Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln.
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich den äußersten Nordwesten der französischen Atlantikküste.
Und Brest.
Der Goulet de Brest: Die Einfahrt in den Hafen von Brest. |
Die Ankunft in der Marina von Brest war, wie mein Morgen in der Meerenge zwischen Pointe de Raz und der Ile de Sein gewesen war: Ruppig. Während ich in die weite Bucht einlief, an deren Nordufer die Stadt Brest liegt, überzog sich der Himmel von Nordwesten her, wo das betonene Ungetüm des einstigen U-Boot-Bunkers lag, mit grauen Wolken. Die Sonne verschwand. Als ich die Kaimauern des äußeren Hafens passiert hatte und kurz vor der Einfahrt in den Port du Chateau unterhalb des Schlosses stand, schickte der Himmel erste Regenböen. Levje legte sich auf die Seite. Ein Schlepper der französischen Marina rauschte wenige Meter an uns vorbei, als hätte er es eilig, noch vor dem großen Regen unters Dach zu kommen. Dabei will er nur in den Militärhafen an der etwas weiter nördlich gelegenen Penfeld, dem Fluss, dem Brest alles verdankt, weil auf ihm Frankreichs Marine im 17. Jahrhunderts geboren wurde.
Wind mit 20 Knoten genau in der engen Durchfahrt. Regen, der heranjagte. Ich rief über VHF den Hafen an, um nach einem Liegeplatz zu fragen. Ein zartes Stimmchen antwortete aus dem Funkgerät inmitten des Sauwetters. Ich möge nur kommen, sie würde mich in der Einfahrt erwarten. Keine 20 Sekunden später kam sie in ihrem Dinghi angebraust, stoppte es kunstvoll im Regenschauer neben mir auf und bedeutete mir, ich möge folgen. Da saß in dem Dinghi wie so oft in französischen Marinas statt eines Marineros eine Studentin. Sie war noch weniger auf das Sauwetter vorbereitet wie ich. Unter der Schwimmweste trug sie keine Jacke, nur einen leichten Pullover. Wieder einmal fühlte ich mich, der ich noch die Wärme des Mittelmeers auf der Haut spürte, wie ein Weichei. Bretonen scheinen ein anderes Verhältnis zur Temperatur zu haben: Wenn ich seit einer Viertelstunde darüber nachdenke, mir Wollmütze und Seestiefel überzuziehen, sausen sie in T-Shirt und barfuß in Bootsschuhen herum.
Aber Europäer sind nunmal verschieden, was ihre Temperaturempfindung angeht. Sizilianer kuscheln sich im Dezember bei 19 Grad tief in ihre Daunen-Anoraks - schließlich sei ja Dezember, da ist es kalt, auch wenn es 19 Grad hat. Bretonen brausen auf ihren Motorbooten bei 13 Grad und Regenschauer im T-Shirt rum, schließlich sei ja August, da ist es warm. Ich schaue ihnen oft verblüfft nach, wenn meine letzte Nebelbank keine 3 Minuten hinter mir liegt und mir die Finger klamm sind vor Nebelkälte. Mein inneres Thermometer ist anders eingestellt. Ich friere selten. Doch wenn ich friere, friere ich, da kann kein Blick in den Kalender mein inneres Thermometer durch wundersame Selbsthypnose beeinflussen.
Sie nahm meine Leinen an. Marina, ausgerechnet so hieß die Studentin im Dinghi, hatte heute ihren letzten Arbeitstag im Port du Chateau. Ob ich gleich einchecken wolle: Sie hätte übrigens alles dabei. Ich war skeptisch. Einchecken sofort auf dem Boot? Hatte ich noch in keinem Mittelmeerhafen erlebt und auch in keinem den 34 Häfen, die ich seit Sizilien entlang der Süd- und Westküste Europas besucht hatte. Außer dem winzigen beigen Rucksack in ihrem regennassen Dinghi hatte Marina nichts bei sich. War ihr Büro in der grauen Schwimmweste versteckt? Tatsächlich hatte sie alles im Rucksack. Anmeldeformular und Quittungsblock. Geduldig füllte sie im Cockpit alles aus. Nahm danach meine Scheckkarte an, das Abbuchungsgerät war ebenfalls in den unergründlichen Tiefen ihres winzigen Rucksacks, während sich hinter uns auf der Mole von Brest Spaziergänger im Regen in ihre Jacken kauerten.
Sie wäre 21. Und meine Frage, wieso sie denn die rauhe Arbeit eines Marinero machen würde, es sei kein Wetter heute draußen zu sein, lachte sie nur. Sie studiere Meeresökologie. Und das Bootfahren hätte sie auf dem Katamaran ihrer Eltern gelernt. Die Saison sei fast vorbei, sie wollte jetzt im Herbst ihren Master-Studiengang der Meeresökologie wieder aufnehmen. Am meisten würden sie ja "les phoques" interessieren. Da muss ich erstmal online nachschlagen. Ahh, die Seerobben. Es gäbe eine Seerobbe hier im Port du Chateau von Brest, ein Männchen, das gelegentlich im Becken des Hafens auftauchen würde und photogen vor den Seglern im Wasser planschen würde. Les phoques: Die würden sie am meisten interessieren. Und "les cormorans", die Kormorane, die es jetzt langsam auch in die Bucht von Brest zurückkehrten. Ob die gefrässigen Kormorane denn gut für die Ökologie des Meeres wären, schließlich verdrückt jeder der entengroßen Vögel pro Tag 1-2,5 Kilogramm Fisch. Aber davon lässt sich Marina nicht beirren. Sie mochte die witzigen Vögel, wenn sie sich auf einem überspülten Felsen aufrecht der Sonne entgegenreckten und räkelten, um ihr Gefieder mit ausgestreckten Flügeln wie ein zu klein geratener Bundesadler zu trocknen. Ja, und überhaupt, die Meeräschen im Hafen...
Dann quäkt mein Funkgerät ihren Namen "Marina, Marina, s'il vous plait." Ob sie denn schnell meines benutzen dürfte, ihres wäre ja unten im Dinghi. Sie nimmt mein Funkgerät in die Hand. Und bespricht mit dem Hafenkapitän, wo denn jetzt gerade noch Platz für die 20-Meter-Yacht wäre, die in wenigen Minuten in den Hafen käme. Artig gibt sie mir mein Funkgerät zurück. Steigt in ihr Dinghi. Startet den Motor. Und braust dem Hafeneingang entgegen, über dem gerade aus dem nächsten grauen Wolkengebirge die weitere Regenfahnen wehen. Ich schaue ihr nach.
Nein, um dieses zarte Gebilde Europa ist mir mit Menschen wie Marina nicht bange. Nur tut es mir nach einem Gespräch wie diesem leid, in welch schlechtem Zustand wir der nächsten Generation und Menschen wie Marina unsere ungelösten Probleme weiterreichen. Es kommt mir vor wie ein ganzer Sack: Ungebremste Umwelt- und Klimaschädigung. Artensterben. Ein Europa, das wackelt. Entfesseltes Bevölkerungswachstum. Dahinschleichende Finanzkrise.
Ob wir die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben, meine Generation und ich? Da werden wir weiter mit argen Zweifeln leben müssen. Ich schaue Marina nach und schicke ein Gebet zum Himmel, dass er und das Leben es gut mit ihr meinen mögen.
Wieder einmal sehe ich auf Levje im Port de Chateau von Brest zu, wie es weiter fällt und fällt, bis wir am Abend weit unter der Mole von Brest liegen, die wir vor wenigen Stunden noch auf Augenhöhe hatten. Spaziergänger, die wir eben noch auf gleicher Höhe hatten, könnten jetzt auf uns herunterschauen. Wenn sie es wollten. Doch sie gehen ihrer Wege, wie die Welt auch.
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