Seit Mitte Mai segle ich nun nach Westen. Von Sizilien kommend erst zu den Balearen.
Und dann durch die Straße von Gibraltar die spanische Küste entlang an die Südküste Portugals.
Das Kap von Sagres ist ein markanter Punkt - nicht nur auf der Landkarte.
Sagres. Die Welt sieht regnerisch aus an diesem Abend, an dem ich in der Bucht von Sagres angekommen bin. Und regnerisch sieht es auch noch aus, als die untergehende Sonne die Regenwolken von unten beleuchtet. Strudel und Wirbel von Wolkenfetzen über dem Strand, am Himmel ein Ringen, und noch ist nicht klar, wie es ausgeht.
Ich schaue kurz in Google Maps. Dort bin ich jetzt gerade ein kleiner blauer Punkt ganz im äußersten Südwesten Portugals, der gleichzeitig auch der äußerste Südwesten Europas ist. In Maps ist der kleine blaue Punkt da, wo das Grün des Festlands endet. Und das endlose Blauschwarz des Atlantiks sich bis zu beiden Amerikas erstreckt. Bis hierher führte mich mein Kurs um Europa herum immer westwärts. Ab hier geht es nur noch nordwärts.
Sagres ist ein kleiner Flecken am Ende der Welt. Knapp 2.000 Einwohner. Ein paar Restaurants. Ein Postamt, eine Apotheke, ein Supermarkt. Und zu Füßen des Orts der Fischereihafen, durch eine gewaltige Betonmauer geschützt. Der Ost sei hier der gefährliche Wind, sagte ein alter Marinero vor ein paar Tagen zu mir, und man sieht es der Mauer an, was er damit meinte.
Doch ein Ort am Ende der Welt war Sagres beileibe nicht immer. Sagres und die wenige Seemeilen benachbarten Häfen Lagos, Portimao und Faro: Sie waren nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Welt.
Sagres. Es ist lange her. Vor fast vierzig Jahren, ein Novembernachmittag in der staubtrockenen Luft der Universitätsbibliothek einer deutschen Stadt. Ich hatte keine Lust, zu lesen, was ich sollte. Ich schmökerte lieber. Und versank in alten Bänden, die von Sagres erzählten. Wie ein Mann namens Dom Enrique el Navegador von Sagres aus, diesem weit nach Südwesten in den Atlantik ragenden Sporn Schiff um Schiff auf Entdeckungsfahrt aussandte. Wie der Mann, wieder und wieder erwartungsvoll auf der Klippe steht. Und Abend für Abend auf die Rückkehr seiner Schiffe wartet. Mit diesem Bild im Kopf endete mein Novemberabend in der Bibliothek. Und mit ihm war ich im ersten Schneetreiben des Jahres nach Hause gewandert.
Das Bild des Mannes auf der Klippe verschwand auch danach nicht in meinem Kopf. Sagres, fast 40 Jahre später. Ein scharfer Nordwest hatte mich von Portimao herübergeweht. Er hatte sanft begonnen und hatte schneidender und schneidender über die Klippe am Horizont geblasen. Der Himmel hatte sich grau überzogen, ich hatte mir den Sommer in Portugal anders vorgestellt. Vor den wenigen Häusern über dem Hafen hatte ich beigedreht und die im Starkwind knatternden Segel geborgen, um im Hafen zu ankern. Daraus wurde nichts. Denn hinter der Betonmole liegen Trawler, Fischkutter, Schlauchboote wild und wirr durcheinander. Mir verging die Lust, Levje zwischen dem Durcheinander aus Bojen und Booten hindurch an einen der schartigen Stege zu steuern.
Stattdessen mühte ich mich, nördlich davon zu ankern. Doch wie ich es auch anstellte, mein Bügelanker, der sonst sofort fest zubeißt, wollte und wollte nicht halten. Dann war plötzlich die Dämmerung da. Ich gab entnervt auf und steuerte eine Meile weiter nördlich vor einen Sandstrand, wo einsam ein Katamaran lag. Und ich
auf die Insel schauen konnte, die im weichen Licht des Abends dalag wie ein gestrandeter Blauwal. Dort versuchte ich vor dem Sandstrand mein Glück mit dem Ankern erneut. Diesmal hielt er sofort. Ich hatte auf 3,50 Meter Wassertiefe geankert. Das Licht war zu wenig, um noch zu sehen, wo er wirklich hingefallen war. Im Dunkeln geht es, anders als am Tag, nur darum, dass der Anker hält. Das tat er. Alles fein. Jetzt was Warmes zu essen. Ein Topf heißer Kartoffeln? Mit zerlaufener Butter? Und grobem Meersalz darüber? Eine allerletzte Flasche des italienischen Bieres war auch noch im Kühlschrank. Ich verschwand unter Deck und setzte den Schnellkochtopf auf den Gasherd.
Eine halbe Stunde später. Der Wind war verschwunden. Die Sonne auch. Über dem Strand erleuchtete sie ein letztes Mal von unten die wirren Wolkenwirbel. Abschlussfeuerwerk und einzigartiges Meereskino während des Abendessens. Alles war gut.
Wäre nicht... ja: Wäre nicht eine halbe Minute später mein argloser Blick auf Levjes Tiefenmesser gefallen. Ich musste zweimal hinsehen. Dann noch einmal genau: 2,80 Meter zeigte der. Ich Esel. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, seit drei Tagen in einem Tiedengewässer unterwegs zu sein. Wenn ich jetzt bei Flut auf 3,50 Meter geankert hätte und der Tidenhub 2 Meter beträgt, dann: Gute Nacht - säße Levjes 2-Meter-Kiel demnächst auf dem Grund. Im Ipad den Tidenkalender aufrufen, "Niedrigwasser Sagres" suchen: Das geschah in ein und demselben Augenblick. Niedrigwasser. Aha. Erst in einer Stunde. Das war die schlechte Nachricht. Und die gute? In dieser Stunde würde der Pegel nur noch um 10 Zentimeter fallen. 2,70 Meter. Also mindestens 70 Zentimeter Wasser unterm Kiel. Wenns dumm käme und der Wind uns gen Sandstrand trieb, würden uns mit etwas Glück immer noch die berühmte Handbreit Wasser unterm Kiel bleiben.
Über eine Stunde blieb ich wach. Und beobachtete den Tiefenmesser, bis mir die Augen zufielen. Wie hatten sie das gemacht? Die Seeleute, die Dom Henrique ausgesandt hatte? Ohne iPAD. Ohne sofort verfügbaren Tidenkalender? Ohne Kenntnisse der Winde, der Strömungen? Ich dachte an den Mann, der von dort oben, wo heute die steinerne Windrose oben in den Klippen eingelassen war, seine Schiffe weit nach Westen Richtung Amerika und nach Süden die afrikanische Küste hinunter ausgesandt hatte. War er wirklich auf der Klippe hinter mir gestanden?
Ich weiß, ich werde es herausfinden. Für mein Buch. Wie die Geschichte des Mannes wirklich geht.
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