Sonntag, 30. September 2018

Unter Segeln. Von der Bretagne zur Insel Guernsey. Von Dingen, die nicht funktionieren. Einem Gott der Schadenfreude. Und der nächtlichen Ankunft auf einer Insel.

Mitte Mai startete ich in Sizilien, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar, Portugal, Nordspanien
folgte ich der französischen Atlantikküste bis zur Nordküste der Bretagne 
zu den britischen Kanalinseln. 

Es ist 14.30 Uhr. Nachmittag. Am Himmel ein Schweben von Wattewolken, die wie eine Herde langsam gen Osten ziehen. Vor sechs Stunden habe ich die Bretagne verlassen, um die 60 Seemeilen hinüber zur Insel Guernsey zu segeln. Eigentlich keine große Distanz.

Heute Früh, bei der Abfahrt, hatte das GPS meine Ankunft für 18.30 Uhr am heutigen Abend errechnet. Doch die Überfahrt entwickelte sich anders als gedacht. Der Wind war schwächer als erwartet. Er Wind kam seitlicher ein als erwartet. Ich konnte den geplanten Kurs nicht halten. Die Strömung läuft seit Vormittag gegen uns. Sie kam nicht nur aus Richtung Guernsey, sie bremste uns aus um fast 2 Knoten. Und: sie setzte uns weit nach Westen. Sah ich ins GPS, schossen wir auf diesem Kurs weit westlich an der Insel Guernsey vorbei. Selbst wenn ich den Kurs geändert hätte: würden wir erst am Morgen gegen 6.30 Uhr ankommen. 12 Stunden später. Was bedeutet hätte, die Nacht am Steuer zu stehen  und erst Morgen Früh in Guernsey anzukommen.

Im Norden vor uns zog eine Regenwand auf. Scharf konturierte bleigraue Wolken bedeckten den Horizont vor mir, wir hielten genau darauf zu. Alles nicht erfreulich. Wir waren zu langsam. Wir kamen zu weit querab. Ich würde mir die Nacht um die Ohren schlagen müssen. Bad News.

Wie so oft hier draußen sind die Dinge, wie sie sind. Jahrzehnte war das Büro ein Ort, an dem die Dinge entweder mit mir waren oder nicht. Waren sie gegen mich, ärgerte ich mich. Über nicht erreichbare Geschäftspartner. Über mutlose Einkäufer. Über lustlose Kollegen. Über Computer, die nicht funktionierten. Hier draußen habe ich das Ärgern etwas verlernt. Das Meer meint es nicht böse. Es ist, wie es ist. Es lohnt nicht, dagegen anzukämpfen. Ich muss die Dinge nehmen, wie sie in diesem Augenblick sind. Zumindest für mein Leben hier draußen lerne ich, dass ich den Dingen, die sich nicht fügen wollen, nicht zuviel Aufmerksamkeit schenken darf. Dem Mechaniker, der nicht zur vereinbarten Zeit kommt. Dem Gesprächspartner, den man nach dem 5. Anruf nicht erreicht. Hier draussen kann ich die Dinge oft akzeptieren. Statt mich über den Mechaniker zu ärgern, beginne ich einfach irgendeine größere Arbeit. Kaum habe ich die begonnen, kaum habe ich das Ärgernis Ärgernis sein lassen, kreuzt auch schon der überfällige Mechaniker auf. Oder mein Handy klingelt, und der gewünschte Gesprächspartner ist dran. Irgendein missgünstiger Gott sieht unserem Leben von oben dabei zu, wie wir der falschen Sache unsere Aufmerksamkeit schenken, um dann "Ätsch" zu sagen.

Die Regenwand vor uns war noch schwärzer geworden. Der Wind fast eingeschlafen.

"Kommt der Regen vor dem Wind,
Skipper: Birg die Segel geschwind",

sagte ich mir leise vor, doch um uns war alles ruhig. Nein, ich würde jetzt nicht den Motor starten, um schlechten Neuigkeiten sinnlos Kraft entgegenzusetzen. Ich gab stattdessen meiner Müdigkeit nach. Schaltete das Radar ein, das den Horizont vor mir nach allem abtastete, womit Levje kollidieren könnte. Dann legte ich mich in Levjes Cockpit schlafen, während mein Schiff langsam seinen Weg gegen den Strom suchte.

Eine Stunde später. Ich schlage die Augen auf. Die Regenfront vor mir hat sich verzogen. Die Gegenströmung ist nicht mehr ganz so stark. Der Himmel vor uns ist immer noch mit den scharf konturierten Wolken überzogen, doch jetzt leuchten sie watteweiß und schwebend über mir. Wir driften nicht mehr weiter querab, sondern laufen jetzt etwa eineinhalb Stunden parallel zu unserem eigentlich geplanten Kurs. Das ist gut.



Stundenlang kann ich dem Wasser zusehen, wie es an der Bordwand entlangströmt - als wäre es nicht mein Schiff, das sachte wiegend durchs Wasser gleitet, sondern eben anders herum: Mein Schiff ist Festland. Das Wasser strömt um uns herum. Dieses Spiel habe ich schon einmal gespielt, als Kind war einer meiner Lieblingsplätze eine einsame Brücke über den schnell fließenden Fluss, um von dort aus dem davoneilenden Wasser nachzusehen. Viertelstunden konnte ich reglos die Bewegung des Wassers beobachten, auf meiner Brücke hatte ich nach einer Weile das Gefühl, sie sei in die Brücke eines Schiffes verwandelt, an dem in schneller Fahrt das Wasser vorbeiströmte. Das Meer ist manchmal wie ein großes Gedächtnis. Es holt aus mir die Dinge hervor, die ich längst vergessen glaubte. Ich sehe plötzlich die Linie in meinem Leben, die mich von einem x-beliebigen Punkt meiner Kindheit genau hierher führte: An diesen x-beliebigen, nicht näher definierbaren Punkt auf dem Meer zwischen der bretonischen Küste und der Insel Guernsey.

Eine halbe Stunde später hat der Wind weiter gedreht. Levje hält nun fast auf das Ziel zu, auf St. Peter Port, den Hafen auf Guernsey mit seinen Marinas. Mein Hunger meldet sich. Am Vormittag unter Segeln hatte ich mir Rührei mit Zucchini als zweites Frühstück zubereitet, als die bretonische Küste 20 Meilen hinter uns lag. Doch schon während dieses zweiten Frühstücks nörgelte mein Geschmackssinn herum, dem Rührei heute morgen hätte entschieden die Sardine gefehlt. Nach meinem Nachmittagsschlaf spukt sie dann immer noch in meinem Kopf, die Sardine. Mit einem ganzen Sack voller Fragen: Sardine mit Rosinen auf Pasta, als sizilianische Pasta alle Sarde? Oder eine improvisierte Paella in der gußeisernen Pfanne auf dem Gasherd? Mit Schinkenstückchen, Knoblauch, Tomaten und einem Schuss Weißwein?

Eine halbe Stunde wälze ich die Fragen im Kopf, während ich hinaus auf die See und den immer klarer werdenden Himmel vor mir schaue. Um uns nur Meer. Kein Land. Kein Schiff. Nur die Weite des Wassers und des Himmels. Ich gehe unter Deck, lasse mein Schiff seine Arbeit machen und mache mich an die meine. Suche Rosinen. Schnipple Zwiebeln. Hacke Knoblauch. Zerkleinere Tomaten. Setze den Spaghettitopf auf. Was Essen angeht, hat sich seit meinen Tagen im Büro nichts geändert. Was auf den Teller kommt, der Geschmack des Abends, er reimt sich im Kopf über den Tag zusammen, solange, bis ich wie ein Maler bereit bin, den Pinsel in die Farbe zu tauchen und loszulegen.



Eben taucht die Insel Guernsey am Horizont auf. 25 Seemeilen, fast 50 Kilometer entfernt, zeigt sich der zarte Schemen einer flachen, langen Insel am Horizont. Es ist früher Abend. Die Sonne steht tiefer, sie verleiht den Wolken eine andere Färbung als noch eben. Nicht nur der Schemen von Guernsey ist zart. Auch die Wolken sind es. Jetzt beginnen die Stunden, die mir neben dem Morgen die liebsten eines Tages sind. Die Stunden, in denen der Himmel über dem Meer zu leuchten beginnt.


Etwas später hat der Strom erneut gedreht. Vor meiner Reise hatte ich mir das Spiel von Ebbe und Flut als simples "Auf" und "Ab" gedacht. Tatsächlich spielt draußen auf See spielt das "Auf" und "Ab" keine Rolle. Dafür zählt hier das "Mit" oder "Dagegen" gewaltig, es bestimmt meinen Segeltag. Jetzt kommt der Strom nicht mehr schräg von vorn und bremst uns aus, sondern er wird uns sanft um die Südspitze Guernseys tragen und dann mit 3 Knoten entlang der Ostküste nach Norden bis vor den Hafen von St. Peter Port. Bis Mitternacht habe ich Zeit, in den Hafen zu kommen. Dann wird eine Gegenströmung einsetzen. Aber solange werden wir nicht brauchen. Laut GPS werden wir nun gegen 22 Uhr in St. Peter Port eintreffen. Mit dem letzten Licht. Denn hier in der Bretagne, so weit im Westen, geht die Sonne Anfang September morgens erst um halb acht Uhr auf. Und dafür erst um 20 nach 9 Uhr unter.



Es ist 20 Uhr. Levje schießt jetzt mit 8-9 Knoten über Grund dahin. Der Strom schiebt sie mit 2,5 Knoten nach Norden. Guernsey ist jetzt zum Greifen nah: Rote Felsen. Oben drauf ein flaches  Plateau. Fast wie Menorca. Darüber Wald. Vereinzelt Landhäuser. Im Osten ein Leuchtturm. Wenig später ist der Strom überraschend kraftvoll, ich habe Mühe, mich vor den südlich liegenden Untiefen von Fourquie und Longue Pier freizuhalten. Französische Ortsnamen - Guernsey mag Teil des Vereinigten Königreichs sein, aber geografisch liegt sie wie ihre benachbarten Inseln Jersey, Sark, Alderney allemal näher an der Bretagne. Und die hat ihre Spuren hier hinterlassen.

Kurz vor 22 Uhr erreiche ich über Telefon den Hafen von Guernsey. Eine Männerstimme mit starkem südenglischen Akzent. Ja, sie hätten einen Liegeplatz in der Victoria Marina. Ich solle mich ganz links halten im Hafen - aber dieser Hinweis führt mich in der Dunkelheit in die Irre. St. Peter Port im Dunkeln ist ein Gewirr aus Bojen, Piers, in Haufen vertäuten Motor- und Segelbooten. Ganz links? Finde ich mich in der Dunkelheit plötzlich im Fischereihafen wieder. Hier liegt keine Segelyacht. Nein, hier kann ich nicht richtig sein. Ich irre durchs nächtliche St. Peter Port, steuere Levje zwischen vermuhrten Booten herum, weiß nicht mehr weiter. Als ich plötzlich in einer Sackgasse stehe und Levje in der Enge der Gasse drehen muss, sehe ich unvermutet hinter mir das Schild. Victoria Marina. Und dahinter, oben auf der Mole, der Hafenmeister, mit dem ich telefoniert hatte. Und der mir von seiner Behausung aus meinen Liegeplatz zuruft. Diesmal kuckt der Gott woanders hin. Und nicht auf mich und mein Schiff.


Nett. Nun bin ich auf Guernsey. Guernsey leuchtet im Dunkel. Eine Lichterkette entlang der Hafenstraße. Und drüben neben der Kirche ein Pub. Aber es ist 22 Uhr - wenn dies wirklich England ist, dann hat das Pub längst zu. Und es wird nichts mit meinem Ale.
Macht nichts. Das kann nun auch noch warten, all die Jahre, die ich gewartet habe. Auf Guernsey. Ich wollte immer hierher - eine Familiengeschichte. Aber die werde ich erst in einem der nächsten Posts erzählen.

Stattdessen werde ich heute beim Einschlafen an etwas anderes denken. An die Watteschafe, die ich heute langsam über dem Atlantik ziehen sah, während Levje gemächlich nach Norden zog.















Mittwoch, 26. September 2018

Durch die Enge von L'Aber Wrac'h. Von der Einsamkeit des Skippers zwischen Klippen und brechenden Wogen.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
folgte ich der französischen Atlantikküste und erreichte
die Nordküste der Bretagne. Und den Gezeitenfluss L'Aber Wrac'h.


L'Aber Wrac'h. Es gibt nur wenige Namen von Orten, deren Klang allein schon einen Seemann aufhorchen lassen. Vielleicht hat es ja mit dem "Wrac'h" zu tun, ein Klang so nah an unserem "Wrack", dass wir nur an wenig anderes denken können. Dabei hat der Gezeitenfluss seinen Namen von dem gleichnamigen Weiler 33 Kilometer landeinwärts, ein friedliches bretonisches Bilderbuch-Dörfchen. Auch der gleichnamige Fluss, der mit den Gezeiten hin und herschwingt, ist eigentlich ein beschaulicher Ort.

Nur die Einfahrt in diesen Fluss: Sie flößt Respekt ein vor dem Befahren. Wie sich das für die Nordbretagne gehört, stemmen sich vor der Mündung des Flusses Klippen, Untiefen und Sandbänke gegen die aus Nordwesten anrollenden Wellen. Dazwischen hindurch führt ein Hauptfahrweg in den Gezeitenfluss: Magere sechs, sieben Tonnen auf 4 Kilometer, mal rot, selten grün, weisen einseitig den Weg zwischen unsichtbaren Sandbänken, überspülten Riffen, Felsblöcken. Bei einem Tidenhub von über 5 Metern sieht bei Flut "alles easy" aus für ein Dickschiff - eine grenzenlos befahrbare Wasserfläche scheint sich auszubreiten, unter der sich ein gerade mal 200 Meter breiter Kanal versteckt, der sorgfältiges Navigieren verlangt und wenig Fehler verzeiht.


Genau nach Norden zweigt vom Hauptkanal ein weiterer enger Ausfahrtskanal zwischen den Klippen ab. Er führt links (nicht rechts!) der Bojen eng an einer gischtenden Riffkante und der danebenliegenden Felseninsel entlang. Gruslig - doch das erspart den etwa einstündigen Umweg durch die lange Westeinfahrt, durch die ich vor zwei Tagen hereinkam.

Ich weiß nicht, welches Teufelchen es war, das mich am Morgen dazu brachte, durch diese enge Gasse meinen Weg nach Osten zu suchen. Schlichtes Kalkül, auf dem Weg nach Osten nicht einfach eine Stunde wertvoller Zeit zu verlieren? Unzeitiger Eifer, was Abenteuer angeht? Ich weiß es nicht. Der Tag war grau. Die Wolken hingen tief. Und dann war ich plötzlich nördlich der Untiefe mit dem schönen Namen "Petit Pot de Beurre", "Buttertopf" hinter den drei roten 


Tonnen allein. Rechts vor der Küste der einsame Felsen, vor dem die Gischt brach. Zur Linken das langgezogene Riff, dessen Klippen ich nicht sah, weil sie unter Wasser die anrollenden Brecher in schaumige Gischt verwandelten. Sie wies mir wie eine lange Leitplanke den Weg in den engen Kanal, der eine halbe Seemeile weiter hinaus in die offene See führt.


Ob ich manchmal zu mutig bin? Ich weiß es nicht. Drohende Gefahren erscheinen im Kopf erstmal größer, als sie beim Blick in die Seekarte sind. Der Kanal war an der engsten Stelle keine 70 Meter breit, doch selbst bei Ebbe 4,40 Meter tief. Das sollte reichen, sagte die Seekarte.


Doch kaum steuerte ich Levje zwischen die links und rechts brechenden Wogen dort hindurch, wo keine Tonne mehr war und nur eine dünne gestrichelte Linie in der Seekarte die mögliche Passage vorgab, fühlten sich Levjes 3,85 Meter an wie 85 Meter. Und der Felsen, an dem wir im auflandigen Wind eng entlang mussten, jagte mir aus enger Brust ein stilles Gebet über die Lippen, dass doch bitte, bitte jetzt an dieser kritischen Stelle im auflandigen Wind bloß nicht der Motor aussetzen möge. Oder die in der Seekarte verzeichnete Passage nicht wie ein schlechter Scherz in einer Untiefe auslaufen möge. Oder ein Strudel, die es im Gezeitenstrom so reichlich gab, uns plötzlich 15 Meter nach links hinüber Richtung der brechenden Grundseen versetzt. Kormorane beobachteten uns von ihrem Brutfelsen aus sicherer Entfernung. Wahrscheinlich sind sie neugierig, weil ich der erste Idiot bin, der hier durchwill, soufflierte die Angst.


Wer allein segelt, ist eigentlich niemals allein. Das schrieb ich oft auf diesen Seiten. Ich fühle mich auf Levje jedenfalls nie allein. Nur in solchen Momenten, wo niemand da ist, mit dem ich den Sack voller Zweifel teilen könnte, die in solchen Momenten so zahllos um mich sind wie die Felsbänke, die Untiefen, die brechenden Wellen, zwischen denen wir gerade hindurchfuhren. Steuerte ich auch richtig? Gabs die Passage wirklich? War ich auf dem richtigen Kurs? Eine kurze Frage an einen Anwesenden brächte Gewissheit. Die Zweifel mit einem Menschen teilen zu können, ist Luxus. Jetzt war ich ganz auf mich gestellt, in Momenten wie diesen, in denen ich unmittelbar die Folgen meiner Entscheidungen und meines Tuns in der Wucht der mich umgebenden Gewalten spüre: Da fühle ich mich allein. Und bete still zu denen, die mich in diese Welt gebracht haben und längst nicht mehr da sind, von denen ich aber spüre, dass sie immer noch irgendwie um mich sind und auf mich achtgeben. Und sei es nur: Dass sie mir durch warnende Stimmen Einhalt gebieten, wenn ich es gelegentlich zu bunt treibe.


Irgendwann blieben die Brecher, an denen ich eben noch eng entlanggefahren war, hinter Levje zurück, ihr Schaum wehte mit dem Wind fort von uns. Die Felsen rückten in die Ferne, wo sich der Leuchtturm der Ile Vierge zeigte. Mein Schiff hatte mich sicher durch die Felsen und durch die Untiefen getragen. Wir waren im freien Fahrwasser.


Vielleicht finde ich hier draussen, wo sich der Gleichmut von Meer und Natur in echte Bedrohung verwandelt und beides plötzlich in seiner wütenden Gleichgültigkeit so viel größer ist als ich, in Momenten wie diesen eine Antwort. Antwort auf die Fragen, wie ich mich verhalten soll in einer Welt, die bedroht ist. Nicht vom Meer. Nicht von der Natur. Sondern von uns Menschen. 
Das eine ist: Mein Bestes zu geben. In jedem Moment.
Das andere ist: Niemals den Respekt zu verlernen, vor dem hier draußen, das so viel größer ist als wir. Niemals zu vergessen, dass es da ist alle Tage und selbst in Momenten, in denen wir uns in scheinbar größter Sicherheit wähnen. Nicht den Respekt zu verlieren vor dem, was anders ist als ich. Und denen, die anders denken als ich.

L'Aber Wrac'h. Nur ein Fluss, der 33 Kilometer lang ist. Und doch ein Ort, den ich nicht vergessen werde.








Sonntag, 23. September 2018

Atlantiksegeln: Aber Wrac'h. Von sturen Kormoranen, eigensinnigen Bootshaken und Gezeitenflüssen.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
folgte ich der französischen Atlantikküste und erreichte
die Nordküste der Bretagne. 


Das Meer sieht heute aus, wie ich es als Kind zum ersten Mal sah: Wie im Marionettentheater der Augsburger Puppenkiste rund um die Insel Lummerland. Eine glatte spiegelnde Oberfläche. Und lange, hohe Wogen, auf denen ein Segler entgegenkommt. Mal sichtbar auf dem Kamm einer Woge. Mal in einem Wellental hinter einem der rollenden Wasserberge verschwunden.

Im Marionettentheater waren es von einem Ventilator blähende und wehende Plastikfolien, die den Eindruck der Wogen erzeugten, auf denen Lukas, der Lokomotivführer und Jim Knopf in ihrer Lokomotive Emma reisten. Von den technischen Tricks wusste ich damals nichts. Doch von Lukas und Jims Reise war ich so begeistert, dass ich mein Fahrrad sofort "Emma" taufte. Sie war meine Lokomotive, auf der ich jeden Nachmittag auf Abenteuer und Streifzüge durchs Dorf und die umliegenden Wälder reiste. Allein. Dass es Hausaufgaben gab, verdrängte ich in einen großen Komposthaufen in einer Ecke meines schlechten Gewissens. Und meine miserablen Schulnoten steckte ich gleich mit dazu. Das Leben, so flüsterte mein Kopf, hätte Aufregenderes als langweilige Deutschstunden für mich parat.

Viereinhalb Jahrzehnte später: Seit Lummerland hat sich nicht unbedingt viel geändert. Das Meer sieht aus wie jene wogende Plastikfolie, die waagrecht ausweht. Nur dass es für mich nicht mehr aus einem TV-Gerät, sondern dass ich es jetzt im Original, in all seiner Schönheit und Größe, jeden Tag vor mir habe. Heute zeigt es meine Lieblingsfarbe, es leuchtet intensiv in jenem unverkennbaren Graugrünblau, das nur dort entsteht, wo sich Meer und sedimentreiche Flüsse begegnen. Meiner Sammlung an Orten, wo das Meer genau diese Farbe besitzt, kann ich also einen weiteren Ort hinzufügen. Nach der Nordadria, den Lagungen Venedigs, den Küsten des Gargano, der Südküste Siziliens nun also auch die nordwestliche Ecke der Bretagne.

Und auch meine Lokomotive schwimmt inmitten der graugrünblau auswehenden Plastikplane. Nur dass sie sie nicht Emma heißt, sondern Levje. Und ein Segelboot ist, auf dem ich in diesem Sommer über den Atlantik ziehe. Auch die schlechten Noten sind immer noch da. Nur bin ich es, der sie mir ausstellt. Und niemand anderer. Zum Beispiel gestern, beim Anlegen an der Boje von Aber Wrac'h, dem Fluss, der eigentlich eine Ria, ein Gezeitenstrom ist, der in der Mündung kilometerweit mit Ebbe und Flut auf- und abschwillt. Ich hatte Levje gegen die Strömung an eine Boje gesteuert. Ein Kormoran stand plattfüssig darauf. Er beobachtete mein Manöver, blieb einfach stehen, ein strenges Denkmal tierischen Protests, er ließ sich nicht beirren, als wäre er der gestrenge Parkwächter auf diesem Platz,



selbst als Levjes Bordwand 30 Zentimeter neben ihm zu stehen kam und er zu mir hinaufsehen musste. "Meine Insel!" schien er beleidigt zu dem riesigen dunkelblauen Ding zu sagen. Und blieb trotz des großen Eindringlings weiter mit verschränkten Flügeln auf seiner Boje stehen. Erst als ich mich neben ihm auf Levjes Deck aufbaute, mich blitzschnell auf Levjes Deck warf, um bäuchlings nach unten die Boje zu fassen und Levje daran zu vertäuen, flog er träge eine Insel weiter, auf die nächste Boje, die im Strom schwang. Ich mühte mich mit dem Festmacher, er wollte nicht recht, die


Strömung zerrte an Levje, mein Arm wurde lang und länger. Und während ich mich nach Hilfe umsah, verpasste ich in all der Anstrengung dem an Deck liegenden Bootshaken einen kleinen Stups. Er ließ sich das nicht zwei Mal sagen und klatschte trocken in den Fluss, genoß sichtlich die neue Freiheit und zog mit der Strömung weg von Levje, vom Landesinneren magisch angezogen.

Ich sah ihm nach, wie er sich rasch entfernte. Mein Gehirn berechnete meine Möglichkeiten, während meine Hände Levje an der Boje hielten und versuchten, sie zu vertäuten. Den Bootshaken aufgeben? Ich mochte ihn, den die Italiener "mezzo marinaio" nennen, halber Seemann. Ich kann nichts wegwerfen, gar nichts, kein Essen - und meinen Bootshaken schon gar nicht. Nein, das ging nicht. Loswerfen - Hinterherfahren - Einsammeln? Das ist einhand kein leichtes Manöver, schon bei ruhiger See nicht, ich hatte es mal 20 Minuten vor irgendeinem Hafen versucht, an den Bootshaken so ranzukommen, dass ich ihn - wohlgemerkt: ohne Bootshaken - vom Schiff aus sicher bergen konnte. Großes Hafenkino für die Zuschauer auf der Pier. Nicht für mich. Und ein Lehrstück, wie schwierig die Bergung von etwas leblos im Wasser treibenden vom Boot aus ist. Nein, das ging nicht. Es blieb nur Möglichkeit drei: Ich vertäute Levje an der Boje. Sprang nach hinten. Riss mir die Kleider vom Leib. Und sprang nackt ins Wasser des Aber Wrac'h. Das Wasser war frisch, nicht mehr als 16, 17 Grad, ich schmeckte beim Tauchen die Mischung von Süss- und Salzwasser, von Fluss und Laich und salzigem Meer, alles zusammen, was die Mündung eines Flusses ins Meer ausmacht, spürte prickelnd die Kälte auf meiner Haut, tauchte zwischen Placken von Seegras hindurch.

Ich schwamm mit schnellen Zügen hinter dem abtrünnigen Bootshaken her, die Strömung machte es mir leicht, ich hatte ihn in wenigen Augenblicken 100 Meter landeinwärts schnell erreicht.



Und dann begann der schwierigere Teil des Tages. Die Strömung im Fluss betrug kaum mehr als einen halben Knoten, keinen Stundenkilometer, dessen hatte ich vor meinem Sprung ins Wasser aus dem Augenwinkel noch vergewissert. Doch das reichte. Gegen die Strömung Schwimmen ist fies. Gemächliches Schwimmen duldet sie nicht. Verschnaufpausen auch nicht - sofort ist die mühsam gewonnene Wegstrecke verloren. Auch der Bootshaken dachte nicht daran, seine errungene Freiheit aufzugeben und trieb in der Strömung allerhand Unfug. Ich brauchte eine halbe Stunde, um ihn vor mir Meter um Meter zur nächsten freien Boje zu schubsen. Aus der Ferne sah ich Audrey, die Marinera von Aber Wrac'h, die ihr Schlauchboot an Levje vertäutete und sich wunderte, warum das Dinghi da und keiner an Bord war. Ich hoffte, sie würde mich Esel, der sich nackt im Fluss quälte, nicht entdecken.



Unterwegs schalt ich mich einen Idioten. Weil ich auf den Bootshaken nicht aufgepasst hatte. Weil ich die Strömung unterschätzt hatte. Weil das Stillwasser erst in zwei Stunden käme - bis dahin hätte der Fluss mich irgendwo ins Landesinnere gespült. Ich stellte mir vor, wie es wäre, in einer bretonischen Kleinstadt nackt ans schlammige Ufer zu waten. Barfuss. Mit nichts in der Hand als einem läppischen Bootshaken. Was ich tun würde. Ich erinnerte mich an das Spiel, von dem ich einmal gelesen hatte. Man gab in einer x-beliebigen Großstadt Geld, Scheckkarte und Wohnungsschlüssel ab. Und musste zusehen, wie man es schaffte, eine Nacht als Fremder in dieser fremden Stadt irgendwie zu überstehen.

Ich stellte mir vor, wie ich mich splitternackt in die Schlange einer Boulangerie stellen und die Bäckersfrauen um ein altes Hemd, eine Hose, ein Busticket bitten müsste. Würde man das schaffen? Würde ich es schaffen, ohne zu erröten? Vielleicht würde man, wenn man es täte, dadurch Freunde fürs Leben gewinnen. Nicht jeden Tag steht ein graubärtiger Mann nackt mit Bootshaken in einer Bäckerei. Man würde die Menschen jedenfalls kennenlernen. Von ihrer guten Seite, vermute ich. Denn das ist es, was ich auf dieser Reise oft erfuhr: Dass die Dinge nicht annähernd so schlimm kommen, wie man sie sich vor einer solchen Reise ausmalt. Und es häufig gerade wildfremde Menschen sind, die bereitwillig und uneigennützig ihre Hilfe anbieten.

Doch soweit kam es nicht. Mit Armen, die sich wie Gummi anfühlten, erreichte ich schnaufend Levje. An diesem Abend noch hinüber an Land zu rudern ließ ich lieber bleiben - kein Sport mehr heute. L'Aber Wrach musste warten. Doch das machte nichts. Zu schön war der Abend auf dem Fluss. Und in der Strömung. Aber für den nächsten Tag: Da sollte der Fluss noch ein weiteres Abenteuer für mich parat haben.

Die Bretagne: Sie ist reich. An Schönheit. Und Abenteuern.







Donnerstag, 13. September 2018

Von Brest nach L'Aber Wrac'h. Von hohen Wellen. Von berühmten Leuchttürmen.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich den äußersten Nordwesten der französischen Atlantikküste nördlich von Brest.




Vor einer Woche habe ich den Hafen von Brest verlassen. Kurz bevor ich ablegte, geht ein anderes Schiff hinaus. Sein Rumpf und seine Stoffüberzüge sind gelb, liebevoll ist eine französische Trikolore auf die Windfahne gemalt. Doch am auffälligsten ist, was sich der französische Skipper in großen Lettern zu beiden Seiten auf den Rumpf gemalt hat: "Homme libre, toujours tu chériras la mer!" - Du freier Mensch, immer wirst Du das Meer lieben.

Ich schaue ihm nach, als er den Hafen verlässt. Er ist einhand unterwegs, wie ich. Und eh ich meine Leinen losgeworfen und draußen vor der langen Mole des Marinearsenals im leichten Westwind mein Großsegel gesetzt habe, ist er schon verschwunden. Ich habe den Kopf voll mit anderem. Die Strömung will meine ganze Aufmerksamkeit. Hinter dem Marinearsenal, wo sich der Kanal zum Goulet de Brest verengt, einer Durchfahrt zwischen den Felsen, nimmt sie deutlich zu. Obwohl ich mich nur mit 4,5 Knoten durchs Wasser bewege, zeigt das GPS über 9 Knoten, das ablaufende Wasser trägt uns in rascher Fahrt in den Atlantik hinaus. Doch dort, wo sich der Goulet zum Atlantik hin öffnet, nimmt der Westwind zu. Die Wellen werden höher, als der Wind gegen die Strömung über die Wasseroberfläche streicht, knallt Levje ein ums andere Mal in die Wellertäler, wird brutal aufgestoppt, während ich höre, wie der Propeller unter mir kraftvoll, doch wirkungslos durchs Wasser quirlt. Ein paar verwegene Angler haben sich abseits der Wellen in ihren kleinen weißen Booten verankert, die Fische scheinen den Wellenwirrwarr zu mögen, nur schnell weiter, dort vorn, wo der Leuchtturm von Saint Matthieu vor der Klosterruine steht, sehe ich, dass das Meer wieder ruhiger wird.


Da ist die Insel Ouessant, die Engländer nennen sie Ushant. Lang und flach liegt sie da. Doch wie ein Feuerschiff trägt sie auf den umgebenden Kaps und Riffen die Leuchttürme, die den Schiffen von Süden oder Westen den Weg in den langen Trichter des Ärmelkanal weisen. Den Leuchtturm von Creac'h an der gleichnamigen Pointe de Creac'h in der nordwestlichsten Ecke Ouessants.

Und dann ist da ganz im Süden von Ouessant der Phare de la Jument. Es brauchte nur ein einziges Foto, um ihn und seinen Fotografen weltberühmt zu machen. Während eines Südweststurms mit Böen über 10 bft. schoss Jean Guichard aus einem Hubschrauber das Foto seines Lebens. Von dessen Lärm neugierig gemacht, öffnete der Leuchtturmwärter Theodor Malgorn die Stahltür des Leuchtturms und trat hinaus - nicht ahnend, dass in diesem Augenblick ein Brecher in seinem Rücken die Gischt turmhoch aufwerfen würde. Guichard drückte auf den Auslöser und Malgorn, alarmiert durch das Vibrieren des Turms und Donnern hinter ihm, zog sich blitzschnell ins Innere des Turms zurück und schloss die Tür, bevor die Welle über das Fundament des Turmes hinwegspülte. Das Foto ging um die Welt.

Und nicht zum ersten Mal, denn wie viele bretonische Leuchttürme verdankt auch La Jument seinen Bau einem Unglück. In einem Sturm zerschellte an den Felsen die Drummond Castle, fast alle Passagiere starben. Die Katastrophe bewegte die Menschen. Ein bretonischer Privatmann verfügte, aus seinem Nachlass 400.000 Francs für den Bau eines Leuchtturms auf dem Felsen zur Verfügung zu stellen. Aber einen Leuchtturm wie den von La Jument baut man nicht mal so eben. 1904 begonnen, dauerte es fast sieben Jahre, bis das erste Leuchtfeuer dort oben brannte. Er ist mit Stahlseilen im Fels verankert.

Der Leuchtturm von Le Four an der Nordwestecke der Halbinsel vor Brest...
Vor dem Leuchtturm von Le Four holt mich die Gegenwart wieder ein. Nördlich davon sind die Klippen und Untiefen von Pen Ar Ven d'Amont. Ich bin zwar ein gutes Stück westlich, aber mit einem Mal wird das Meer unruhig. Eben noch war die See spiegelglatt, jetzt brodelt sie um Levje herum. Vor den Untiefen steigt das GPS auf über acht Knoten Geschwindigkeit, ein Sog zieht uns an den Untiefen entlang nach Norden, Levje schwankt und wankt durch die Wellen, als wäre sie betrunken. Sie dreht wirre Kreise, wo plötzlich Tiefenwasser nach oben steigt und einen Strudel erzeugt. Stolpert über Wellenkämme, als wären sie Bordsteine, um gleich dahinter mit lautem Krachen ihrer siebeneinhalb Tonnen Material im nächsten Wellental aufzuschlagen.

... er warnt vor den Untiefen von Pen Ar Ven d'Amont.
An meinem Schiff liegt das nicht. Das Meer ist hier umspült als kräftiger Gezeitenstrom die Untiefen. Das macht seine Oberfläche an diesem fast windstillen Tag zu einem brodelnden Etwas, das keine 10 Meter weiter in ein spiegelglattes Fußballfeld mündet, während von Westen gemächlich wie eine Dampfwalze der nächste Wellenkamm anrollt, zu dessen Gipfel ich hinaufsehe.



"Homme libre, toujours tu chériras la mer!" Da ist sie wieder, die gelbe Yacht mit dem Schriftzug. Ich erkenne ihr gelbes Segel hinter einem der anrollenden Wellenberge, nur die obere Hälfte des Mastes lugt hervor. Einen Augenblick später sehe ich das Schiff und seinen Skipper, der wie ich andächtig über sein Bimini die anrollenden Wellenberge betrachtet und still nach Westen hinübersieht. Er weiß wie ich, dass wir etwas Grandioses erleben, das Gefühl der Geborgenheit in dieser ungebändigten Unwirtlichkeit, sie nicht beherrschen zu können und doch in dieser Wildheit für einen Augenblick ein willkommener Gast zu sein, geduldet als Zuschauer, aber niemals mit der Einbildung, Herr zu sein über das Geschehen.

Vielleicht hat der französische Skipper recht, den Satz aus dem Gedicht Baudelaires an seine Bordwand zu schreiben. "Du freier Mensch, immer wirst Du das Meer lieben. Das Meer ist Dein Spiegel, Du schaust Deine Seele darin."

Ich winke hinüber zu ihm, er grüßt zurück, dann sind wir wieder allein mit uns und dem Moment. Und doch eins mit allem.


Stunden später. Da ist der Leuchtturm auf der Ile Vierge. Auch er wurde in jenen Jahren gebaut, in denen La Jument errichtet wurde. Und wie er ist auch der Leuchtturm der Ile Vierge eine Berühmtheit. Er ist der höchste Leuchtturm Europas, 360 Stufen muss man erklimmen bis zu seinem Licht, das den Weg in den Ärmelkanal weist.

Doch vor ihm ist die Einfahrt in den Aber Wrac'h, einen Gezeitenfluss, der mit Ebbe und Flut steigt und fällt. Die Einfahrt führt voraus zwischen den Klippen hindurch, ich sehe zwar die erste rote Tonne, aber die zweite noch nicht. Und weit und breit ist kein Schiff, dem ich folgen könnte. Mir ist mulmig. "Reiß Dich zusammen. Hier ist die rote Tonne - die lässt Du links liegen. Dort vorne muss irgendwo die grüne Tonne sein. Du siehst sie nur noch nicht."

L'Aber Wrac'h. Schon der Name klingt nach Unheil. Kein Schiff weit und breit. Die Seekarte sagt erstmal, hier sei alles flach, nur ein paar unsichtbare Kanäle führen zwischen die Riffen hindurch. Hoffentlich sind die Tonnen nicht vertrieben, ich folge jetzt einfach dem Weg, den ich mir heute früh auf der elektronische Seekarte entlang der Tonnen von Riff zu Riff eingetragen habe. Ich taste mich heran, so langsam das geht in den Wellen, die mich achtern in die Riffe hineinschieben. Tatsächlich. Neben einem der Felsen, an dem die Wellen brechen, taucht versteckt die grüne Tonne auf, ich lasse sie rechts liegen und sehe die nächste Tonne rot vor mir. 

Und dann bin ich drin. Die Klippen liegen hinter mir. Das Flussdelta empfängt mich. Die Welt wird still. Und meine Fahrt ein langsames Gleiten auf dem zwischen Sandbänken träge liegenden Aber Wrac'h. Doch beim Anlegen an der Boje wartet ein neues Abenteuer auf mich. Die herrliche Bretagne - sie lässt dem Seemann keine Ruh'.

Naja. "Du freier Mensch, immer wirst Du das Meer lieben." 







Sonntag, 9. September 2018

Ankommen in Brest. Und eine ungewöhnliche Marina.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich den äußersten Nordwesten der französischen Atlantikküste. 
Und Brest.

Der Goulet de Brest: Die Einfahrt in den Hafen von Brest.
Die Ankunft in der Marina von Brest war, wie mein Morgen in der Meerenge zwischen Pointe de Raz und der Ile de Sein gewesen war: Ruppig. Während ich in die weite Bucht einlief, an deren Nordufer die Stadt Brest liegt, überzog sich der Himmel von Nordwesten her, wo das betonene Ungetüm des einstigen U-Boot-Bunkers lag, mit grauen Wolken. Die Sonne verschwand. Als ich die Kaimauern des äußeren Hafens passiert hatte und kurz vor der Einfahrt in den Port du Chateau unterhalb des Schlosses stand, schickte der Himmel erste Regenböen. Levje legte sich auf die Seite. Ein Schlepper der französischen Marina rauschte wenige Meter an uns vorbei, als hätte er es eilig, noch vor dem großen Regen unters Dach zu kommen. Dabei will er nur in den Militärhafen an der etwas weiter nördlich gelegenen Penfeld, dem Fluss, dem Brest alles verdankt, weil auf ihm Frankreichs Marine im 17. Jahrhunderts geboren wurde. 

Wind mit 20 Knoten genau in der engen Durchfahrt. Regen, der heranjagte. Ich rief über VHF den Hafen an, um nach einem Liegeplatz zu fragen. Ein zartes Stimmchen antwortete aus dem Funkgerät inmitten des Sauwetters. Ich möge nur kommen, sie würde mich in der Einfahrt erwarten. Keine 20 Sekunden später kam sie in ihrem Dinghi angebraust, stoppte es kunstvoll im Regenschauer neben mir auf und bedeutete mir, ich möge folgen. Da saß in dem Dinghi wie so oft in französischen Marinas statt eines Marineros eine Studentin. Sie war noch weniger auf das Sauwetter vorbereitet wie ich. Unter der Schwimmweste trug sie keine Jacke, nur einen leichten Pullover. Wieder einmal fühlte ich mich, der ich noch die Wärme des Mittelmeers auf der Haut spürte, wie ein Weichei. Bretonen scheinen ein anderes Verhältnis zur Temperatur zu haben: Wenn ich seit einer Viertelstunde darüber nachdenke, mir Wollmütze und Seestiefel überzuziehen, sausen sie in T-Shirt und barfuß in Bootsschuhen herum.

Aber Europäer sind nunmal verschieden, was ihre Temperaturempfindung angeht. Sizilianer kuscheln sich im Dezember bei 19 Grad tief in ihre Daunen-Anoraks - schließlich sei ja Dezember, da ist es kalt, auch wenn es 19 Grad hat. Bretonen brausen auf ihren Motorbooten bei 13 Grad und Regenschauer im T-Shirt rum, schließlich sei ja August, da ist es warm. Ich schaue ihnen oft verblüfft nach, wenn meine letzte Nebelbank keine 3 Minuten hinter mir liegt und mir die Finger klamm sind vor Nebelkälte. Mein inneres Thermometer ist anders eingestellt. Ich friere selten. Doch wenn ich friere, friere ich, da kann kein Blick in den Kalender mein inneres Thermometer durch wundersame Selbsthypnose beeinflussen.

Sie nahm meine Leinen an. Marina, ausgerechnet so hieß die Studentin im Dinghi, hatte heute ihren letzten Arbeitstag im Port du Chateau. Ob ich gleich einchecken wolle: Sie hätte übrigens alles dabei. Ich war skeptisch. Einchecken sofort auf dem Boot? Hatte ich noch in keinem Mittelmeerhafen erlebt und auch in keinem den 34 Häfen, die ich seit Sizilien entlang der Süd- und Westküste Europas besucht hatte. Außer dem winzigen beigen Rucksack in ihrem regennassen Dinghi hatte Marina nichts bei sich. War ihr Büro in der grauen Schwimmweste versteckt? Tatsächlich hatte sie alles im Rucksack. Anmeldeformular und Quittungsblock. Geduldig füllte sie im Cockpit alles aus. Nahm danach meine Scheckkarte an, das Abbuchungsgerät war ebenfalls in den unergründlichen Tiefen ihres winzigen Rucksacks, während sich hinter uns auf der Mole von Brest Spaziergänger im Regen in ihre Jacken kauerten.


Sie wäre 21. Und meine Frage, wieso sie denn die rauhe Arbeit eines Marinero machen würde, es sei kein Wetter heute draußen zu sein, lachte sie nur. Sie studiere Meeresökologie. Und das Bootfahren hätte sie auf dem Katamaran ihrer Eltern gelernt. Die Saison sei fast vorbei, sie wollte jetzt im Herbst ihren Master-Studiengang der Meeresökologie wieder aufnehmen. Am meisten würden sie ja "les phoques" interessieren. Da muss ich erstmal online nachschlagen. Ahh, die Seerobben. Es gäbe eine Seerobbe hier im Port du Chateau von Brest, ein Männchen, das gelegentlich im Becken des Hafens auftauchen würde und photogen vor den Seglern im Wasser planschen würde. Les phoques: Die würden sie am meisten interessieren. Und "les cormorans", die Kormorane, die es jetzt langsam auch in die Bucht von Brest zurückkehrten. Ob die gefrässigen Kormorane denn gut für die Ökologie des Meeres wären, schließlich verdrückt jeder der entengroßen Vögel pro Tag 1-2,5 Kilogramm Fisch. Aber davon lässt sich Marina nicht beirren. Sie mochte die witzigen Vögel, wenn sie sich auf einem überspülten Felsen aufrecht der Sonne entgegenreckten und räkelten, um ihr Gefieder mit ausgestreckten Flügeln wie ein zu klein geratener Bundesadler zu trocknen. Ja, und überhaupt, die Meeräschen im Hafen...

Dann quäkt mein Funkgerät ihren Namen "Marina, Marina, s'il vous plait." Ob sie denn schnell meines benutzen dürfte, ihres wäre ja unten im Dinghi. Sie nimmt mein Funkgerät in die Hand. Und bespricht mit dem Hafenkapitän, wo denn jetzt gerade noch Platz für die 20-Meter-Yacht wäre, die in wenigen Minuten in den Hafen käme. Artig gibt sie mir mein Funkgerät zurück. Steigt in ihr Dinghi. Startet den Motor. Und braust dem Hafeneingang entgegen, über dem gerade aus dem nächsten grauen Wolkengebirge die weitere Regenfahnen wehen. Ich schaue ihr nach. 

Nein, um dieses zarte Gebilde Europa ist mir mit Menschen wie Marina nicht bange. Nur tut es mir nach einem Gespräch wie diesem leid, in welch schlechtem Zustand wir der nächsten Generation und Menschen wie Marina unsere ungelösten Probleme weiterreichen. Es kommt mir vor wie ein ganzer Sack: Ungebremste Umwelt- und Klimaschädigung. Artensterben. Ein Europa, das wackelt. Entfesseltes Bevölkerungswachstum. Dahinschleichende Finanzkrise. 
Ob wir die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben, meine Generation und ich? Da werden wir weiter mit argen Zweifeln leben müssen. Ich schaue Marina nach und schicke ein Gebet zum Himmel, dass er und das Leben es gut mit ihr meinen mögen.

Wieder einmal sehe ich auf Levje im Port de Chateau von Brest zu, wie es weiter fällt und fällt, bis wir am Abend weit unter der Mole von Brest liegen, die wir vor wenigen Stunden noch auf Augenhöhe hatten. Spaziergänger, die wir eben noch auf gleicher Höhe hatten, könnten jetzt auf uns herunterschauen. Wenn sie es wollten. Doch sie gehen ihrer Wege, wie die Welt auch.










Donnerstag, 6. September 2018

Ile de Groix. Ein Hafen. Ein Fahrradverleiher. Und das Grab des Wikingers.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln. 
Eine von ihnen ist die Ile de Groix, nur wenig entfernt vom Hafen von Lorient.



Das mit den Inseln, es geht tiefer als ich dachte. Eigentlich hatte ich angenommen, mit meinem Buch über die vergessenen Inseln sei alles erledigt. Doch immer wieder bleibe ich auf dieser Reise um Westeuropa an Inseln hängen. An Inseln wie Groix, an Halbinseln wie Quiberon.

Dahinter steckt nicht nur mein Fasziniert-Sein, wenn Inseln sich spröde zeigen und einsam. Auf Inseln hat sich etwas erhalten, was auf dem Festland abhanden gekommen ist. Geschichte und Geschichten entdecke ich ursprünglicher als auf dem Festland, sie sind noch da, sind intensiver und noch nicht abgegriffen. Und sie hauen mich manchmal um, als wären Inseln ein Ort, an dem Geschichten nichts von ihrer Intensität verlieren. Wie das Schiff des Wikingers, dessen Reste ich auf der Ile Groix fand.

Ich war an einem frühen August-Nachmittag im Hafen von Groix angekommen. Pascal, der aussah wie ein Student und der einzige Marinero im Hafen war, hatte in seinem Dinghi alle Hände voll zu tun, die einlaufenden Boote in den beiden Teilen des engen Stadthafen unterzubringen. Doch mit welcher Chuzpe, mit welcher Meisterschaft Pascal dabei vorging, das sollte ich erst am nächsten Abend vom Kai aus sehen. Vorerst begnügte mich damit, dem Wasser beim Fallen zuzusehen. Und irgendwann verwundert auf die beiden Ebenen des Stadthafens zu blicken, denn als ich ankam, war alles noch ein Hafen gewesen: Die eine Ebene oberhalb war durch eine Mauer mit Schleuse gesperrt und lag bei Ebbe nun fast zwei Meter höher als die untere. Wer oben raus wollte, der musste warten, dass von unten die Flut kam.


Am nächsten Tag lieh ich mir bei Jean-Luc, dem bärtigen Fahrrad-Verleiher, das letzte Fahrrad, das man sich auf der Insel noch leihen konnte. Jean-Luc war ein Mann wie ein Bär. Er sah nicht nur aus wie ein Fischer, der auf der Insel geboren war. Er war auch ein Fischer. Und geboren war er hier auch. Das Leben hatte ihn hier auf der Insel lachend in seine Bretterbude gestellt, in der er Fahrräder vermietete und auch Eis aus der Vitrine verkaufte, die er wenige Minuten vorher vor seine Bude gerollt hatte. Doch im Herzen war er Seemann geblieben, das sollte ich noch merken.

Ich strampelte los, hinüber auf die Westseite der Insel. Obwohl Groix kleiner ist als die Ile d'Yeu, war das anstrengend. Gleich hinter dem Hafen ging es steil bergauf, zwischen den alten Stadtmauern und den Stadthäusern hindurch, die erzählten, dass die Fischerei die Insel einst wohlhabend gemacht hatte. Wie an vielen Orten der bretonischen Südküste waren sie in Groix auf den Fang von Thunfischen spezialisiert, noch 1990, als ich zum ersten Mal die Bretagne besucht hatte, hatte ich am Festland den Thunfisch-Trawlern zugesehen, die in Lorient die zwei, drei Meter langen Thunfische mit Kränen ausluden.



Doch in Groix ist davon heute nichts mehr zu spüren. Es gibt keinen Thunfischfang mehr. Ein paar prächtige Häuser, ein paar alte Fischer, die im kleinen Museum am Hafen in kehligem bretonisch von den alten Zeiten erzählen. Und dort, in dem kleinen Museum, zwischen Relikten des Thunfischfangs und anderen Dingen hatte ich eine erste Spur entdeckt: Ein Modell des Grabhügels, in dem man einen Wikinger samt seinem Schiff neben einer grazilen Person hier auf der Insel begraben hatte. Ich wollte mir zuerst die Stelle ansehen, an der der Grabhügel gestanden hatte.

Eigentlich verlasse ich mich bei meinen Landausflügen auf Google Maps. Doch das führte diesmal in die Irre. Als ich nach 20 Minuten hügelauf, hügelab auf der Westseite von Groix in der Bucht ankam, entpuppte sich, was in Google Maps als "Viking Shipgrave" verzeichnet war, als eingestürzter Dolmen. Doch vor meiner Abfahrt hatte ich Jean-Luc, den bärtigen Fahrradverleiher in seiner Bretterbude nach dem Hügel gefragt. Er stutzte kurz auf meine Frage. Sah erst mich prüfend an. Und dann auf die postkartengroße Inselkarte vor sich. Und malte genau an der Stelle, an der ein langer Sandstrand  im Osten endete und in die Hafenmole mündete, ein Kreuz, ohne zu zögern. Ich hätte es mir denken können - als Seemann hatte er gelernt, dass ein Ort nicht nur ein haltlos im Raum schwirrender Punkt ist. Sondern ein Ort immer durch einen anderen definiert ist: "Wo der lange Sandstrand im Osten an der Kaimauer endet", die Fähigkeit einer Beschreibung, die uns Google Maps vielleicht in spätestens einer halben Generation abtrainiert haben wird, weil wir sie nicht mehr brauchen.


Da war die Stelle. Farne und Dornenhecken bedecken den Boden, in denen wilde Himbeeren hingen. Ich folgte dem schmalen Pfad bis zu den Klippen, von dem aus man über die beiden Buchten links und rechts blicken konnten. Und die ihre Geschichte erzählten.

Unmittelbar an den Klippen hatten Ausgräber einen kreisrunden Hügel geöffnet, das Meer hatte ihn bereits angenagt hatte. Sie entdeckten darin die angekohlten hölzernen Trümmer eines Schiffes. Und das Skelett eines Mannes und ein graziles daneben.

Der Ort war gut gewählt. Die Bucht war voller Untiefen, ich sah die Seezeichen und beobachtete eine große Segelyacht bei dem Versuch, sich zwischen den Tonnen zum geschützten Sandstrand durchzulavieren, als sie abrupt stoppte. Und sich plötzlich sachte wieder rückwärts hinaus tastete. Sie hatte keinen Weg zwischen Untiefen gefunden. Doch nordische Seeleute des 10. Jahrhunderts



konnten das vermutlich an einem Tag wie heute besser: Ein Mann mit gutem Augenlicht im Masttop sah nicht nur den Grund unter sich, sondern auch im weiten Umkreis. Er fand einen Weg zwischen den Riffen. Und wenn man ihn fand, hatte man am langen Sandstrand einen komfortablen und vor allem geschützten Ankerplatz. Ich begriff: Die Bucht vor dem Sandstrand war der Ort, den die Wikinger auf der Reise mit ihrem Schiff aufgesucht hatten. Hier war ihr Hafen gewesen. Hier hatten sie gelagert. Von hier aus hatten sie sich der wochenlangen Mühe unterzogen, das Schiff auf die Landzunge heraufzuzerren. Es mitsamt den Toten zu verbrennen. Und einen aufwändigen Hügel über der Asche erst aus Steinen, dann aus Erdreich zu errichten, wie man sie nur aus Skandinavien kennt. Doch was hatte sich da unten in der Bucht von Groix abgespielt? Woher waren die Wikinger gekommen?

Die Ausgräber waren neben den Knochen auf zahllose Ausrüstungsteile gestoßen, die man dem Toten mitgegeben hatte. Er war zweifellos ein Anführer gewesen, sein hölzernes Langschiff so groß wie Levje, um die 11 Meter, soviel konnte man aus den im Hügel entdeckten 800 Nieten, Bolzen und Nägeln, die das Langschiff zusammengehalten hatten, errechnen. Anhand des verkohlten Plankenrests einer bestimmten Eichenart konnte man feststellen, dass sie an den Ufern der Loire gewachsen und gefällt worden war.

Noch erstaunter waren die Ausgräber, als sie darangingen, die Herkunft der weiteren Objekte zu ermitteln. Da war ein kleiner Ring aus Gold. Vielleicht hatte ihn die Frau am Finger getragen? Er stammte jedenfalls aus dem Süden Norwegens, etwa 1.000 Seemeilen von Groix entfernt. Die kunstvoll verzierte Spitze einer Schwertscheide aus Bronze: Sie kam noch einmal von 1.000 Seemeilen weiter östlich, aus Birka, nördlich der Insel Gotland in der Ostsee. Eine Gürtelschnalle, die Schmiede vermutlich in Haithabu in der Nähe Schleswigs geschmiedet hatten. Eine Lanzenspitze mit Widerhaken aus fränkischer Produktion, gehämmert 600 Seemeilen entfernt irgendwo in einer Schmiede irgendwo zwischen Rhein und Weser, genauso wie zwei Äxte. Die silberne Spitze  eines ledernen Gürtels, fein mit nordischen Ornamenten ziseliert, von einem Silberschmied in Südengland geschaffen. Der Rest eines Feuer geschmolzenen Goldrings, der irgendwo von der Charente stammte. Spielsteine eines Brettspiels aus Knochen. Ein Würfel in Quaderform aus Elfenbein, das es so nur in Afrika oder Indien gegeben haben konnte.
 

Er war ein wohlhabender Mann gewesen, der die Insel besucht, vielleicht hier gelebt und mit großer Sicherheit hier gestorben war. Eine Wunde? Krankheit? Er war nicht alt gewesen, ein Reisender unterwegs wie sie alle. Wie wir alle. Wie ich. Und ein Mann seiner Zeit, dessen Ausrüstung eindrucksvoll belegte, dass er zutiefst mit den europaweiten Handelsströmen des zehnten Jahrhunderts verwoben war und sie zu nutzen wusste. Er war nicht nur ein Barbar aus einem Kaff an der Küste Jütlands, sondern jemand, der im 10. Jahrhundert die europäischen Küsten bereist und sich mit dem, was dieses Europa an Luxus zu bieten hatte, umgeben hatte - im Leben wie im Tod. Sein Pferd und seinen Hund hatte man getötet. Und zusammen mit ihm verbrannt. Es ist nicht auszuschließen, dass man ihm, um sein Wohlbefinden in Wallhall zu mehren, auch seine Lieblingssklavin mit auf die Reise in die Anderwelt gschickt hatte - das grazile Skelett an seiner Seite.


Als ich Jean-Luc am Abend das Fahrrad zurückbrachte, war der bereits dabei, seine kleine Bretterbude am Hafen zu schließen. Ich schlenderte ich in der anbrechenden Dunkelheit um den alten Hafen. Und konnte sehen, wie gut Pascal, der Marinero von Groix gearbeitet hatte. Ich sah in der Dämmerung, wie er Schiff auf Schiff in drei Reihen geschlichtet und hintereinander an zwei Bojen vertäut worden. Ein dickes Knäuel, das sich am nächsten Vormittag wieder entwirren würde, sobald auch nur der erste sagen würde: "Ich möchte jetzt los." Aber da wäre ich dann schon weiter. Ich wollte gleich frühmorgens um sieben aufbrechen. Unterwegs sein entlang der Insel Groix zum nächstem Ziel meiner Reise.




















Montag, 3. September 2018

Durch die Races. Durch die Meerenge zwischen Pointe du Raz und Ile de Sein.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln und 
segelte nun auf Brest zu. 



Zum Charakter dieser Reise gehört meine eher schlichte Art der Reisevorbereitung. Ich habe mich um mein Schiff gekümmert und dafür gesorgt, dass es im bestmöglichen Zustand ist. Ich habe den Winter über keine Seekarten studiert und nicht über Reiseberichten gebrütet. Ich habe mir nicht die günstigste Route oder die besten Häfen ausgewählt oder gefährliche Stellen mit "Rot" in den Karten markiert. Im Grunde genommen bin ich in Sizilien aufgebrochen nur mit dem groben Plan, für 2.000 Seemeilen 4 Monate Zeit zu haben. Pro Monat also 500 Seemeilen zurücklegen zu müssen. Mehr hatte ich an Planung nicht.

Zum Teil entspringt dies meinem Bedürfnis, nicht am Morgen schon zu wissen, wo ich am Abend mein Haupt betten werde. Zum anderen aber ist es aber auch Konzept: Mein Schiff mag modern sein, und die Wettervorhersagen 500 mal präziser als alles, was phönizische Steuerleute, nordische Schiffsführer, Nelsons Kapitäne wer sonst zum ersten Mal diese Küste befuhr zur Verfügung hatten. Aber sonst: Will ich diese Küste buchstäblich er-fahren, wie sie diese Küste erfuhren: Wie jemand, der sie zum ersten Mal bereist. Und nur mit meiner Erfahrung.

Zwar gönne mir zwei Dinge: Den präzisen Wetterbericht. Zur Not auch mal zwei. Und mir am Nachmittag, wenn ich mir überlege, welchen Hafen oder Ankerplatz ich ansteuere, mir Informationen darüber einzuholen, doch meist ist dies erst am späten Nachmittag. Sonst: Rausfahren. Und Segeln.

Für Menschen mit größerem Sicherheitsbedürfnis mag das der Alptraum sein. Tatsächlich komme ich gelegentlich nicht umhin, zu sagen: "Schwein gehabt." So wie gestern. Ich hatte die Nacht vor dem langen Sandstrand von Audierne geankert. Und noch am Morgen überlegt, ob ich nicht vor dem Sandstrand bleiben sollte, schwimmend, lesend, Levje und mich mit Ebbe und Flut auf und ab tragen zu lassen und den Tag verstreichen zu lassen. Es war Nordwest mit 25-20 Knoten angesagt - wie so häufig. Doch ich wollte weiter, so schön der Strand auch leuchtete und der Frieden in der Bucht auch sein mochte. Ich holte um acht Uhr Morgens den Anker, setzte das Großsegel, und fuhr Richtung Westen, um vor Pointe du Raz, wo der Wind auffrischen würde, zu versuchen, nach Nordwesten Richtung Brest aufzukreuzen.


Soweit so gut. Als ich Pointe du Raz erreichte, lief ich unter Maschine und Großsegel. Kabbelige See vor dem Kap. Zu unstet, zu launenhaft hatte der ablandige Wind von der Felsküste heruntergeblasen, als dass man gegen die Welle hätte ansegeln können. Links lag die Ile de Sein, die so verlockend im Morgenlicht leuchtete, dass ich gerade die Seekarte prüfte, ob ich nicht den Tag dort verbringen wollte. Ich war noch mit dem Internet beschäftigt, als sich schlagartig die Bedingungen in der Durchfahrt änderten. Ich sah vom Internet auf: Der Windmesser zeigte 15 Knoten von vorn. Die Geschwindigkeit nach GPS zeigte neun Knoten - und das gegen 15 Knoten Wind. Und wenn ich nach rechts schaute, hinüber zum Leuchtturm von Tévenne, dann bildeten sich dort lange Brecher. Schäumende Grundseen - brechende Wellen, als würde dort, wo ich hinsteuerte, sich meilenweit Riffe und Sandbänke hinziehen.

Unüberhörbar schrillte in meinem Kopf, der eben noch über die Ile de Sein nachgedacht hatte, die große rote Alarm-Klingel. Ich starrte in die Seekarte. Aber westlich des Leuchtturms waren in der Seekarte keine Untiefen. Und auch kein Riff. Ich schaute nach vorn. Kein Zweifel. Da brachen große Wellen. War meine Position nicht die richtige? Mindestens zehn Mal starrte ich nach vorn, und mindestens 12 Mal in die Seekarte. Nein alles richtig. Wir standen südsüdöstlich des Leuchtturms von Tévennec.

Und: Wir hatten Strom. Die Seekarte sagte, dass gerade viereinhalb Knoten Strom durch die Meerenge schoben. Daher die achteinhalb, neun Knoten Speed auf dem GPS - trotz 15 Knoten Gegenwind.



Die Wellen wurden steiler. Rollten mächtiger von vorne. Ich rannte nach unten, um mein Steckschott zu holen. Falls wir querschlagen oder eine der steilen Wellen seitlich ins Cockpit einsteigen würde, dürfte unter keinen Umständen das Schiff volllaufen. Zur Sicherheit zog ich das Schiebeluk zu und sprang wieder hinter das Steuer, um ein Gefühl für mein Schiff zu bekommen.

Wieder rollte eine dieser ungewöhnlich hohen steilen Wellen an, überschlug sich vor uns und hinterließ einen Gischt-Teppich auf dem Wasser. Levje kletterte einfach die Welle hinauf, um drüben Bug voraus nach unten zu knallen und dann die Rückseite der Welle hinunterzusurfen. Wie steil die Wellen waren, welche Steigung Levje unter Motor und Groß hinauf und hinunterkletterte, begriff ich erst, als ich meinem Schiebeluk zusah, das sich wie von Geisterhand bewegte. Sich öffnete, wenn wir einen Wellenkamm hinunterfuhren. Sich unsichtbar bewegt schloss, wenn wir hinauffuhren. Ich hatte vor der Abfahrt in Sizilien die Gleitschienen mit Teflonspray eingesprüht - jetzt lief es im Auf und Ab tatsächlich wie geschmiert.



Ich starrte auf den Tiefenmesser. Gute 32 Meter unter mir, leicht steigend. Erstaunlich, wie klar mein Verstand in dieser Situation blieb. Die Wellen rollten immer noch mächtig von vorn an. Ich musste hier raus, sagte mein Gehirn. Aber auch, dass die brechenden Seen nichts mit der Wassertiefe zu tun hatten. Das waren 5 Knoten Strom gegen 15 Knoten Wind in einer engen, düsenartigen Durchfahrt vor dem Kap. Was für raue See würde das erst bei 25 Knoten geben. Trotzdem musste ich aus diesen Wellen von der Kraft und Gewalt von Grundseen irgendwie raus.

Ich dachte nach, an meine Erfahrungen bei 25 Knoten vor der galizischen Küste. Von der Seite hatten die Wellen ebenfalls bedrohlich ausgesehen - wie Wände aus Wasser, die seitlich auf uns zurollten. Aber dann war Levje, unterstützt vom Großsegel, einfach hinaufgeklettert, als wöge sie nur ein Bruchteil ihrer siebeneinhalb Tonnen. Vorsichtig legte ich Ruder, drehte Levjes Nase aus den heranrollenden Wellen, nahm die nächste Welle mehr seitlicher. Es funktionierte. Mein Schiff beschleunigte. Wenn jetzt nur keine von den Wellen seitlich über der Bordwand brach. Doch das taten sie nicht.


Mein Kurs führte jetzt nordwestlicher, auf den Leuchtturm von Tévennec zu, der wie das Zwiebeltürmchen eines russisch-orthodoxen Kirchleins auf seinem nackten Felsen hockte und zwischen den ihn umgebenden Riffen zu uns herübersah. Zehn Minuten später beruhigten sich mit einem Schlag die Wellen, als hätte ich deren Spielplatz verlassen. Wir waren aus der engen Durchfahrt zwischen Pointe du Raz und der Ile de Sein hindurch. Ich konnte die Genua ausrollen. Und den Motor abstellen. Wir liefen immer noch mit sieben Knoten, geschoben vom Strom, nach Norden.


Und jetzt? Wenn ich über alles nachdenke, habe ich Glück gehabt. Glück, dass ich ahnungslos mit der richtigen "Besegelung", nämlich unter Groß und Motor in die Grundseen gelaufen bin. Der Motor gab dem Schiff Kursstabilität, die ich unter Segeln in den schwachen 15 Knoten nicht gehabt hätte. Das Groß gab ihm Seitenstabilität. Ich hatte ohne Verstand, doch mit Glück die richtige Entscheidung getroffen. Ich dachte daran, wie ich am Anfang meiner Berufsjahre ältere Verleger gelegentlich gefragt hatte, worauf es wirklich ankäme in diesem Beruf. Und hatte von den Alten oft nur die eine für mich unbefriedigende Antwort zu hören bekommen: "Am Ende ist alles Glückssache." Vielleicht hatten sie doch recht.