Donnerstag, 6. September 2018

Ile de Groix. Ein Hafen. Ein Fahrradverleiher. Und das Grab des Wikingers.


Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln. 
Eine von ihnen ist die Ile de Groix, nur wenig entfernt vom Hafen von Lorient.



Das mit den Inseln, es geht tiefer als ich dachte. Eigentlich hatte ich angenommen, mit meinem Buch über die vergessenen Inseln sei alles erledigt. Doch immer wieder bleibe ich auf dieser Reise um Westeuropa an Inseln hängen. An Inseln wie Groix, an Halbinseln wie Quiberon.

Dahinter steckt nicht nur mein Fasziniert-Sein, wenn Inseln sich spröde zeigen und einsam. Auf Inseln hat sich etwas erhalten, was auf dem Festland abhanden gekommen ist. Geschichte und Geschichten entdecke ich ursprünglicher als auf dem Festland, sie sind noch da, sind intensiver und noch nicht abgegriffen. Und sie hauen mich manchmal um, als wären Inseln ein Ort, an dem Geschichten nichts von ihrer Intensität verlieren. Wie das Schiff des Wikingers, dessen Reste ich auf der Ile Groix fand.

Ich war an einem frühen August-Nachmittag im Hafen von Groix angekommen. Pascal, der aussah wie ein Student und der einzige Marinero im Hafen war, hatte in seinem Dinghi alle Hände voll zu tun, die einlaufenden Boote in den beiden Teilen des engen Stadthafen unterzubringen. Doch mit welcher Chuzpe, mit welcher Meisterschaft Pascal dabei vorging, das sollte ich erst am nächsten Abend vom Kai aus sehen. Vorerst begnügte mich damit, dem Wasser beim Fallen zuzusehen. Und irgendwann verwundert auf die beiden Ebenen des Stadthafens zu blicken, denn als ich ankam, war alles noch ein Hafen gewesen: Die eine Ebene oberhalb war durch eine Mauer mit Schleuse gesperrt und lag bei Ebbe nun fast zwei Meter höher als die untere. Wer oben raus wollte, der musste warten, dass von unten die Flut kam.


Am nächsten Tag lieh ich mir bei Jean-Luc, dem bärtigen Fahrrad-Verleiher, das letzte Fahrrad, das man sich auf der Insel noch leihen konnte. Jean-Luc war ein Mann wie ein Bär. Er sah nicht nur aus wie ein Fischer, der auf der Insel geboren war. Er war auch ein Fischer. Und geboren war er hier auch. Das Leben hatte ihn hier auf der Insel lachend in seine Bretterbude gestellt, in der er Fahrräder vermietete und auch Eis aus der Vitrine verkaufte, die er wenige Minuten vorher vor seine Bude gerollt hatte. Doch im Herzen war er Seemann geblieben, das sollte ich noch merken.

Ich strampelte los, hinüber auf die Westseite der Insel. Obwohl Groix kleiner ist als die Ile d'Yeu, war das anstrengend. Gleich hinter dem Hafen ging es steil bergauf, zwischen den alten Stadtmauern und den Stadthäusern hindurch, die erzählten, dass die Fischerei die Insel einst wohlhabend gemacht hatte. Wie an vielen Orten der bretonischen Südküste waren sie in Groix auf den Fang von Thunfischen spezialisiert, noch 1990, als ich zum ersten Mal die Bretagne besucht hatte, hatte ich am Festland den Thunfisch-Trawlern zugesehen, die in Lorient die zwei, drei Meter langen Thunfische mit Kränen ausluden.



Doch in Groix ist davon heute nichts mehr zu spüren. Es gibt keinen Thunfischfang mehr. Ein paar prächtige Häuser, ein paar alte Fischer, die im kleinen Museum am Hafen in kehligem bretonisch von den alten Zeiten erzählen. Und dort, in dem kleinen Museum, zwischen Relikten des Thunfischfangs und anderen Dingen hatte ich eine erste Spur entdeckt: Ein Modell des Grabhügels, in dem man einen Wikinger samt seinem Schiff neben einer grazilen Person hier auf der Insel begraben hatte. Ich wollte mir zuerst die Stelle ansehen, an der der Grabhügel gestanden hatte.

Eigentlich verlasse ich mich bei meinen Landausflügen auf Google Maps. Doch das führte diesmal in die Irre. Als ich nach 20 Minuten hügelauf, hügelab auf der Westseite von Groix in der Bucht ankam, entpuppte sich, was in Google Maps als "Viking Shipgrave" verzeichnet war, als eingestürzter Dolmen. Doch vor meiner Abfahrt hatte ich Jean-Luc, den bärtigen Fahrradverleiher in seiner Bretterbude nach dem Hügel gefragt. Er stutzte kurz auf meine Frage. Sah erst mich prüfend an. Und dann auf die postkartengroße Inselkarte vor sich. Und malte genau an der Stelle, an der ein langer Sandstrand  im Osten endete und in die Hafenmole mündete, ein Kreuz, ohne zu zögern. Ich hätte es mir denken können - als Seemann hatte er gelernt, dass ein Ort nicht nur ein haltlos im Raum schwirrender Punkt ist. Sondern ein Ort immer durch einen anderen definiert ist: "Wo der lange Sandstrand im Osten an der Kaimauer endet", die Fähigkeit einer Beschreibung, die uns Google Maps vielleicht in spätestens einer halben Generation abtrainiert haben wird, weil wir sie nicht mehr brauchen.


Da war die Stelle. Farne und Dornenhecken bedecken den Boden, in denen wilde Himbeeren hingen. Ich folgte dem schmalen Pfad bis zu den Klippen, von dem aus man über die beiden Buchten links und rechts blicken konnten. Und die ihre Geschichte erzählten.

Unmittelbar an den Klippen hatten Ausgräber einen kreisrunden Hügel geöffnet, das Meer hatte ihn bereits angenagt hatte. Sie entdeckten darin die angekohlten hölzernen Trümmer eines Schiffes. Und das Skelett eines Mannes und ein graziles daneben.

Der Ort war gut gewählt. Die Bucht war voller Untiefen, ich sah die Seezeichen und beobachtete eine große Segelyacht bei dem Versuch, sich zwischen den Tonnen zum geschützten Sandstrand durchzulavieren, als sie abrupt stoppte. Und sich plötzlich sachte wieder rückwärts hinaus tastete. Sie hatte keinen Weg zwischen Untiefen gefunden. Doch nordische Seeleute des 10. Jahrhunderts



konnten das vermutlich an einem Tag wie heute besser: Ein Mann mit gutem Augenlicht im Masttop sah nicht nur den Grund unter sich, sondern auch im weiten Umkreis. Er fand einen Weg zwischen den Riffen. Und wenn man ihn fand, hatte man am langen Sandstrand einen komfortablen und vor allem geschützten Ankerplatz. Ich begriff: Die Bucht vor dem Sandstrand war der Ort, den die Wikinger auf der Reise mit ihrem Schiff aufgesucht hatten. Hier war ihr Hafen gewesen. Hier hatten sie gelagert. Von hier aus hatten sie sich der wochenlangen Mühe unterzogen, das Schiff auf die Landzunge heraufzuzerren. Es mitsamt den Toten zu verbrennen. Und einen aufwändigen Hügel über der Asche erst aus Steinen, dann aus Erdreich zu errichten, wie man sie nur aus Skandinavien kennt. Doch was hatte sich da unten in der Bucht von Groix abgespielt? Woher waren die Wikinger gekommen?

Die Ausgräber waren neben den Knochen auf zahllose Ausrüstungsteile gestoßen, die man dem Toten mitgegeben hatte. Er war zweifellos ein Anführer gewesen, sein hölzernes Langschiff so groß wie Levje, um die 11 Meter, soviel konnte man aus den im Hügel entdeckten 800 Nieten, Bolzen und Nägeln, die das Langschiff zusammengehalten hatten, errechnen. Anhand des verkohlten Plankenrests einer bestimmten Eichenart konnte man feststellen, dass sie an den Ufern der Loire gewachsen und gefällt worden war.

Noch erstaunter waren die Ausgräber, als sie darangingen, die Herkunft der weiteren Objekte zu ermitteln. Da war ein kleiner Ring aus Gold. Vielleicht hatte ihn die Frau am Finger getragen? Er stammte jedenfalls aus dem Süden Norwegens, etwa 1.000 Seemeilen von Groix entfernt. Die kunstvoll verzierte Spitze einer Schwertscheide aus Bronze: Sie kam noch einmal von 1.000 Seemeilen weiter östlich, aus Birka, nördlich der Insel Gotland in der Ostsee. Eine Gürtelschnalle, die Schmiede vermutlich in Haithabu in der Nähe Schleswigs geschmiedet hatten. Eine Lanzenspitze mit Widerhaken aus fränkischer Produktion, gehämmert 600 Seemeilen entfernt irgendwo in einer Schmiede irgendwo zwischen Rhein und Weser, genauso wie zwei Äxte. Die silberne Spitze  eines ledernen Gürtels, fein mit nordischen Ornamenten ziseliert, von einem Silberschmied in Südengland geschaffen. Der Rest eines Feuer geschmolzenen Goldrings, der irgendwo von der Charente stammte. Spielsteine eines Brettspiels aus Knochen. Ein Würfel in Quaderform aus Elfenbein, das es so nur in Afrika oder Indien gegeben haben konnte.
 

Er war ein wohlhabender Mann gewesen, der die Insel besucht, vielleicht hier gelebt und mit großer Sicherheit hier gestorben war. Eine Wunde? Krankheit? Er war nicht alt gewesen, ein Reisender unterwegs wie sie alle. Wie wir alle. Wie ich. Und ein Mann seiner Zeit, dessen Ausrüstung eindrucksvoll belegte, dass er zutiefst mit den europaweiten Handelsströmen des zehnten Jahrhunderts verwoben war und sie zu nutzen wusste. Er war nicht nur ein Barbar aus einem Kaff an der Küste Jütlands, sondern jemand, der im 10. Jahrhundert die europäischen Küsten bereist und sich mit dem, was dieses Europa an Luxus zu bieten hatte, umgeben hatte - im Leben wie im Tod. Sein Pferd und seinen Hund hatte man getötet. Und zusammen mit ihm verbrannt. Es ist nicht auszuschließen, dass man ihm, um sein Wohlbefinden in Wallhall zu mehren, auch seine Lieblingssklavin mit auf die Reise in die Anderwelt gschickt hatte - das grazile Skelett an seiner Seite.


Als ich Jean-Luc am Abend das Fahrrad zurückbrachte, war der bereits dabei, seine kleine Bretterbude am Hafen zu schließen. Ich schlenderte ich in der anbrechenden Dunkelheit um den alten Hafen. Und konnte sehen, wie gut Pascal, der Marinero von Groix gearbeitet hatte. Ich sah in der Dämmerung, wie er Schiff auf Schiff in drei Reihen geschlichtet und hintereinander an zwei Bojen vertäut worden. Ein dickes Knäuel, das sich am nächsten Vormittag wieder entwirren würde, sobald auch nur der erste sagen würde: "Ich möchte jetzt los." Aber da wäre ich dann schon weiter. Ich wollte gleich frühmorgens um sieben aufbrechen. Unterwegs sein entlang der Insel Groix zum nächstem Ziel meiner Reise.




















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