Montag, 30. Juni 2014

Das Meer und seine Bewohner: Die Cecala, der effektive Jäger.


Die "Cecala" oder "Canocchia", so heißt sie Italienisch, ist eines der Tiere, bei dem mir bewußt wird, wie wenig wir über das wissen, was in der faszinierenden, anderen Welt des Meeres eigentlich vor sich geht. Es ist eine ganz und gar unbekannte Welt.
Die Cecale auf diesem Foto habe ich bei Ruggiero, dem Fischer, auf dem Fischmarkt von Trani gekauft. Ich schrieb darüber. Fangen wir mit ein, zwei Rätseln an:

Frage 1: Wie heißt die Cecala auf deutsch?
a) Hinteraugenkrebs?
b) Grundkrabbe?
c)  Fangschreckenkrebs?
d) Heuschreckenkrebs?
e) Rotshrimp?
f) Bauchschrecke?

Frage 2: Wo ist bei diesem Tier vorne? Und wo hinten?

Kurz nachdenken? Na? 1c und 1d sind richtig. Und die Augen des Tieres sind im Bild unten sehr gut erkennbar.

Der Fangschreckenkrebs lebt am Boden, ist Einzelgänger und überwiegend monogam (!!). Tagsüber lebt er in seinem Schlupfwinkel. Aber im Dunkeln ist er ein hocheffizienter Räuber: das erste Beinpaar ist ein mit Bürsten besetztes Putzorgan. Das zweite Beinpaar ist mit Speeren ausgestattet, zum Erstechen und Aufspießen der Beute. "Er schleudert seine an die Fangarme einer Gottesanbeterin erinnernden, mit Spitzen bewehrten Fangbeine mit extrem hoher Geschwindigkeit nach vorn", um seine Beute aufzuspießen, schreibt die Uni Halle. Bei anderen Verwandten dieser Krebsfamilie besitzt dieses Beinpaar keulenartige Verdickungen am Ende, mit denen sie dicke Muschelschalen einfach zertrümmern. Was ARTE in einem Video über die "Scharfschützen der Meere" zeigt. All das passiert unglaublich schnell und mit unglaublich viel Kraft: In ein vierzigstel Bruchteil eines Lidschlages.
Und diesen unglaublichen Räuber haben mir Ruggiero und Nicola nun auf den Teller gelegt. Ich versuche es zusammen mit anderen Erwerbungen mit folgendem Rezept:

Was mir Ruggiero und Nicola verkauften und der Fischmarkt von Trani hergab: Heuschreckenkrebse ("Cecale" oder "Canocchia"), Meeraal ("Congro"), der gegrillt immer wunderbar schmeckt, sowie Drachenkopf ("Scorfano").

1. "Was der Fischmarkt hergab" in einer Mischung aus Olivenöl und Knoblauch mindestens eine Stunde marinieren

In der Zwischenzeit:
2. Backblech einölen mit Olivenöl
3. Kartoffeln in hauchdünne Scheiben schneiden. Fein geschnittenen Knoblauch zugeben.
4. Zucchini in Scheiben schneiden und zugeben.
5. Danach die marinierten Fische drauflegen.
6. Mindestens eine halbe Stunde im Gasherd grillen.

Fertig. 
Ich gebe allerdings zu, dass man für dieses Rezept schon etwas unempfindlich gegen Gräten sein muss. Die Fangschreckenkrebse haben eine harte Schale, denen man nur mit allen Fingern beikommt. Wem das zuviel ist, der sieht hier im Video, wie man Fangschreckenkrebse vorher kocht und mundgerecht zubereitet.

Noch glücklicher war ich allerdings am nächsten Tag mit folgendem Gericht: 



Das Rezept hierfür ist aber eine ganz andere Geschichte. Und die verrate ich nicht. Noch nicht.






Sonntag, 29. Juni 2014

Wär' ich Gott, würd' ich hier wohnen: La cattedrale di San Nicola Pellegrino a Trani.


Dies ist die Kathedrale San Nicola Pellegrino in Trani, wenige Schritte vom Fischmarkt, über den ich gestern schrieb. Sie steht direkt am Meer, und wer mit dem Boot anreist so wie ich: der sieht sie schon von Weitem, bei guter Sicht sogar schon ein paar Stunden vorher.

Die Kathedrale von Trani ist einer der Gründe für meine Reise. Ich habe sie zum ersten Mal 2006 besucht, auf dem Weg vom Südwesten Italiens nach Ancona mit dem Boot. Ich habe dieses Bauwerk nie mehr vergessen und oft an diesen Ort gedacht. Der Grund ist nicht, dass diese Kirche von Außen sonderlich gelungen wäre. Es ist normannische Romanik, begonnen wurde der Bau 20 Jahre nach der Eroberung Süditaliens durch die Normannen, die etwa um 1030 "quasi auf der Durchreise" von der Normandie nach Jerusalem Sizilien entdeckt hatten. Und dann in einem ein Jahrhundert dauernden Kleinkrieg erst ganz Sizilien, dann Kalabrien eroberten und um 1070 die Byzantiner und Sarazenen von der Adriaküste vertrieben. Das war zeitgleich mit der Eroberung Englands durch ihre normannischen Vettern.


Nein, der Grund für den Zauber dieses Orts ist das Kircheninnere. Man betritt die Kirche durch ein Untergeschoß, auf dem ersten Bild oben durch das halbrunde Gitter unter dem Haupteingang. Und gelangt dann zunächst in eigene Kirche, die Kirche Santa Maria della Scala. Von dort betritt man die Krypta. Und erst von da aus durch zwei ganz schmale Aufgänge die eigentliche Hauptkirche San Nicola Pellegrino. Und dieser Raum haut mich dann jedesmal um:


Über 100 Jahre Bauzeit. Von 1097 bis 1186. Nur ein heller, leicht rötlicher, wetterbeständiger Stein, der seit der Antike in dieser Gegend abgebaut und "Trani" genannt wird. Kaum Schmuck. Nur Doppelsäulen aus anderem, dunklerem Gestein, vermutlich aus der Römerzeit. Das war im Mittelalter so üblich, die überall herumstehenden wunderbaren römischen Säulen weiterzuverwerten. Man merkt an der Perfektion dieses Innenraums, dass die Kirche "von Innen" nach Aussen gedacht und geplant wurde. Außen eher unförmig. Innen ein perfekter Raum, wie aus einer anderen Welt. Der Lärm bleibt draussen. Drinnen nur ein Verklingen. Und Stille.


San Nicola Pellegrino besitzt wenig Schmuck. Aber das wenige lohnt die Betrachtung. Dies ist das Hauptportal, und die Geschichte, die das Steinfries erzählt ist, berichtet, wie die Menschen des frühen Hochmittelalters ihre Welt sahen. In die acht-förmigen Girlanden eingebunden sind Fabelwesen, kaum eins, das wir heute noch kennen:


Ein nackter Mensch ist dabei, in seiner Not mit der einen Hand gierig nach dem Grün greifend, und mit der anderen den Vogel packend , der ihn faßt.


Eine löwenähnliche Bestie, die einen zweifüssigen Ziegenmensch packt, der zum Schlag ausholt.


Zwei große Vögel, die um eine Schlange streiten, während sich ein Teufel von links einzumischen sucht.


Ein Pferdmensch,der eine Girlandenfrucht ergreift und gleich von dieser gepackt wird.

Es ist eine Welt, die mit sich im dauernden Kampf ist. Der eben noch frißt, wird gefressen. Der eben noch erbeutet, wird zur Beute. Es ist eine Welt voller unfassbarer Schrecken und Bedrohungen, die die Menschen des frühen Hochmittelalters um sich herum sahen. Die Welt ist voll von Dämonen wie Sturm, Epidemien, Krieg, Tod. Und voll von Dämonen in uns. Krankheiten und Abgründe. Schrecknisse überall, die sich die Menschen nicht erklären konnten und denen sie doch erlagen. Denen sie aber Bild und Gesicht und Geschichte geben konnten. Wie hier in Trani.















Samstag, 28. Juni 2014

Menschen am Meer: Der Fischmarkt von Trani. Oder: Ruggiero, Fischer und Vertriebsmann.


Das ist der Fischmarkt von Trani in Süditalien. Eigentlich ist es gar kein richtiger Fischmarkt. Sondern zweimal täglich, morgens und abends, wenn die Fischer von Ihrer Fahrt nach Trani zurückkehren, verkaufen sie ihren Fang. Praktisch direkt am Boot. So kann man an vier, fünf Ständen richtig frischen Fisch kaufen.


Und das hier sind Nicóla und Ruggiero. Sie sind Fischer und verkaufen ihren Fisch am Stand. Das meiste, was sie anbieten, kenne ich nicht. Ruggiero ist an Bord der Vertriebsmann: er fragt mich sofort, ob ich ein oder zwei Kilo haben will. Dabei weiß ich noch gar nicht, was.


Also entscheide ich mich für die Cikale, ganz links. Und ein bisschen Congro, Meeraal. Der ist gegrillt eine Wucht. Und ein paar kleine Scorfani, Drachenköpfe. Der Rochen oben in der Bildmitte ist mir zu groß. Er würde nicht in Levje's Backrohr passen, nein. 


Und während ich mit den beiden parliere und sie zum Lachen bringe mit meiner Frage "Jetzt stellt Euch mal vor, Italien wäre gestern gegen Urugay nicht rausgeflogen, sondern wäre Weltmeister" packt mir Ruggiero, der Vertriebsmann, immer noch ein Cikalchen und noch eins und noch einen Meeraal und noch einen Scorfano in meine Tüte. Und noch zwei Cikale ... immer weiter. Es herrscht halt der richtige Vertriebsdruck am Fischmarkt von Trani. Er packt ein, bis ich mich der alten Weisheit von Amelia, der Besitzerin des Restaurants Obelisco am Containerhafen von Livorno erinnere, es war der Ort meiner ersten italienischen Geschmacksschule: "I pescatori sono furbi." Fischer sind bauernschlau. Aber selbst als ich ihn damit zu bremsen versuche, schmeißt ihn das nicht aus der Bahn. Er lächelt mich in seinem schönsten Lächeln an. Aber es ist wirklich genug, es reicht für drei Tage. Ich zahle 15 € und trotte mit meiner Tüte unter den fröhlichen Rufen der Beiden glücklich von dannen.

Auch dies ist Italien: Man zahlt mehr, als man will. Man geht mit einem Lächeln.

Und in den nächsten Tagen schreibe ich unter dem Stichwort "Bewohner des Meeres", was aus Ruggiero's Sachen alles geworden ist:








Freitag, 27. Juni 2014

Menschen am Meer: Die Geschichte vom Großvater, dem Meer und den roten Lackschuhen.

Diesen Beitrag hat uns MARE PIU-Leserin Susanne aus Marbach am Neckar geschickt. Wir von der Redaktion finden ihn so gut, dass wir ihn unverändert bringen. An Susanne also vielen Dank.


Mein Opa hieß Alfred und war Kapitän auf großer Fahrt. Besonders groß war er nicht, was vielleicht auch daran lag, dass er immer breitbeinig dastand, damit es ihn nicht vom Schiff weht. Auf dem Hochzeitsfoto aus der Amandus-Kirche in Papenburg ist er kleiner als meine Oma, und das liegt nicht nur an ihrem Hut. Aber er war Kapitän auf großer Fahrt, so nannte man diejenigen Kapitäne, die die ganz großen Schiffe fahren durften, die Waren vom einen Ende der Welt holten und am anderen Ende der Welt abluden. „Löschen“ nennt man das Abladen. 


Wenn er breitbeinig dastand, dann hatte er meist auch die Arme vor der Brust verschränkt. Das war ein Ausdruck dafür, dass er sehr stur war, und das ist definitiv eine Eigenschaft, die sich vererbt.  Bei meinem Opa fing es mit der Sturheit schon an, als er 15 Jahre alt war. Er wollte nämlich zur See fahren, was ein bisschen unpraktisch war, denn er war in eine Bad Godesberger Kaufmannsfamilie hineingeboren worden. In Bad Godesberg gibt es weit und breit kein Meer, und in den Köpfen von Alfreds Eltern gab es keine Seefahrer. Jeden Morgen, wenn seine Mutter ihn weckte und rief: „Alfred, aufstehen, du musst zur Schule!“, dann rief mein Opa: „Ich will nicht zur Schule, ich will zur See!“ Wahrscheinlich hat er dabei unter der Bettdecke die Arme verschränkt. Er hatte einen Plan. Und irgendwann ist er bei Nacht und Nebel von zu Hause ausgerissen und zu Fuß nach Hamburg gegangen, was wirklich eine ganz schön weite Strecke ist. 

In Hamburg angekommen ist er in den Hafen spaziert und hat als Schiffsjunge auf einem großen Schiff angeheuert. Und weg war er. Keine Ahnung, ob er daheim in Bad Godesberg einen Zettel auf den Küchentisch gelegt hat, wo drauf stand: „Ich bin zur See“. Das wäre natürlich nett gewesen, aber bei seiner Sturheit vielleicht eher unwahrscheinlich.  Zu der Zeit hat man jedenfalls von einem, der zur See ging, nicht so schnell wieder was gehört. 

Alfred also war nun Schiffsjunge auf irgendeinem großen Schiff und musste alles Mögliche machen, was so anfiel. Zum Beispiel musste er nachts das Nebelhorn blasen, natürlich nur, wenn Nebel war. Dazu musste er rauskucken, ob Nebel ist, und um das tun zu können, musste er nachts wach sein. Aber wach war er sowieso oft, denn er hatte viel Hunger, offenbar wurden die Schiffsjungen nicht so gut mit Essen versorgt. Das Nebelhorn hing über seinem Bett, ich stelle es mir gebogen vor, hohl natürlich, mit einem Band von einem Ende zum anderen, so dass man es an den Haken über die Schiffsjungenkoje hängen konnte. Manchmal hatte er Glück, und der Smutje schenkte ihm eine zusätzliche Portion Suppe. Die schüttete er dann in das Nebelhorn, denn er hatte ja keine Tupperdose, in der er eine Suppe hätte aufbewahren können. Außerdem hängt man an Bord eines Schiffes alles gern auf, das hat den Vorteil, dass, wenn das Schiff sich auf die Seite legt, zum Beispiel das Nebelhorn mit der Suppe drin immer noch gerade hängt. Oder die Hängematte mit einem selbst drin, sehr praktisch. Nun war mein Opa zwar nicht mehr vor Hunger wach, dafür hatte er jetzt Angst, dass es Nebel geben würde und er die Suppe würde ausschütten müssen. Denn ein Nebelhorn mit Suppe drin gibt keinen Ton von sich, schon klar.  

Wenn ihr jetzt gedacht habt, dass er auf so einem Schiff mit dickem Schornstein unterwegs war, dann werft das Bild mal schnell raus und ersetzt es durch ein großes Segelschiff mit vielen Masten und massenhaft Segeln daran. Und mit so einem Segelschiff ist mein Opa um Kap Hoorn gesegelt. Das ist eine Ecke an der Südspitze von Südamerika, wo ziemlich viel Wind und raue See ist. Früher, bevor sich einer die Abkürzung durch den Panama-Kanal ausgedacht hat, musste man um Kap Hoorn segeln, um nach Kalifornien zu kommen, und die Leute, die das mit einem Segelschiff der Handelsmarine gemacht haben, hießen "Kap-horniers". Die Kaphorniers waren ein ziemlich vornehmer Club mit Leuten, die sehr stolz darauf waren, einer zu sein. Man kannte sich. Aber der Club der Kaphorniers hat sich schon seit einiger Zeit aufgelöst. Warum wohl? Na klar, heutzutage gibt es keine Handelssegelschiffe mehr, mit denen man um Kap Hoorn segeln könnte – und das ist nun mal die Aufnahmebedingung für den Club. 

Die Kaphorniers sind alle lange tot, wie auch mein Opa. Bis dahin war er aber ein zäher Geselle. Einmal hat er Malaria gekriegt, als er gerade in Guayakil war, da haben sie ihn ins Krankenhaus gebracht. Dort ringelten sich nachts die Schlangen an den Beinen der Krankenhausbetten hoch und zwischen die Decken der Kranken, warum auch immer. Damit das nicht passierte, standen die Beine der Betten in Blechdosen, in die man irgendwas hineingeschüttet hatte, was Schlangen meist nicht mögen. Als der Malaria-Anfall vorbei war, ist mein Opa zum Hafen spaziert, aber sein Schiff war schon längst weg. Damals hat man nicht gewartet, wenn einer mal auf dem Klo war oder mit Fieber im Krankenhaus. Und ich frage mich, ob er, als er da so am Hafen stand, sich wohl vorgestellt hat, dass genau hundert Jahre später seine Urenkelin in Guayakil in einem Café sitzen würde. 

Mein Opa hat dann eben auf einem anderen Schiff angeheuert und ist woanders hingefahren. Als er irgendwann wieder einmal in der Nähe von Deutschland war, beschloss er, auf die Kapitänsschule in Papenburg zu gehen. Wahrscheinlich ist er zu Fuß hin. Dort hat er meine Oma kennengelernt, und die hat ihn dann irgendwann überredet, Lotse zu werden. Das hat den Vorteil, dass man tagsüber auf See ist und den anderen Schiffen zeigt, wie sie in den Hafen hinein und wieder hinausfinden können. Wenn der Tag zu Ende ist, kann man aber Feierabend machen und zu Hause bei seiner Familie sitzen, und das fand meine Oma schön. 

Manchmal haben die Lotsen nach Feierabend noch was feiern müssen, und dann haben sie heißen Rum getrunken, vor allem im Winter. Und so hat mein Opa mal, als er vom Schiff kam, nicht nur eine Gangway da liegen sehen, sondern zwei. Er hat sich für die falsche entschieden und ist zwischen Bordwand und Kaimauer gefallen (jetzt könnt ihr das Bild mit dem Schiff mit dem dicken Schornstein wieder rausholen). Seine Kollegen haben ihn rausgefischt und gesagt, Alfred,  komm zurück und zieh erst mal trockene Sachen an, aber mein Opa ist auf sein Fahrrad gestiegen und nach Hause geradelt. Wegen des kalten Winters waren, als er zu Hause ankam, seine Haare in Form des Fahrtwinds steif gefroren, aber er hat sich schlafen gelegt und keinen Schnupfen gekriegt, vielleicht weil er schon in Guayakil gewesen war. Als die Nazis kamen, wollte mein Opa nach Amerika auswandern, aber meine Oma hat sich nicht getraut. Da ist er auch geblieben. Er hat das allerletzte Schiff voller Flüchtlinge aus Pillau, das war der Hafen bei Königsberg, herausgefahren. Die Nazis waren schon alle abgehauen, und die andern haben zu ihm gesagt, Alfred, bleib hier, das ist zu gefährlich.  Aber die Menschen standen doch schon alle auf dem Anleger. 

Keine Ahnung, ob er sich vorgestellt hat, dass auch ein Mädchen dabei war, das später im Ruhrgebiet einen Mann kennenlernen würde, der Steiger im Bergbau war. Mit dem hat sie vier Kinder gehabt: Renate, Gerhard, Manfred und Richard, der dann meine Freundin geheiratet hat, und mit dem wir jetzt immer segeln gehen. Alfred, mein Opa, ist nämlich doch gefahren, bis nach Dänemark, und von dort aus ist er dann zu Fuß nach Papenburg, das kennen wir jetzt schon. Später hat er in Cuxhaven gearbeitet, auf einem Schiff, das „Greif“ hieß. Als er nicht mehr gearbeitet hat, saß er gern im Zigarrengeschäft meiner anderen Oma. Er hat die Abenteuer von Horatio Hornblower gelesen und sich gefreut, wenn ich zu Besuch kam. Dann gingen wir Schuhe für mich kaufen. Meine Mutter hat ihn vorher ermahnt: „Praktisch sollen sie sein und unempfindlich.“ Ich erinnere mich, wie es sich anfühlte, an seiner Hand zu laufen. Jedes Mal kamen wir mit roten Lackschuhen zurück, und dann stand er breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen in der Küche und sagte zu meiner Mutter: „Sie wollte aber die.“


Donnerstag, 26. Juni 2014

Der Gargano: Wälder, Grotten, Heilige.


Der Gargano beschäftigt mich, seit ich in einer Vorlesung hörte: dort, genau dort, sei im Mittelalter der Erzengel Michael erschienen. Nein, nicht irgendein abstraktes "Verbum dei caro factum est". Sondern richtig handfest: am 8. Mai des Jahres 492 erschien der Erzengel Michael dem Bischof von Siponto auf dem Monte Sant'Angelo. Punkt. Zack. So war das.


Es ist schon ein wunderbarer Ort, dieser heutige Wallfahrtsort. Keine der üblichen Wallfahrtskirchen, nein: was man über der Erde sieht, ist nur der unwesentliche Teil: Ganz hoch oben am Berg, den wir in Nebel und Regen über steile Straße erreichen, fast an der höchsten Stelle, führt in der Kirche ein langer, gewundener Gang hinunter in die eigentliche Grotte, wo die Erscheinung stattfand. Und die seit bald 1.500 Jahren ein Wallfahrtsort ist. Aber keiner der düsteren, sondern es ist irgendwie hell und licht. Generationen haben hier gebaut und gebetet: die Langobarden, die nach den Römern kamen. Dann Byzantiner. Ottonen. Danach Normannen. Dann Staufer. Anjou. Aragonesen. Königreich Neapel. Königreich beider Sizilien. Königreich Italien. Etwa in dieser Reihenfolge. Und alle haben ihre Spuren hinterlassen an diesem Ort.

Tja. Und was wäre Italien heute ohne Padre Pio? Der Heilige begegnet uns in Italien überall: kein Büro ohne sein segnendes Konterfei. Keine Bar, ohne dass er in meinen Espresso schaute. Kaum ein Auto, in dem er nicht mitführe. Kein Laden, in dem er nicht hinge. Und selbst die Milchlaster italienischer Provenienz, die sich auf deutschen Autobahnen bewegen, haben hinten drauf überlebensgroß sein Foto mit den segnenden Händen in Handschuhen. Kein Zweifel, er ist der populärste aller Heiligen. Gewirkt hat er nur ein paar Kilometer vom Monte Sant Angelo entfernt, in San Giovanni Rotondo. Hat ein Krankenhaus gebaut mit Spenden. Hat Johannes Paul II. sein Pontifikat vorhergesagt. Hatte Stigmata an Händen und Füßen, die er durch das Tragen fingerloser Handschuhe verbarg. Fiel aber auch durch erhöhten Phenolbezug beim Apotheker auf, was leichte Verätzungen verursacht. Ein anfechtbarer Heiliger. Aber die Kirche kam nicht umhin, ihn auf Druck von unten 1999 heiligzusprechen. Voila.

Bei der Durchreise durch Padre Pio's San Giovanni stellen wir fest, dass es diesem Örtchen - anders als im ganzen Gargano - doch wirtschaftlich recht erfreulich geht. Neubauviertel stößt an Neubauviertel, hier wird etwas geschaffen, bloß was? Auskunft gibt da Alessandro Maggiolini, Bischof von Como, der am Tag vor der Heiligsprechung Padre Pio's die Kommerzialisierung des Heiligen scharf kritisierte und der Zeitschrift "Repubblica" diktierte: "Jesus vertrieb die Händler aus dem Tempel. Aber ich muß feststellen, dass sie zurückgekehrt sind."

Und dann ist der Gargano auch der Ort der Foresta Umbra, eines großen geschützten Waldgebietes. Als wir es durchqueren, begegnen wir keiner Menschenseele, Sven meint, hier sei Fangorn und es würde mich auch nicht wundern, wenn vor uns gleich einer von Tolkien's Baummenschen über die Straße latschen würde. Nebelschwaden, Kurvenstraßen, Moose und Flechten, Baumriesen. Ein paar Rinder auf der Straße. Forresta Umbra. Kein Lokal weit und breit. Einsamkeit.


Und dann die Grotten. Das Meer hat sie aus dem Fels gewaschen, und meistens sind sie nur mit dem Boot erreichbar. Und wenn ich in einem früheren Beitrag schrieb, ich sei sicher, dass Odysseus an dieser Küste gesegelt sei: dann hat dies nicht nur mit den zahllosen Grotten hier zu tun. Wer segelt, stellt fest, dass der gute Homer voll ist von realen geografischen Orten, die er in seine Geschichten einbettete und die noch heute identifizierbar sind. Die Grotten des Gargano sind der Hintergrund für  die Grotte der Calypso. Und Kap Spartivento, wo alle fünf Minuten die Winde wechseln, ist der reale Ort für die Lügengeschichte vom Windsack, der die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka verhinderte. Aber dies alles ist eine andere Geschichte.







Dienstag, 24. Juni 2014

Das Meer und seine Bewohner: Die Dorade.


Wie die Dorade lebt und was ihr Beitrag zu Spaghetti a la Pescatrice ist: das erfahren sie in diesem Beitrag.

Das hier ist mein heutiges Abendessen: eine Dorade, genauer: eine Ringelbrasse (oben). Und eine kleine Makrele (unten), die mir beide an die Schleppangel gingen.

Doraden haben ein eigentümliches Leben. Sie leben als Einzelgänger oder in kleinen Populationen über wiegend in einer Tiefe bis 30 Metern. Eine der Merkwürdigkeiten bei Doraden ist: sie sind zweigeschlechtlich: Geboren werden sie als Männchen. Und wandeln sich im Laufe ihres Lebens in Weibchen.

Ich habe Ringelbrassen oft in Buchten beobachtet, wie sie unter den Yachten stehen und hungrig auf das warten, was da von oben runterfällt. Das hat mir auch Robin, der Fischer bestätigt, dass Doraden eigentlich doof seien und nur warten, was von oben kommt. Das scheint aber nur zivilisationsbedingtes Verhalten zu sein. Auch wir wurden ja nicht geschaffen, darauf zu warten, was von Vorne aus der Glotze oder von unten aus dem Iphone kommt - und tun es doch. Tatsächlich sind Doraden Raubfische einer ganz speziellen Art. Wer sie auf dem Teller hat, der sollte sich das ganz andere, "fisch-untypische" Gebiss der Dorade ansehen: Es sind keine Fangzähne wie bei der schnellen Makrele, über die ich schrieb, sondern steinharte, kleine, gelbe Stummel, wie zum Knacken von irgendetwas. Tatsächlich sind die Hauptbeute der Dorade Muscheln, Krebse, sogar Austern: "harte" Sachen halt. Aber wenn ein blinkender Fisch vorbeizieht: dann schnappt sie auch danach. Ich bin überrascht: denn mit dem Verzehr von Muscheln, Krebsen, Austern beweist die Dorade einen dem Menschen weit überlegenen Geschmack.

Eine Dorade hatte jeder, der gerne Fisch isst, schon mal auf dem Teller. Bei uns sind es überwiegend Goldbrassen, die man bekommt, und sie stammen fast ausschließlich aus Aquakultur. Aquakultur: Das bedeutet: künstliche Aufzucht, meist in großen, im Meer treibenden Ringnetzen. Inzwischen sind im Meer teilweise richtige Fabriken entstanden, zehn, fünfzehn Netze mit Durchmesser um die 50 Meter, mit automatisierter Fütterung und plangenauer Bearbeitung. Man begegnet diesen Aquakultur-Stationen an vielen Orten im Mittelmeer: in Kroatien, Frankreich, Italien, Griechenland, der Türkei, Schottland, den skandinavischen Ländern. Aquakultur ist der weltweit am stärksten wachsende Bereich der Nahrungsindustrie, sie wächst noch stärker als Geflügelfarmen und Eierproduktion. In 2011 waren es weltweit knapp 80 Millionen Tonnen Fisch, die weltweit "produziert" wurden. Dies entsprach etwa 70% des wild gefangenen Fisches. Gemessen an der Menge des in Deutschland 2014 eingeführten Lachses ist die Dorade tatsächlich ein kleiner Fisch. Hauptveranstalter der Aquakultur ist natürlich Asien, denn dort gabs Aquakultur, die Karpfenzucht, schon vor Tausend Jahren. Ob das alles so gut ist?

Gut ist jedenfalls mein Abendessen:

1. Zwiebeln und drei  Knoblauchzehen mit zwei Sardellen in Butter mit Olivenöl andünsten.
2. Tomaten zugeben, mit Weißwein ablöschen.
3. Auf kleiner Hitze mindestens 20 Minuten einköcheln lassen, das ist das Wichtigste.
4. Den Fisch zugeben, mitkochen lassen, bis sich das Fleisch von den Gräten lösen läßt.
5. Soße abschmecken, abgelöstes Fischfleisch zugeben, Spagetti unterheben, 3 Minuten im Sud ziehen lassen und wenden.
Und die Petersilie ("Prezemolo", was für ein schönes Wort, schöner ist nur noch "zenzero", der Ingwer, aber der passt hier nur bedingt) nicht vergessen.

Fertig sind "Spaghetti a la Pescatrice".




Sonntag, 22. Juni 2014

Menschen am Meer: Das rätselhafte Volk der Vogelmenschen


Es war zu der Zeit, als Rom aus dem Ei schlüpfte. Etwa da, wo ein griechischer Geschichtenerzähler namens Homer die Lügengeschichten eines anderen Mannes sammelte und erzählte, der das Meer und diese Küste etwa 500 Jahre davor bereist hatte und den sie etruskisch Uthuse, lateinisch Ulixes, auf griechisch aber Odysseus nannten. Etwa zu der Zeit lebte hier an den Küsten des Gargano das Volk der "Daunier". Sie waren wohl übers Meer gekommen, von der anderen Seite der Adria, ähnlich wie die Messapier südlich von ihnen. Die Daunier haben, wie so viele Völker dieser Zeit, nichts oder nur wenig Schriftliches hinterlassen. Schrift gab es zwar zu dem Zeitpunkt schon lange, sie war aber nicht überall im Gebrauch und wurde vor allem in größeren Sozialgefügen praktiziert. In großen Gesellschaften wie Ägyptern, Babiloniern, die "Schrift" hauptsächlich zu Zwecken ihrer inneren Organisation (Götter, Steuern, Gesetze) oder für Propaganda (Ramses II.: "Starker Stier, der Geliebte des Re") einsetzten. Wie es scheint, hatten die Daunier wenig zu organisieren oder zu propagieren. Oder sie erledigten das auf ihre Art.


Auch ohne Schrift war das Leben dieses einfachen Volkes am Meer reich an Geschichten, und sie erzählen sie auf ihren Steinstelen. Die Steinplatten stellen ganz schematisiert Männer und Frauen dar, jede Stele besteht aus Platte und Kopf. Manchmal, wie oben, wurden nur einzelne Köpfe gefunden. Auf den Vorder- und Rückseiten erzählen die Daunier Szenen aus ihrem Alltag. Es sind einfache Steinplatten, 4-6 cm dick. Manche dieser Platten sind groß wie ein Schachbrett, andere wie eine Kühlschranktür. Sie stammen aus den Steinbrüchen des Gargano, und in sie haben die Künstler Szenen und Ornamente eingeritzt und dann mit verschiedenen Farben bemalt. 


Etwa 2.000 (!) solcher Steinstelen haben die Forscher bis jetzt gefunden, in einem Gebiet, nicht größer als der Großraum Berlin. Die Steinstelen stammen allesamt aus dem 8. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. 



Sich selber stellen die Daunier in diesen Szenen wie Vogelmenschen dar. Im Bild oben links ein Mann, ein Wanderer, rechts eine Frau, erkennbar an ihrem langen "Zopf". Den tragen die Frauen auf den Abbildungen häufig, auch im Bild unten.


Die Grafiken der Daunier mit den Vogelmenschen erinnern mich an Luc Bessons immer wieder sehenswerten Film "Das fünfte Element". Die Vogelmenschen auf den Plastiken haben Anmut und Würde. Und erzählen auf stille Art von ihrem Leben, ihrem Alltag, ihren Mythen. Es sind Szenen, die wir verstehen. Und doch nicht verstehen. Was sie darstellen, begreifen wir: die Bilder einer idealen Welt. Aber ich denke, dass ihr eigentlicher Inhalt die Mythen der Daunier sind: Oben die Geschichte von den sechs Krugträgerinnen, die dem Mann mit der Leier begegneten.


Hier die Geschichte vom großen Jäger, der das goldene Reh erfolglos jagte und dem die Gans den rechten Weg wies. Der Wanderer oben, der durch seinen besonderen Stab kein normaler Wanderer ist, der der Frau mit dem Krug begegnet. Auch dass die Daunier die Menschen in ihren Abbildungen mit Vogelköpfen ausstatten, hat vielleicht damit zu tun, dass es sich um Mythen handelt, um Fabelwesen, um Gestalten aus einer anderen Welt.

Was aus den Dauniern, dem rätselhaften Volk am Gargano geworden ist, ist nicht klar. Vermutlich wurden sie und ihre Kultur assimiliert, aufgesogen, eliminiert, zerrieben zwischen den Griechen, die ihre Städte auch in Unteritalien gründeten, den Samniten, später den Römern. Aber die kamen erst spät, ungefähr 500 Jahre nach den Steinstelen. Da wurde das von Griechen gegründete Siponto (heute Manfredonia) wiederum von den Römern erobert.
Und die Steinstelen der Dauner sind heute genau da, im sehenswerten Archäologischen Museum im Castello Manfredonia, der alten Stauferfestung, zu sehen. Aber das mit den Staufern: das ist eine ganz andere Geschichte.



Der Mensch und seine Sachen: Peschici. Oder das liebe Geld.


Das ist der schöne Ort Peschici, am Nordufer des Gargano gelegen. Und dieses Dörfchen mit seinen 4.300 Einwohner weicht gleich in zweifacher Hinsicht von allen uns bekannten Normen ab. Zum einen lautet die Aussprache "Pä:skitschi", mit Akzent auf der ersten und nicht der vorletzten Silbe. Zum anderen, weil am 31. Oktober 1998 alles, aber auch wirklich alles ganz anders für die Bewohner von Peschici als den Rest der Welt lief. An diesem Tag nämlich gewann eine Tippgemeinschaft die für die damalige Zeit sagenhafte Summe von 32 Millionen Euro. Und teilte das Dorf in Gewinner und Nicht-Gewinner. In Leute, die in dieser Woche ihren Lottoschein abgegeben und solche, die das in dieser Woche eben nicht getan hatten.


99 Bewohner eines Dorfes gewinnen 32 Millionen Euro. Der Kioskbesitzer gewann, der Automechaniker auch, mindestens ein Fischer, die arme Wittwe und, ja: auch der Pfarrer. Ob dies alles jetzt mit den Systemzahlen des Tabbachaio Fernando de Nittis zu tun hat oder ob der in nächster Nähe wirkende und in Italien hoch verehrte Padre Pio seine stigmatisierte Hand im Spiel hatte: wir wissen es nicht. Ein Geldregen ging über einen Teil der Bewohner nieder, die dann damit allerhand anstellten. Den Lottoschein mit den Glückszahlen in Marmor sichtbar in die Hauswand einmörteln. Ein Museum mit Folterwerkzeugen in Peschici einrichten (Ida und mir ist danach schlecht, wir wollten doch bloß die Burg ansehen). Eine Waschstraße hinstellen, wo sie keiner braucht. Eine Weihnachtskrippe ("Presepe") bauen. Mitten im Ort eine Villa beginnen, die als Rohbau endet. Eine Feriensiedlung am Strand errichten. Und zumindest in diesen Dingen unterscheidet sich Peschici in Nichts von all den anderen Orten in der Umgebung am Meer. Peschici ist ein netter Ort.

Und ein großes Restaurant gleich am Hafen gibt es.


Das ist Francesco, der uns empfängt und durch das merkwürdig riesige, aber merkwürdig leere Restaurant führt. Es hat mindestens vier, fünf, sechs unterschiedliche Speisesäle. Hier passen mindestens acht Busse rein. Verglaste Blicke in unterirdische Grotten auf wogendes Meer. Einen Balkon, hoch über dem Meer, mit nur einem Tisch. Ein Platz, um einen Heiratsantrag zu machen. Aber da wollen Sven und Ida nicht mit mir essen.
Als ich Francesco frage, ob er der Restaurantbesitzer sei, wird seine Miene bekümmert: "Ma, sono poverino." Ich bin ja nun ein ganz Armer. Der Pizzaiuolo hier im Restaurant sei er, der, der die Pizze macht. Und aus Neapel sei er. Er hätte hier seine Frau kennengelernt. Und wieso ausgerechnet nach Peschici, frage ich. "Dove si nasce non si muoio." Man stirbt nicht, wo man geboren ist. Das sitzt.

Das Essen ist ausgezeichnet. Die Pizze von Francesco sind groß wie LKW-Reifen und Sven entwickelt schöne Theorien, warum er als erster damit fertig ist. Peschici ist schön.

Bis auf den nächsten Morgen. Da erscheint der Hafenmeister, pumpt sich vor Levje auf, bis seine Körpergröße ihm tatsächlich bis zu den großen Schulterklappen reicht. Wieso wir denn mit dem Boot hier im Hafen liegen würden? Wer uns das denn erlaubt hätte? Warum wir uns nicht bei ihm gemeldet hätten? Da wäre eine Strafe ("Un verbale", was für ein wunderschönes Wort) in Höhe von 1.300 € fällig. Wir sollten sofort ablegen. Und den Hafen verlassen. 

Und während wir in Ruhe unseren Espresso trinken, den uns der zornige Hafenmeister-Gott noch knurrend zugestand, sinnieren wir, was den Mann an diesem schönen Ort so in Rage gebracht haben mag. Vielleicht waren ja die gestrigen Lottozahlen daran schuld?








Freitag, 20. Juni 2014

Menschen am Meer: Der Friedhof der Tremiti-Inseln.

Ganz, ganz im Osten der Kloster- und Festungsinsel San Nicola liegt hoch über dem Meer der Friedhof der Inselgruppe Tremiti. Sven und ich haben ihn entdeckt, als wir im November 2008 hier anlegten. 


Es ist eine wunderbare Wanderung durch die mittelalterliche Klosterfestung, vorbei an der baufälligen Klosterkirche mit ihren frühmittelalterlichen Mosaiken.


Hinaus auf die mit niederer Macchie bewachsene Heide. Der Blick rundherum aufs Meer ist einmalig.


Von da aus sind es nur 20 Minuten zum Friedhof, und der liegt genau an der Ostspitze von San Nicola. Hier pfeifft immer der Wind. Und man hört das Meer rauschen.


Es ist kein Friedhof, wie man ihn von nördlich der Alpen kennt. Weniger gepflegt. Mehr verfallen. Die Toten und die Erinnerung an sie dürfen hier altern und ihr Alter zeigen.

Auch die Grabarchitektur ist hier anders. Manchmal gibt es dort Gräber, manchmal sind es aber auch richtige Totenhäuser, mit Altären und Grablegen drin. 


Manchmal sind es auch richtige Sarkophage, die dort stehen. Aber immer ist ein emailliertes oder in Porzellan gefasstes Foto der Verstorbenen dabei, das kenne ich auch so vom Friedhof auf der kroatischen Insel Susak. Ein Foto, das Geburts- und Sterbedatum. Nicht mehr. Keine Geschichte.


Aber die Geschichte, die steht in den Gesichtern der Menschen, die hier am Meer lebten. Und immer ist das Foto so gewählt, dass der Verstorbene den Betrachter ansieht.


Die Fotos sind immer mit Bedacht ausgewählt. Sie zeigen keinen Menschen krank, am Ende seines Lebens, müde. Nein. Die Menschen auf den Bildern haben ihr Lächeln bewahrt. Für den Betrachter. Selbst an diesem einsamen Ort, der nur den Möwen und der Erinnerung gehört. Und dies ist vielleicht das Wichtigste, das uns diese unbekannten Menschen mitgeben: ihr Lächeln. Das uns sagt: Sich ändernde Pfade, Schatten und Licht: alles ist Gnade, fürchte Dich nicht.



Mittwoch, 18. Juni 2014

Menschen am Meer: Vittorio, Bewohner von den Tremiti-Inseln

Die verregnete und etwas windige Nacht verbrachten wir am Fähranleger von San Nicola. Der Wind hatte natürlich Nachts auf Nord gedreht, Schwell vom Meer stand herein, ich stand öfter auf, um zu sehen, ob Levje's Anker auch hielt. Mit dem eigenen Boot auf den Tremiti-Inseln ist nicht einfach. Einen richtigen Hafen gibt es nicht.


Gegen sieben weckte mich ein roter Klein-Traktor, so einer, der die Ladefläche hinter sich herzieht. Er kam die steile Straße aus der Festung heruntergeröhrt. Ein Mann mit Cowboyhut saß drauf, er röhrte mit dem Traktor auf die Pier, röhrte an Levje vorbei, röhrte wieder zurück. Er hatte es geschafft. Jetzt war ich wach.



Das ist Vittorio. Der Traktor gehört ihm. Er lebt hier auf San Nicola, seit er hier geboren wurde. Weg von den Inseln war er nur ein Mal so richtig, während des zweiten Weltkriegs. Da war er ein Jahr in Davos, das hat ihn alles sehr beeindruckt. Er schleppte dort Koffer in Hotels und wieder raus. Und er schwärmt noch heute, wie reich die Menschen dort waren.


Vittorio ist 77 Jahre alt. Er wohnt oben in der Festungsstadt. Jeden Tag, bevor um 8 Uhr die Fähre kommt, fährt Vittorio mit seinem Gefährt die steile Straße herunter. Vittorio wartet auf Gäste, deren Koffer er nach oben in die Stadt transportiert. Aber die meisten Gäste bleiben drüben in San Domino, wo die Hotels und Pensionen und Restaurants sind. Und wo auch die großen Fähren anlegen. Nach San Nicola kommen nur Tagesausflügler. Trotzdem ist Vittorio vergnügt. Mit den Fischern wechselt er Scherze, deftige Zoten, soweit ich verstehen kann.



Als es wieder zu regnen beginnt, greift Vittorio nach hinten auf seine Ladefläche, angelt das große Brett hervor, das man auf dem Foto sieht, deckt seinen Sitz damit ab. Und geht zur Bar, um seinen Cafe zu trinken.


Das Leben kann schon einfach sein, mit 77.








Dienstag, 17. Juni 2014

Menschen am Meer: Nonna Sistina, die Kirchenwächterin von den Tremiti-Inseln.


Mitten in der alten Klosterfestung auf San Nicola betreibt Nonna Sistina ihr kleines Restaurant. Nonna Sistina, das bedeutet: Oma Sixtina. Nonna Sistina ist bestimmt Ende sechzig. 

Wir lernen sie kennen, als wir morgens um acht die gottverlassene Festung anschauen. Plötzlich steht sie vor uns, klein, grauhaarig, ihr Gesicht ein ewiges Lächeln. Und drückt uns den Schlüssel für die Klosterkirche in die Hand. Sie könne ja nicht mehr selber aufschließen, seit sie sich die Schulter verrenkt habe, ob wir so freundlich wären und das für sie erledigen, die Türe bräuchte nur einen entschlossenen Tritt, damit sie aufginge, und den Schlüssel, den sollten wir hinterher wieder bei ihr vorbeibringen, und ja wieder abschließen.


Als wir zurückkommen von Klosterkirche und Wanderung über die Insel, treffe ich Nonna Sistina nicht an. Auf einen der Tische hat sie einen Pappkarton gelegt, auf dem steht: "Torno subito. Accomodatevi. Nonna Sistina." ("Komme gleich wieder. Setzt Euch schon mal. Oma Sixtina").


Man sieht den Pappkarton mit Sistina's Handschrift auf dem Foto oben rechts. In die beiden grünen Flaschen hat Nonna Sistina die Kassenzettel, die "scontrini", eingefüllt: in die grüne Flasche rechts die aus dem Jahr 2011, in die grüne links die aus dem Jahr 2012. "Scontrini" sind in Italien sehr, sehr wichtig. Wenn man ohne "scontrino" einen Laden verlässt, läuft einem der Ladenbesitzer nach, um einem den "scontrino" persönlich in die Hand zu drücken. Es ist der Nachweis, dass der Besitzer brav seine Mehrwertsteuer abführt.

Am interessantesten ist - auch das sieht man auf dem Foto oben - das weiße Gefäß mit dem roten Häckeldeckchen, das zum Öffnen einlädt mit der Aufschrift "Amore è ...?" ("Liebe ist...?")

Als ich den Deckel öffne, finde ich Hunderte, nein: Tausend kleine handgeschriebene Zettel. Da hat Nonna Sistina für ihre Besucher eine eigene Version eines "chinesischen Glückskeks" gebaut. Ich kann nicht widerstehen und muß natürlich einen Zettel ziehen. Und als ich das tue, steht von Nonna Sistina's Hand darauf:

"L'amore e quella sensazione
che ti fa agire senza avere paura di niente.
Quando si ama si vive."

"Die Liebe ist das Gefühl,
das Dich handeln läßt, ganz ohne eine Spur von Angst.
Nur wer liebt, lebt."







Sonntag, 15. Juni 2014

Landschaften der Seele: Tremiti. Oder: Die vergessenen Inseln.

Eine der vier Inseln der Inselgruppe: San Nicola mit Kloster und Festung.
Italien hat - ganz anders als Kroatien oder Griechenland oder die Türkei - viele Häfen, aber wenige Inseln. Aber die paar Handvoll Inseln Italiens haben sich mir immer wieder besonders eingeprägt. Capraia gehört dazu, 7 Segelstunden vor Livorno gelegen. Giglio mit seinem Rummel. Und auch die Tremiti-Inseln. Sie sind die einzigen Inseln an der Ostküste Italiens und liegen etwa 5 Segelstunden nördlich des Gargano.

Die Tremiti-Inseln habe ich mit dem Segelboot zu ganz verschiedenen Jahreszeiten besucht: Einmal, als der ganz große Rummel vorbei war, Ende August. Einmal ganz ohne jeden Rummel, Anfang November. Da war es so richtig einsam. Und jetzt, wo der große Rummel noch nicht begonnen hat, Anfang Juni. Die Fähren, die hier anlegen, bringen zwar jeden Tag mehr und mehr Urlauber, aber die bleiben alle auf San Domino, da, wo sich Hotels und Pensionen und Restaurants konzentrieren. Auch wenn auf dem Gargano überall Ausflüge zu den Tremitis angeboten werden: Man ist dort ziemlich allein. Die Tremitis sind irgendwie die vergessenen Inseln. 

    San Nicola, diesmal von der Inseln San Domino aus. Richtigen Hafen gibt es keinen: Man ankert zwischen den Inseln, die   
     fast immer im Schwell liegen. Oder Abends ab 19 Uhr an den Fähranlegern, wenn die Fähren weg sind. Aber da muss   
     man Morgens gegen 8 Uhr wieder weg sein.

Die Tremiti-Inseln bestehen bestehen aus vier verschiedenen Inseln: Neben San Domino noch San Nicola mit Festungsmauer und Kloster und alter Kirche - aber da leben von den 400 Tremitianern gerade mal 150, in dem Festungsort, den man auf dem Bild ganz oben sieht. Mönche haben den Ort besiedelt, Mönche haben ihn im Mittelalter auch befestigt gegen kroatische und türkische Piraten, wie man ihn heute sehen kann. Und wurden doch dafür umgebracht.

Und dann gibt es noch Capraia und den gelben Sandsteinfelsen Cretaccio mittendrin. Sowie einige Felsen weit draussen. Aber Menschen leben hier keine, die Möwen mit ihrem Geschrei bleiben unter sich.

    Das einzige Haus auf Capraia: die Ruine des Leuchtturms.

Die Tremiti-Inseln waren auch immer ein Ort der Verbannung. Augustus schickte seine Enkelin Julia hierher, offiziell wegen Sittenlosigkeit, aber vermutlich hatte sie gegen den mächtigen Herrn Großvater opponiert, oder Schlimmeres. Und mußte bis zu ihrem Tod 28 Jahre später bleiben. 1912 deportierte Italien 1.200 unbotmässige Libyer hierhin, weil sie sich der italienischen Eroberung Nordafrikas widersetzten. Der freche Muammar Al-Ghaddafi reklamierte deshalb die Inseln regelmässig als libysches Territorium, ohne Erfolg, aber sehr zum Ärger der italienischen Politik.

Vielleicht sind es auch deshalb die vergessenen Inseln: wer hier blieb, der blieb, um vergessen zu werden.

    Der Sandsteinfelsen Cretaccio mitten in den Tremiti-Inseln. Bei Regen färbt der abgewaschene Sand das Meer ringsum beige - also schnell hinfahren, solange es Cratccio noch gibt.



Und so klingen die Vergessenen Inseln.