Dienstag, 31. Oktober 2017

HANSEBOOT 2017: Ankommen auf dem Schiff, auf dem Rollo Gebhard vor Grönland kenterte.






 Es ist eine dunkle, wolkenlose Nacht am Hamburger Hafen. Vor wenigen Tagen hatte Sturmtief "Herwart" den Zugang zum Sporthafen noch knietief überflutet, über den ich jetzt gehe. Zwei Schwimmstege, die in der Dunkelheit aneinander scheuern, es klingt in der Dunkelheit, als wären es zwei Wale.

Und dann liegt sie vor mir. KIRA VON HANDELOH heißt sie jetzt, die einst SOLVEIG hieß. Und Rollo Gebhards Schiff war. SOLVEIG IV - ein dunkelblauer Schatten am Ende eines unbeleuchteten Schlengels. 50 Meter weiter fährt ein Containerfrachter vorbei. Ein Festmacher knarzt singend im Takt.

Schmuck sieht sie aus, als ich in der Dunkelheit die Bordwand hochklettere. Und gut gepflegt. So wie ich ist vor mehr als dreißig Jahren an dieser Bordwand auch Rollo Gebhard hochgeklettert. Mit seiner jungen Frau, Angelika.
Dann habe ich in der Dunkelheit den Niedergang vor mir. Ich schiebe das Luk zurück, klettere drei Stufen hinunter. Ich stehe im Salon. Hier war das also. Ich sehe die roten Polster. Die einfachen Schapptüren, die Beschläge, die noch die originalen sind. Die Küche. Ich denke an Rolle Gebhard. Ich schaue zur Holzdecke des Salons. Und stelle sie mir die beiden vor, damals im Sommer 1983 vor der Südspitze von Grönland.

"Ich höre das Bersten von Holz, 
das Rauschen von Wasser.
Unser Boot wälzt sich noch weiter herum, 
ich liege auf der Decke der Kajüte,
rolle wieder zurück, am Bullauge vorbei, 
dort, wo Wasser eindringt."
Rollo Gebhard, in: Leinen los. Wir segeln um die Welt.

Es ist meine Lieblingsgeschichte, die auf diesem Schiff und in diesem Salon spielt. Weil Rollo Gebhard ja schon zwei mal über den Atlantik gesegelt war - zum ersten Mal 1963/64 auf einem 5,60 (!) Meter langen Sperrholzboot; danach auf einem immerhin 7,30 langen Kajütboot - und nicht schon wieder von den Kanaren aus in die Karibik wollte, hatte er sich für diesen Törn für eine andere Route entschieden: Von Deutschland an Schottland vorbei über Island und Grönland die Nordroute nach Nordamerika. Mit dabei seine Frau Angelika. Die war noch nie zuvor gesegelt. Was tats.

Bis Island lief alles gut. Es war August 1983. Deutschland erlebte einen Jahrhundertsommer, aber vor der Südspitze Grönlands geraten Rollo und Angelika in einen Sturm. Die Wellen müssen gigantisch gewesen sein, schreibt Gebhard. Mitten in der Nacht, kurz nachdem Gebhard draußen an Deck war, erwischt ein Brecher das Boot breitseits. Die SOLVEIG kentert, Wasser dringt ins Schiff, Elektronik, Heizung und was nicht niet und nagelfest war, ist hinüber. Auch die Windmessanlage, die Antennen für die Navigation und Funk. Der Motor macht nicht mehr.
Doch die beiden Masten überstehen wie durch ein Wunder die Kenterung. Die nächsten Tage, mit nassen Klamotten in den nassen Polstern, werden zur harten Prüfung:

"Da treiben wir nun mit unserer Habe
durch die trostlose Einsamkeit des Meeres.
Bei Sturm und ungeheurem Seegang.
Es geht mir wie früher als Kind. 
Wenn ich mich nachts fürchtete
und mir die Bettdecke übers Gesicht zog".
Rollo Gebhard, in: Leinen los. Wir segeln um die Welt.

Es dauert, bis der Sturm nachlässt. Und die beiden mehr als zwei Wochen später ohne die Möglichkeit einer Heizung mit nassen Klamotten ausharren. Und weitermachen.


"Mit knapper Not und unter Aufbietung letzter Kräfte 
gelang es uns, nach 16 eisigen Nächten und Tagen 
die Küste Neufundlands zu erreichen.
Dieses Ereignis ist bis heute ein unvergessener Einschnitt 
in meinem und vor allem in Angelikas Leben geblieben."
Rollo Gebhard, in: Leinen los. Wir segeln um die Welt.

Nach einer Erholungspause in St. Johns und umfangreichen Reparaturen setzen sie ihre Reise nach Süden fort. Aber damit ist Rollo Gebhards Bericht noch nicht zu Ende. Diese Reise auf SOLVEIG IV


sollte noch einiges in Gang setzen.

Jetzt sitze ich hier in diesem Salon. Es ist eine kalte Nacht Ende Oktober. Halloween. Das Schiff schwankt, wahrscheinlich ist gerade wieder ein Frachter an uns vorbei. Im Abfluß der Küche gurgelt das Wasser im Takt unseres Schwingens. Ich werde an die beiden denken, heute, beim Einschlafen in der achteren Koje.

Rollo und Angelika Gebhards 
immer noch spannenden Reisebericht 
über ihren weiteren Weg um beide Amerikas 
bis zu den Gletschern Alaskas
können Sie lesen in:


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Der Bericht der Kenterung ist
eine von mehr als 30 Sturmgeschichten
im soeben erschienenen Band: 


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Special Thanks to Edgar Schrader!!






Sonntag, 29. Oktober 2017

Die 19. Neuerscheinung bei millemari.: STURM. Jetzt NEU zur HANSEBOOT 2017.


Meine Frau sagt: Dies Buch zu Lesen war für sie der blanke Horror. Das Buch kam Freitag Abend aus der Druckerei. Katrin sagt, es würde in ihr all die schlimmen Ereignisse dieses Segelsommers wieder aufwühlen. Wie unser Motor irgendwo zwischen Korcula und Lastovo kurz nach dem Ablegen würgend stockte. Und nicht wieder ansprang. Wie ich ihn trotz mehrfachem Zerlegen der Leitung nicht wieder anbekam. Wie wir bei 30 Knoten vor dem Hafen von Korcula Stadt ein unmögliches Ankermanöver ohne Motor fahren mussten. Dieselpest. Es hätte schlimm enden können.

Merkwürdigerweise hat jeder, der öfter segelt, solche oder ähnliche Geschichte erlebt. Wer segelt, hat sich damit abgefunden. Slippende Anker, stotternde Motoren, klemmende Genuas - und alles genau dann, wenn man es halt gerade gar nicht brauchen kann, wenn der Wind gerade auffrischt. Meist erzählt man sich diese Geschichten unter Freunden, nach dem Törn - der Hauch des überstandenen Abenteuers umweht noch das Erzählte. Man wirft locker mit dem "Siebener" um sich. Und nur zu leicht vergisst man: Wie man sich allein oder zu zweit in dieser Situation fühlte. Und dass man einfach nur großes Glück hatte.

Vielleicht haben wir uns auch daran gewöhnt, dass Segeln nichts anderes ist, als ständig mit irgendwelchen Widrigkeiten fertig zu werden. Wünschen tut sich die Widrigkeiten keiner. Aber sie gehören dazu, zum auf dem Wasser unterwegs sein.

Als wir von millemari. vor zwei Jahren in den Internet-Foren Segler dazu aufriefen, uns doch die Geschichte ihres Sturms zu erzählen, flossen die Einsendungen erst zögerlich. Kaum jemand, der in der Nordsee, in der Ostsee, im Mittelmeer tatsächlich die acht, die neun Beaufort am eigenen Leib erlebt hat. Wir wollten ein Buch machen von normalen Seglern. Für normale Segler. Nichts aus den Roaring Forties, nichts vom VOLVO OCEAN RACE, von Ausnahmeseglern, die für genial inszeniertes Life-Spektakel bezahlt werden. Wir wollten Geschichten vom IJsselmeer, von der Deutschen Bucht oder Skagerrak oder Kroatien. Nach und nach kamen die Geschichten. Genau aus diesen Revieren. Wir lernten, dass man tatsächlich nicht weit fahren muss, um von 40 Knoten trotz gutem Wetterbericht überrascht und eingeholt zu werden. Und fernab aller bewundernden Zuschauer unbeobachtet einen stillen Kampf zu führen. Und dramatische Augenblicke zu durchleben.

Nicht jede unserer Geschichten geht gut aus. Nicht jeder hatte einfach großes Glück. Davon berichten nur allzu oft die Segelzeitschriften, davon erzählt auch unser Coverfoto, zu dem Sie die zugehörige Geschichte im Buch finden.

Unsere Absicht war es, ein Buch zu machen, das zeigt, wie Männer und Frauen in extremen Situationen reagieren. Namhafte Weltumsegler sind darunter wie Mareike Guhr, Rollo Gebhard oder Bobby Schenk. Berufskipper auf dem x.ten Überführungstörn. Profis und Eigner und Charterer. Doch allen 41 Geschichten gemeinsam ist, dass sie harmlos beginnen.

Meine Frau hat das Buch erst heute Nachmittag wieder weggelegt. Wir diskutieren darüber, was Segeln ist.

Wir wünschen Ihnen wenig Horror und viel Spaß beim Lesen. Mit dem 19. millemari.-Buch.

Ihr 
Thomas Käsbohrer

PS: In den nächsten Tagen berichten wir live von der HANSEBOOT in Hamburg. Wir nächtigen in Hamburg auf einem der Schiffe, auf denen eine der spannendsten Geschichten unseres Buches spielt. Lassen Sie sich überraschen...

                                      

41 Geschichten aus fünf Ozeanen von
Bodo Müller
Mareike Guhr
Rollo Gebhard
Holger Peterson
Jocelyn Fastner
Roberto Imbastaro
Sebastian Pieters
und vielen vielen anderen...

Oder bei AMAZON.
Oder in Ihrer Buchhandlung.









Sonntag, 22. Oktober 2017

Sizilische Geschichten (3): Der Baum, der nie altert. Oder: Wie die Olive in die Flasche kommt.

Sciacca ist eine 40.000-Einwohner-Stadt, wie es so manche an der Südküste Siziliens gibt.
Man lebt überwiegend von Landwirtschaft und Fischfang, isst hervorragend und lässt den lieben Gott einen netten Mann sein. Weil ich mit Levje hier überwintere, drum berichte ich lose über diesen Ort und seine Menschen. 





Es ist Ende Oktober in Sciacca. Neben dem Fischfang lebt das Städtchen  vor allem vom Anbau von Oliven. Und jetzt, Ende Oktober, ist Oliven-Ernte in Sciacca.





Weil mich die Neugier treibt, wie das so ist mit der Olive, drum nehmen Giuseppe und Silvana mich in ihrem kleinen Fiat mit auf eine Reise durch die Olivenhaine Sciaccas. Die beiden arbeiten für die lokale Agrarbehörde von Sciacca, die die Landwirte in allen Fragen des Anbaus



und des Tier- und Pflanzenschutzes berät - vom Granatapfel bis zur Honigbiene, von der Bodenprobe bis zum biologischen Pflanzenschutz. Erst im Lauf dieses Tages begreife ich, dass die beiden nicht nur einen "Job" erledigen, sondern dass Giuseppes und Silvanas ganze Leidenschaft "ihren" Pflanzen und Tieren gilt.

Giuseppe ist in der Behörde der Spezialist für die Olive. "Schau", sagt er, "erst wenn die Oliven dieser Sorte alle dunkel sind, sind sie reif und es ist Zeit für die Ernte." Er hält mir eine Hand voll Oliven hin. Es reicht ihm nicht, dass er sich seit bald zwei Jahrzehnten mit Oliven beschäftigt. Er bewirtschaftet auch in seiner Freizeit einen eigenen Olivenhain mit etwa 160 Bäumen. Sie sind allesamt noch jung, und er hat sie selber gepflanzt. "War nicht einfach. Man braucht Geduld. Olivenbäume benötigen 5 Jahre, bis sie zum ersten Mal tragen - fast so lange wie ein Mensch braucht, um seine Schulreife zu erlangen", sagt Giuseppe. Es wird nicht das erste Mal sein, wo ich mich Giuseppe mit seinem Wissen über die Oliven verblüfft.

Die Ernte ist eine aufwändige Arbeit, Baum für Baum. Erst werden unter jedem Baum Netze ausgebreitet; dann wird mit einer Art vibrierendem Rechen Zweig für Zweig gerüttelt und geschüttelt, bis alle Früchte auf dem Netz liegen. "Pettine vibrante" nennen die Olivenbauern das Gerät, den "vibrierenden Kamm", weil an seinem Ende zwei blaue Rechen gegenläufig vibrieren und dadurch jeden Zweig "abkämmen". "Um meine 160 Bäume abzuernten, werden 4 Leute für 3 Tage beschäftigt sein. Da ist viel Handarbeit im Spiel, die sich eigentlich für einen profitablen Anbau nicht lohnt. Die Preise für den Produzenten der Olive sind am Markt ausgesprochen gering", erzählt Giuseppe, während wir durch den Olivenhain wandern.


Immer wieder kommen wir an besonderen Exemplaren vorbei. An solchen mit hohlen Stämmen, die dastehen wie ein Mensch. An anderen, die gedreht sind wie Korkenzieher - doch alle in Linksdrehung.


"Wenn Olivenstämme sich so drehen, ist das ein Zeichen, dass sie zu wenig Wasser bekamen. Der Olivenbaum verändert durch die Drehung des Stammes sein Wachstum - und kommt dadurch mit weniger Wasser aus." Giuseppe streicht mit der Hand durch das Geäst eines jungen Baumes.

"Das Faszinierende an Oliven ist, dass die verschiedenen Sorten auch verschieden geschlechtlich sind. Zum Beispiel die Biancolilla, die ich auf meinem Grundstück anbaue. Von ihr gibt es männliche und weibliche Pflanzen. Ich bevorzuge sie, denn ihr Geschmack ist leichter, und die Pflanze selber ist beständiger gegen heißen Wind, der den Pflanzen zusetzt. Die Cerasuola hingegen ist nur weiblich - ihr Geschmack ist weit intensiver, bitterer". Das gibt mir zu denken.

Und weil ich eigentlich noch nie so recht verstanden habe, was denn nun eigentlich von der Olive genau für das Öl verantwortlich ist, frage ich Giuseppe. Der zerquetscht einfach eine reife Frucht zwischen den Fingern. "Eine Olive besteht zu 50% aus Wasser und zwischen 18%-25% aus Öl. Der

Rest sind Proteine, Zucker, Zellulose. Wenn ich das Fruchtfleisch jetzt zwischen meinen Fingern presse, dann erhalte ich dieses Wasser-Öl-Gemisch, um das es uns eigentlich geht. Ich brauche etwa 10 Kilogramm Oliven, um etwa 1,5 Kilo Olivenöl kalt herauszupressen. Aber das zeige ich Dir morgen in der Ölmühle, wie wir das machen."

Irgendwo oberhalb von Sciacca, in den Hügeln, die sich entlang Siziliens Südküste erstrecken, folgt Giuseppe einem Schild. Bis er plötzlich inmitten der Olivenhaine auf freiem Feld steht - vor einem Baum, der ihn ums 10fache überragt. "Das ist der älteste Olivenbaum hier in Sciacca. Er heißt Oleastro d'Inveges und hier bei uns ist er eine Berühmtheit. Man findet ihn sogar in GOOGLE MAPS, wenn man 'Oleastro d'Inveges, Sciacca' eingibt. Er ist vermutlich über 1.000 Jahre alt und wuchs  in den Jahren, in denen die Normannen aus Nordfrankreich nach Sizilien kamen, um die Araber auf der Insel zu unterwerfen."

Der Stamm des Olivenbaumes ist riesig. Giuseppe und Giovanna schaffen es nicht annähernd, ihn zu umfassen.

Als wir unter der Krone des Baumriesen stehen, hat Giuseppe für mich das verblüffendste Detail über die Olivenbäume für mich parat: "Alle Pflanzen sterben, wie wir Menschen. Die Olive aber nicht. Wenn man sie lässt wie den Oleastro d'Inveges hier, dann werden sie 1.000 Jahre alt. Und mehr. Einer der Gründe dafür ist, dass sie zwar von innen absterben, dass sie aber nach außen weiterwachsen. Es gibt Olivenbäume, deren Stämme innen hohl sind. Doch das macht nichts, weil sich der Baum nach außen hin verjüngt. Ein Olivenbaum ist immer jung - so alt er auch scheinen

mag. Und weil er jung ist, trägt er auch nach 1.000 Jahren noch Früchte. Sie sind kleiner als die Oliven, die wir ernten. Aber dafür machen wir aus den Früchten dieses 1.000jährigen Baumes auch etwas Besonderes: Heiliges Öl - ein Öl, das nur in der Kirche zu rituellen Zwecken verwendet wird."

Und wie nun wirklich die Olive in die Flasche kommt? Das werden Giuseppe und Silvana mir morgen erklären, in der Ölmühle. Ich werde in meinem nächsten Post darüber schreiben.



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Dienstag, 10. Oktober 2017

Sizilische Geschichten (2): Die größte Segelyacht der Welt. Oder: Von Schönheit und Häßlichkeit.

Sciacca ist eine 40.000-Einwohner-Stadt, wie es so manche an der Südküste Siziliens gibt.
Man lebt überwiegend von Landwirtschaft und Fischfang, isst hervorragend und lässt den lieben Gott einen netten Mann sein. Weil ich mit Levje hier überwintere, drum berichte ich lose in den Sizilischen Geschichten über diesen Ort und seine Menschen. Denn Sciacca ist überall.
Und dann liegt sie plötzlich an diesem Morgen vor der Stadt: Die "A", so heißt sie. Die größte Segelyacht der Welt. Als hätte sie irgendein Sonnensturm von einem anderen Planeten vor den Hafen von Sciacca geweht. Um sie zu beschreiben, lässt man am besten die Erotik der nackten Zahlen wirken: 
Über 140 Meter lang. 
Acht Stockwerke hoch.
Jeder der gekrümmten Masten ist über 90 Meter lang, fast ein Fußballfeld. Und steht frei, ohne Wanten und Stagen.
Platz für 20 Gäste. Um die sich 54 Besatzungsmitglieder kümmern.
Segelfläche der drei Segel? Ob 3.000 Quadratmeter reichen. Wohl kaum. Es sind deutlich mehr als 30 100-Quadratmeter-Wohnungen.

Hab ich was vergessen? Ach ja. Den Kiel aus gekrümmten Glas, durch den man die Welt unter Wasser bestaunen kann.










Wer nun aber denkt, damit wäre alles gesagt, der irrt. Hier beginnen die Diskussionen erst, denn die Männer Sciaccas kommen aus der näheren und weiteren Umgebung zum Hafen, als wäre die TITANIC vor den Mauern ihrer Stadt auferstanden. Die Marineros aus dem Segelclub. Die Werftarbeiter. Fischer. Rentner. Die Carabinieri Sciaccas, die - weil es sich für sie nicht anders geziemt - zum Bestaunen des Wunderwerks nicht wie die anderen die Hafenmole erklimmen, sondern die Smartphones zum Fotografieren einfach aus dem Auto in die Höhe recken.


"Che cosa e?", fragt Pippo, Student, der mit seiner Freundin auf die Hafenmole geklettert ist. "Was ist das? Ein Kriegsschiff?"

"E la piu brutta barca del mondo" -"Es ist die hässlichste Yacht der Welt", knurrt Nino, der auf der Werft den Hubkran fährt und früher Maurer war. Und die anderen von der Werft, die hinter dem Zaun hängen, geben ihm recht. Wie kann man nur mit so viel Geld so etwas hässliches erschaffen.

"Sie ist da, um mich abzuholen", grinst Angelo lässig.

Nur Carlo sagt erstmal nichts und schaut gebannt auf das Schiff. Er fuhr als Fischer zur See, bevor er als Marinero im CIRCOLO NAUTICO begann. "Ich finde sie schön", meint er leise. "Einfach nur schön. Sie ist so schön futuristisch. So einzigartig. Nein, ich finde sie schön."

Man muss das den Männern von Sciacca ja schon lassen: In der Summe repräsentieren sie, was die Welt im allgemeinen so über die "A" eben denkt. Ein silbrig glänzendes Zäpfchen, so kantig, dass es im Hintern schmerzt. Ein Wunderwerk der Technik. Ein schillerndes Ding, das rätselhaft sein Gleichgewicht zwischen Hässlichkeit und Schönheit auf Messers Schneide balanciert.

Und weil der Faszination nicht genug ist, kommt, kaum dass es ein Uhr schlägt, das Beiboot der "A" angesaust, rätselhaft wie Raumschiff Orion aus der Fernsehserie der Sechziger, verlockend wie die Sünde. Legt an der Pier an. Und entlässt seine Gäste.

Doch wer gehofft hatte, einen Blick auf den Mann werfen zu können, dem all das gehört und noch viel mehr, der wird enttäuscht. Andrei Igorewitsch Melnichenko, einstiger Physikstudent und heute achtreichster Russe mit geschätzten 13,2 Milliarden US-Dollar, ist nicht dabei, um sich Sciacca anzusehen. Was schade ist.




Leise sirrend schieben die beiden Bowthruster das Beiboot der "A" einfach weg von der Pier. Es dreht majestätisch, bevor es dann auch gleich aus dem Hafen verschwindet.

Ich sitze am Abend auf Levje. Und sehe sie immer noch vor mir in der Dunkelheit. Die "A" und ihre drei roten Lichter auf den Mastspitzen. Sie leuchten, als wäre sie wirklich von einem anderen Stern.




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Sonntag, 8. Oktober 2017

Sizilische Geschichten. Am Strand von Sciacca.


Wieder einmal bin ich froh, ein Boot zu besitzen. Hätte ich kein Boot, dann wäre ich nicht aufgebrochen. Ich wäre jetzt nicht in Sizilien. Nicht in Sciacca. Nicht am Strand.

Hätte ich kein Boot, wäre mein Leben einfacher. Aber vermutlich auch langweiliger. Ich würde nicht - wie in den letzten Tagen daheim - aufwachen mit dem Gedanken: "Was wohl mein Boot macht? Ob noch alles heil ist?", weil ich es im Hafen von Sciacca an der Transitpier zurückgelassen hatte, ein Ort der vagen Sicherheit, an dem leicht etwas zu Bruch gehen kann. Ich würde nicht hier auf Levje Listen anfertigen jetzt im Herbst, während mein Blick hierhin fällt und dahin, was über den Winter auf dem Boot alles zu reparieren ist. Aber wie gesagt: Ich wäre auch nicht vor ein paar Tagen aufgebrochen, hierher ans Meer. Ich hätte keinen Grund gehabt.

Über den Winter werde ich mein Boot in Sciacca lassen. Ich freue mich darauf. Auch das verdanke ich meinem Boot: Einen Ort näher kennenzulernen, im Winter. Öfter hier zu sein, in diesen Ort einzutauchen, ihn im Winter zu erleben. Sciacca, gesprochen "Scha:kka", ist ein typisch sizilisches 50.000-Einwohner-Städtchen. Mit einer einstmals mittelalterlichen Altstadt, die sich den Hügel hinaufzieht, und überwiegend vom Fischfang und der Landwirtschaft lebt. 

Der Herbst, der Winter, das habe ich auf diesem Blog schon öfter geschrieben, sind die beste Reisezeit. Der Rummel ist vorbei, auf dem Meer und an den Küsten ist man fast allein, der Strand gehört den wenigen, denen, für die es jetzt gerade keinen schöneren Ort gibt. 

Ich gebe zu, dass ich diesen Sommer fast nur am Meer, aber kaum drin war. In Italien nicht. Und während meiner drei Monate Kroatien auch nicht. Das ist nicht ungewöhnlich. Meine Segellehrer allesamt habe ich nie ertappt, dass sie ins Wasser gehen. Es scheint, dass Menschen, die passioniert auf dem Meer unterwegs sind, das Verlangen verlieren darin zu schwimmen. Mir war das Wasser im Sommer einfach zu warm.

Aber gestern, am Strand, musste ich unbedingt schwimmen. Es hatte Wellen. Es war frisch und prickelnd, als würde man von der Sonne, die noch mit Kraft auf der Haut brennt, ins eiskalte Gesprudel eines Mineralwasser-Glases steigen.

Am Strand war nicht viel los. Zwei italienische Teenager-Pärchen. Ein Herr in Badehose und weißem Bademantel, der durchs Wasser stapfte und gestikulierend sein Handy in der Hand hielt und telefonierte. Ich stellte mir, was der Anlass für lange Telefonate sein könnte. Was könnte einen Mann im Gegensatz zu einer Frau verleiten, stundenlang an diesem Ort im Wasser stehen und gestenreich zu telefonieren. Eine Scheidung? Die Aufarbeitung zweier Jahrzehnte einer Beziehung? Der Ort könnte passen. Jetzt nur kühlen Kopf bewahren. 
Oder: Das samstägliche Telefonat mit seinem Vertriebsteam, das gestern von der Verkaufstour zurückgekehrt ist und am Samstag Nachmittag am Schreibtisch sitzt und Papierkram wie Verkaufsreports erstellt? Das könnte passen, die Gesten des Mannes waren klar, bestechend, während er im Bademantel durch die Wellen schritt. 


Oder ist er jemand, der die Frauen liebt fünf Partnerinnen gleichzeitig hat, die alle nichts von einander wissen? So etwas erfordert neben echten Management-Fähigkeiten auch akrobatische Künste. Fünf Bälle gleichzeitig schwebend in der Luft zu halten. Der sinnliche Ort, den sich der Mann für sein Telefonat an diesem Strand ausgesucht hat, er könnte dazu passen. Doch weil ich denke, dass die Ergebnisse meiner etwaigen Recherche mich nur enttäuschen würden, lasse ich den Herrn im weißen Bademantel weiter telefonieren, während er auf die Felsen im Wasser steigt, und unterbreche ihn lieber nicht.

Eine ältere Dame kommt im Bikini an den Strand, zum Schwimmen. Sie sieht aus, als gehörte das Bad im prickelnden Mineralwasser jeden Tag zu ihrem Leben. Sommer wie Winter. Ich habe eine Schwäche für einen Menschen, der genau wissen, wie sein Tag auszusehen hat, damit es ihm gut geht. Die Dame strahlt jene Autarkie aus, die es für so ein Leben braucht. Sie war, als bräuchte sie nicht wirklich jemanden.

Während ich ihr noch nachsehe, kommen drei Menschen mit nördlichen Gesichtern an den Strand. Urlauber offensichtlich, ein Mann und seine Frau, mit Freundin, vielleicht aus einer der zahllosen Ferienwohnung der Umgebung? Sie tragen Badekleidung, ihr Lauf beschleunigt sich beim Näherkommen, sie rennen voll Freude ins Meer, ich höre Schwizerdütsch und sehe pure Freude. 

Ich wüsste zu gern. Zu gern wüsste ich, was es ist, was in uns diese unbändige Freude auslöst beim Anblick des Meeres. Beim Anblick der Wellen. Beim Anblick des großen Blau gerade um mich



herum. Woher es kommt, dass wir uns einfach nur freuen. Welcher Reflex ist das? Haben wir in der Kindheit zuviel Werbung gesehen, in denen das Meer vorkam? Sind es nur wir Nordlichter? Aber dann wäre das Meer allen Italienern, die von ihm gleich auf drei Seiten umgeben sind, gleichgültig. Doch auch sie strömen - ans Meer.



Und während die Sonne viel zu schnell hinter den Hügeln versinkt und ich zurück zu Levje aufbreche; während der abendliche Himmel über meinem Boot zur riesigen Leinwand wird, angesichts derer mir noch der spannendste Kinofilm lumpig erscheint, denke ich zweierlei. Die Kunst für ein gutes Leben ist es doch, genau zu wissen wo man glücklich ist. Und es irgendwie zu schaffen, jeden Tag etwas zu tun, was unseren Alltag abstreift - wie eine lästige Gummihaut, in die uns jemand gesteckt hat. Dumm nur, dass dieser "jemand" wir selber sind.

Ich glaub: Ich geh morgen wieder an den Strand.



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