzen, und das fand meine Oma schön. 

Manchmal haben die Lotsen nach Feierabend noch was feiern müssen, und dann haben sie heißen Rum getrunken, vor allem im Winter. Und so hat mein Opa mal, als er vom Schiff kam, nicht nur eine Gangway da liegen sehen, sondern zwei. Er hat sich für die falsche entschieden und ist zwischen Bordwand und Kaimauer gefallen (jetzt könnt ihr das Bild mit dem Schiff mit dem dicken Schornstein wieder rausholen). Seine Kollegen haben ihn rausgefischt und gesagt, Alfred,  komm zurück und zieh erst mal trockene Sachen an, aber mein Opa ist auf sein Fahrrad gestiegen und nach Hause geradelt. Wegen des kalten Winters waren, als er zu Hause ankam, seine Haare in Form des Fahrtwinds steif gefroren, aber er hat sich schlafen gelegt und keinen Schnupfen gekriegt, vielleicht weil er schon in Guayakil gewesen war. Als die Nazis kamen, wollte mein Opa nach Amerika auswandern, aber meine Oma hat sich nicht getraut. Da ist er auch geblieben. Er hat das allerletzte Schiff voller Flüchtlinge aus Pillau, das war der Hafen bei Königsberg, herausgefahren. Die Nazis waren schon alle abgehauen, und die andern haben zu ihm gesagt, Alfred, bleib hier, das ist zu gefährlich.  Aber die Menschen standen doch schon alle auf dem Anleger. 

Keine Ahnung, ob er sich vorgestellt hat, dass auch ein Mädchen dabei war, das später im Ruhrgebiet einen Mann kennenlernen würde, der Steiger im Bergbau war. Mit dem hat sie vier Kinder gehabt: Renate, Gerhard, Manfred und Richard, der dann meine Freundin geheiratet hat, und mit dem wir jetzt immer segeln gehen. Alfred, mein Opa, ist nämlich doch gefahren, bis nach Dänemark, und von dort aus ist er dann zu Fuß nach Papenburg, das kennen wir jetzt schon. Später hat er in Cuxhaven gearbeitet, auf einem Schiff, das „Greif“ hieß. Als er nicht mehr gearbeitet hat, saß er gern im Zigarrengeschäft meiner anderen Oma. Er hat die Abenteuer von Horatio Hornblower gelesen und sich gefreut, wenn ich zu Besuch kam. Dann gingen wir Schuhe für mich kaufen. Meine Mutter hat ihn vorher ermahnt: „Praktisch sollen sie sein und unempfindlich.“ Ich erinnere mich, wie es sich anfühlte, an seiner Hand zu laufen. Jedes Mal kamen wir mit roten Lackschuhen zurück, und dann stand er breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen in der Küche und sagte zu meiner Mutter: „Sie wollte aber die.“


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