Montag, 28. August 2017

Übers Meer: Von Italien nach Sizilien. Von der Stiefelspitze nach Syrakus.








Es dämmert draußen. Im Aufwachen sehe ich, wie die Dunkelheit draußen in milchiges Grau übergeht. LEVJE wiegt sich sanft in irgendeiner Welle. Ich halte die Uhr vor meine Augen. Viertel nach fünf. Ich höre in der Stille das Boot eines Fischers, das knapp hinter LEVJE aus dem Hafen hinaus aufs Meer tuckert. 

Es war spät geworden gestern, kurz nach elf, bis ich eine der wenigen Marinas an der Sohle des italienischen Stiefels erreicht hatte, Roccella Ionica. Ich war im Dunkel bis vor die Hafeneinfahrt gefahren. Hatte langsam drei Kreise gedreht. Und dann meinen Anker fallen lassen. Motor aus. Stille. Noch ein Bier. Dann ab ins Bett.

Jetzt im Grau des Morgens kann ich mehr erkennen, wo heute Nacht mein Zuhause war. Ich hatte meinen Anker genau vor dem langen Strand neben dem Hafen fallen lassen. Rechts der Hafen, mit den noch schlafenden Masten. Hinter mir die Mole aus Zementpylonen, hinter der jetzt gerade die Sonne aufgeht. Links das offene Meer. Zeit aufzubrechen. Nach Sizilien.

Zwei Stunden später. Es ist windstill. Wir laufen unter Motor die Küste Kalabriens entlang. Es ist eine einsame Küste, ewig langer unentdeckter Sandstrand, kein Tourismus. Auch ein Platz, um tagelang aufs Wasser zu schauen. Das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Frieden zu finden.

Gegen Mittag macht die Küste am Kap Spartivento einen Bogen von Südwesten nach Westen. Auf der italienischen Landkarte ist das der Knick in der Sohle, wo der Ballen beginnt. Ich habe fast die Stiefelspitze erreicht, doch ich folge nun nicht weiter der Küste, sondern gehe hinaus in die Weite, ziele auf den weitest entfernten Ort auf Sizilien, nach Siracusa im Südosten der Insel, um nur ja eine lange, lange Überfahrt zu haben. Allein auf dem Meer. Für 140 Kilometer.


Wie lange braucht eigentlich eine Küste, bis sie hinter uns zu Schemen verblasst? Eine halbe Stunde? Eine? Zwei? Nein. Es dauert dreieinhalb Stunden, bis Kalabrien irgendwo im Dunst und hinter der Krümmung des Wassers verschwunden ist. Und ich fast nur noch von Wasser umgeben bin. Fast. Denn irgendwo weit rechts, hoch in den Wolken, ragt unwirklich ein schwarzer Zipfel aus den Wolkenspitzen heraus. Der Gipfel des Ätna, der an dieser Stelle von Null auf über 3.000 Meter ansteigt und fast ein Zehntel der Fläche Siziliens für sich beansprucht.

Ich lasse ihn einfach rechts liegen. Und steuere hinaus, wo ich nichts anderes mehr finde als unermessliche Weite und Geborgenheit in diesem fremden Element. Sie kann einen süchtig machen, diese Weite. Und die Geborgenheit dazu. Es ist fast windstill, keine fünf Knoten Wind von vorn. Das Glitzern auf dem Wasser., als wäre es ein Abbild des Sternhimmels. Das Rauschen links und rechts von LEVJE, die mit monotonem Brummen einfach immer weiter ins Nichts steuert. Ich bin noch nicht weit weg vom Land. Und doch habe ich das Gefühl, in die Weite eines fremden, unerforschten Kontinents hineinzusteuern, in dem die Regeln andere sind. So ganz andere als am Land.



Für einen Moment denke ich an München, die Stadt, in deren Nähe ich immer lebte. An die Lindwurmstraße, an den drängenden Verkehr, an jenes „Tu dies. Erledige das“, das über allem liegt. Von meinem Cutter, von Felix, der den Schnitt meines MÜNCHEN-ANTALYA-Films besorgte, lernte ich das Wort „pushy“. „Ich war so pushy drauf“, sagte Felix einmal. Ob er mir recht geben würde, dass es die Stadt an sich ist, die „pushy“ drauf ist? 

Ich sehe in der Seekarte nach. Das Meer ist an dieser Stelle 2.000 Meter tief. Weite also nicht nur nach links und rechts, so weit mein Auge reicht. Sondern auch nach unten. Jetzt, wo ich draußen bin, erscheint mir das Meer so unfassbar weit, dass mir München, ja selbst dies Europa von meinem augenblicklichen Standpunkt aus winzig vorkommt, samt all seiner Pracht, seinem Gedrängel, seinen Sorgen.



Bist Du nie einsam auf dem Meer, wenn Du so allein unterwegs bist, werde ich oft gefragt? Nein. Einsam ist das unfreiwillige Los, alleinzusein wider Willen. Es nicht ändern zu können, obwohl man es gerne möchte. Ich? Bin gerne allein. War es immer. Und weiß doch, dass ich die Menschen mehr brauche als jeder andere. Und in Gedanken reist meine Frau immer mit.

Vielleicht ist es das, was die Geborgenheit im Alleinsein ausmacht. Nichts mehr, was bedrängt in diesem Augenblick. Nichts was drängelt. Nichts, was in einem solchen Moment sagt: „Tu dies. Tu das.“ Das Meer ist in diesem Augenblick einfach da, nur für sich und überhaupt gänzlich desinteressiert an mir, wie es immer ist. Ich bin nicht Kunde. Ich bin nicht Objekt irgendeines Marketings. Das Meer nimmt keine Kenntnis von mir. Ist einfach nur unendlich weit. Und weil es so weit ist und ich in dieser Weite nur eines erkenne: Wie klein ich eigentlich bin; drum habe ich genau hier, mitten im Nichts, meinen Ort und Halt gefunden, in diesem Augenblick. 

Das große Ganze um mich herum: Es kann auch anders. Es kann rauh sein und unwirtlich und abweisend. Und so, dass man bei 30 Knoten immer wieder den Kopf einzieht und auf sein Rigg schaut, so wie bei meiner Überfahrt über den Golf von Tarent vor einigen Tagen. Doch jetzt: Alles ruhig. Alles still. Platz zum Atmen.



Es ist später Nachmittag, halb fünf. Eben habe ich auf die Tankuhr geschaut, beiläufig, und festgestellt, dass der Diesel im Tank zur Neige geht. Tankuhren sind tückisch - vor allem, wenn man sie noch nicht so gut kennt. Sie brauchen lang, bis der Zeiger von "Voll" auf "Halb" zurückgeht. Das war Vorgestern. Also dachte ich, alles ok. Und nun steht der Zeiger plötzlich auf „ein Achtel.“ Oder ist es nur noch "ein Zehntel"? Noch sechs Stunden übers offene Meer bis Siracusa.

Ich nehme meine Logbuch zur Hand, in dem ich jede Tankfüllung, jede Motorstunde am Ende eines Segeltages eingetragen habe und rechne nach. Eigentlich müssten ja noch dreißig Liter im Tank sein. Aber so genau weiß man das nie. Mehrverbrauch. Meine tagelangen Filter-Arien, um die Diesel-Bakterien und Dieselpest aus meinem Tank zu bekommen. Weil ich es jetzt aber genau wissen muss, will ich nicht plötzlich mit stotterndem Motor in der Weite der Straße von Messina liegenbleiben, hole ich mir Werkzeug. Und gehe nach Achtern in meine Kammer, die sich über die Breite des Schiffes zieht. Unter meinem Bett ist neben dem 170 Liter Wassertank auch der 210-Liter Dieseltank. Ich nehme den Schraubenschlüssel, drehe in Windeseile die sieben Muttern der tortengroßen Insepktionsluke auf, und leuchte mit der Taschenlamp nach unten, ins grünliche Dunkel des Tanks. Tatsächlich. Da schwappen nur noch etwas mehr als drei Liter. Und keine dreißig. Das reicht noch für zwei, drei Stunden. Nicht mehr.



Tankstelle gibt es auf dem offenen Meer keine. Ich denke nach. Es wäre nicht schlimm, wenn der Motor stehenbliebe. Ein leises Lüftchen weht, fünf Knoten. Ich bräuchte 30 Stunden, um irgendwie die restlichen 50 Seemeilen nach Siracusa zu driften. Eigentlich kein Problem. Doch dann fällt mir ein, dass ich irgendwo noch einen 15-Liter-Kanister stehen habe. Tatsächlich. Das sollte reichen, für 10 Stunden. Ich hole das schwere Teil aus der Backskiste, hangle es nach oben, balanciere hinten auf den Treppenstufen von LEVJE herum, während das Boot unvermindert weiterläuft, und fülle Diesel in die schmale Tanköffnung. Alles wieder gut.



Es ist die Weite, die mich glücklich macht. Diese unendliche Weite, die mich doch eigentlich ängstigen müsste, weil ich allein bin hier draußen und im Umkreis von 100, 150 Kilometern gerade niemand ist, der mir helfen könnte. 

Vor wenigen Tagen starb Gudrun Calligaro, die in den Achziger Jahren mit 45 auf einem neun-Meter Boot die Erde umrundete. Und dabei nur sieben Mal das Bedürfnis hatte, einen Hafen aufzusuchen. Sie war die erste Deutsche, die die Welt einhand umrundete. Sie war nicht auf der Jagd nach Rekorden oder Unsterblichkeit. Sie suchte die Weite. Und sie war die erste, die in ihrem Buch EIN TRAUM WIRD WAHR über die Schönheit und das wundersame Geborgensein in ihr berichtete.


Es ist 18 Uhr. 12 Stunden nach meinem Aufbruch taucht vor mir das Land auf im Dunst. Noch vier Stunden, dann bin ich da. Nein, es sind Überfahrten auf meinem Schiff wie diese und die vorangegangene über den Golf von Tarent, die den ungeheuren Reiz ausmachen. Bin ich in München, fehlt es mir selten. Lebe ich es hier: Könnte ich mir mein Leben nicht ohne vorstellen.

Sonntag, 27. August 2017

Aufwachen in: Crotone.

Es gibt Posts, die bedauert man, geschrieben zu haben. 
Bei anderen ist man sich nie seiner Sache so ganz sicher. 
Am schlimmsten aber sind die Posts, die man nicht geschrieben hat. Bei denen einen noch Tage später das Gefühl beschleicht: Über diesen Ort, diesen Menschen hätte man schreiben, für andere berichten sollen. Ganz unbedingt. Weil es ein besonderer Ort ist. 

Crotone an der Südküste Kalabriens ist so ein Ort. Und das nicht bloß, weil ich den Ort nach einer wilden Überfahrt über den Golf von Tarent (siehe meine letzten Post) vor mir hatte. Die Stadt ist rätselhaft, wie sie sich zu Füßen des merkwürdigen, nur karg bewachsenen Höhenrückens bettet. Ein rätselhafter Höhenzug aus merkwürdig graugrünem Gestein, der sich wie eine Sichel schützend um sie legt.

Crotone empfing mich irgendwie mit offenen Armen. Und so ganz anders wie die ihre Hauer bleckende Gorgo, das gruselige Haupt, das die Griechen Crotones zur Abwehr aller Schrecken dieser Welt an ihre Tempelmauern klebten. Crotone war freundlich, die Marineros im YACHTING KROTON CLUB nahmen sich meiner an. 

Die ersten Schritte am nächsten Morgen nach dem Aufwachen am Hafen: Eine Hafenbar, wie man sie sich schöner nicht wünschen kann, mit ein paar Fischern drin, die hier den Vormittag rhabarbernd verstreichen lassen. Links daneben ein großer Fischladen. Ich konnte nicht anders, als hineinschauen, ich litt noch immer unter der essensmäßigen Kargheit Kroatiens, wo einfaches Essen aufzutreiben so schwierig war wie auf den Inseln einen Fisch zu kaufen und auch meine gefühlten 15-Mal-einen-vorbeifahrenden-Fischer-fragen, ob-er-mir-nicht-einen-Fisch-verkauft ohne Ergebnis verlaufen waren. Wo die Fischläden, kaum dass sie geöffnet hatten, am späten Vormittag gleich schon wieder zusperrten.

Ich merkte, ich war ausgehungert, irgendwie, von Kroatien. Und jetzt: Stand ich in diesem Fischladen in Crotone, der eigentlich eine Fischhalle war, inmitten einer Menge von Menschen, die wie ich Freude daran haben, Fisch zu kaufen. Es gab: Die obligaten Branzini (Wolfsbarsch) und Orate (Dorade) sowieso. Seehecht, Rochen, Scorfano. Berge von Muscheln, Vongole, Cozze, mittendrin Austern, Heuschreckenkrebse und Langusten, Lachs und Schwertfisch und Thunfisch und Jakobsmuscheln und Scampi roh zum pulen und überhaupt. Ich hatte das Gefühl, ausgehungert nach gutem einfachen Essen, plötzlich im Paradies zu stehen, im Schlaraffenland.

Ein paar Schritte weiter. Ich hatte Hunger bekommen. Und wer unterwegs ist, der lernt auf die Signale am Wegrand zu achten. Zwischen all den Hafenwerkstätten, Fischläden, Mechaniker- und Bootszubehörläden (... noch so ein Schlaraffenland!) hatte ich einen Mann mit einem frischen Panino in der Hand gesehen. Wenn der das hatte, musste es hier doch in der Nähe ... und schon stand ich davor: Ein großes Schild SALUMERIA stand darüber, Wurstladen. Der Laden war nicht größer als der Flur meiner Großmutter. Aber proppenvoll mit verschiedenen Salame und Schinken. Vor meinen Augen drehte das Wort COTTO NAZIONALE große Kreise, zwischen denen die Worte CRUDO NAZIONALE und GORGONZOLA PICANTE wie kleine zwitschernde Vögelchen flirrten. Zehnerlei Käse, vom Mozzarella di Buffalla über Taleggio, Pecchorino bis Bel Paese. Nein, sowas. Ich fühlte, ich war angekommen. "Due Panini, per favore, con..." was nehm ich bloß? Egal, eine in Öl eingelegte getrocknete Tomate muss da noch mit drauf...

So ging mein Vormittag dahin. Im Hafenviertel entdeckte ich mindestens drei Fischläden, Austern hatten sie alle, da ließ man nichts, aber auch gar nichts anbrennen in Crotone. Ich sauste mit dem Panino von der Salumeria in der Hand zur Werft von Elio, von dem sie sogar im 200 Seemeilen entfernten Marina di Ragusa auf Sizilien schwärmerisch geredet hatten, um ihn wegen meiner heißlaufenden Stopfbuchse um Rat zu fragen. Elio versprach, seinen Mechaniker zu schicken. Ich sauste zurück in die Stadt, nicht ohne die nächste Salumeria am Hafen von innen zu bestaunen, ein Ort, wo eine Anzahl hurtig hantierender Männer HINTER dem Tresen die löwenmäßig ausgehungerten Männer VOR dem Tresen mit allem möglichen zwischen zwei Paninihälften versorgte. Wir reden nun nicht von den zwei Gelaterie im Zentrum, die meinen Aufenthalt im Archäologischen Museum aufs angenehmste einrahmten.

Nein, Crotone mit seinem Gewirr an Werkstätten, Fischläden, Salumerien und sonstigen kleinen Läden zu Füßen der Festung hat was. Vielleicht hat sich mein Weltbild in den letzten drei Jahren grundlegend simplifiziert. Oder sagen wir besser: Noch mehr zu dem verdichtet, was wirklich zählt. Gutes Essen. Ganz ohne Tütteltüh und Schi-Schi. Und ein paar Männer, die machen statt zu quatschen. So wie Pasquale, der Marinero im YACHTING KROTON CLUB. Oder Elio. Oder die Männer hinterm Tresen.


Wer jemals mit dem Boot nach Crotone kommt:

Telefon YACHTING KROTON CLUB, Pasquale: +39 320 611 50 69
Telefon PORTO VECCHIO SERVICE,  Elio:         +39 338 125 89 86

Fischläden, Salumerien, Gelaterien? Da müssen Sie sich schon selber auf die Suche machen. In Crotone.





Mittwoch, 23. August 2017

Italien Süd: Mit dem Nord über den Golf von Tarent. Oder: Wie fühlen sich 30 Knoten an?


 Am Abend hatte ich mir den Wecker gestellt. Pünktlich um 04.30 kamen aus dem IPad die Harfenklänge. Ich ließ es erst einmal eine Minute „harfen“. Dann schlug ich die Augen auf.

Draußen ließen harte Böen LEVJE an ihrem Anker zerren. Nicht beunruhigend. Die Böen hatten eingesetzt, wie der Wetterbericht es vorhergesagt hatte, pünktlich um ein Uhr Morgens. Ich war aufgestanden. Hatte eine Weile zugesehen, wie die Böen LEVJE im  grellen Licht der Uferstraße in der Ankerbucht schwingen ließen. Hatte beobachtet, ob der Anker hielt, indem ich einfach zwei Minuten die Wassertiefe beobachtete. Sie blieb konstant zwischen 4,80 Meter und 5,00 Meter. Der Anker hielt. Dann war ich wieder in meine Koje gekrabbelt. Und war eingeschlafen.

Jetzt waren die Böen immer noch da. Etwas härter, ein weniger hackiger, übellauniger. Und das Gleißen eines Blitzes, das meine Kammer im Achterschiff erhellte. „Steh auf. Geh nachsehen“, mahnte mein Hirn. Schlaftrunken mache ich meine Runde durchs Schiff. Schließe die Fenster, die noch offenstehen. Werfe einen Blick nach draußen. Keine Minute zu Früh. Plötzlich fallen dicke Tropfen. Erst wenige. Dann setzt schwerer Regen ein, während die Böen weiter an LEVJEs Anker zwerren. Eigentlich ist alles dicht auf dem Schiff, nur der Niedergang, die Treppe in LEVJEs Inneres, ist noch offen. Sie ist abgedeckt durch die Sprayhood, eine Art Haube, die sie vor jedem Wetter schützt und auf die jetzt schwer der Regen schlägt. Obwohl der Niedergang windgeschützt ist, dringt Regen ein, weht in schweren Geschossen um die Sprayhood herum und macht mich nass, während ich auf der Treppe im Niedergang sitze. Und beobachte, wie sich mein Schiff verhält.

Regen am Meer kann es in sich haben. Er ist nicht zu vergleichen mit dem kontinentalen Regen, wie er bei uns niedergeht. Selten feiner Niesel, den die Engländer „drizzle“ nennen. Stattdessen Tropfen wie Geschosse, die im Nu das Wasser 20 Zentimeter auf der Straßen stehen lassen. Und in Sekunden als Sturzbach einen Weg vom Genick abwärts finden.

Nach einer Weile lege ich mich wieder in meine Koje. Nein, nicht jetzt wie geplant ablegen, den Anker holen. Und losfahren. Ich gönne mir noch eine Stunde. Und stelle den Wecker auf halb sechs. Und während ich versuche, einzuschlafen, während ich noch nach draußen lausche und dem rauschenden Regen zuhöre, verebbt er. Als hätte jemand mit einer entschlossenen Handbewegung den Wasserhahn abgestellt. Und mit ihm die Böen. Plötzlich ist es windstill draußen in der Dunkelheit. Das Schiff liegt reglos. Der schwere Regen hat die Wellen plattgedroschen. Ich höre nur noch das Gurgeln des strömenden Wassers, das sich an Deck wenige Zentimeter über mir glucksend in zahllosen Rinnsalen seinen Weg ins Meer sucht.

Als das Ipad zum zweiten Mal harft, ist es immer noch ruhig draußen. Die harten Windstöße sind einem feinen Singen gewichen über dem Schiff, der Wind ist gleichmäßiger geworden in meiner Bucht. Doch ich ahne, wie weiter draußen viel Wind weht. Unter den feinen singenden Tönen ahne ich draußen, wo der Schutz der Bucht endet, ein Orgeln. Vor den Fenstern meiner Kammer ist es draußen grau. Es dämmert. Zeit aufzustehen. Mich fertigzumachen.

Ich koche mir einen Tee. Schütte mir ein paar Haferflocken mit bitterer Schokolade in eine Schale. Früher, als ich noch einen Verlag mit 25 Mitarbeitern führte und mein Leben ein ganz anderes war, hatte ich oft Magenprobleme. Magenreizung hier, Reizmagen da. Ich schluckte jeden Tag Pantoprazol, wie viele in meinem Land das tun. Es half. Jetzt gönne ich mir jeden Morgen etwas Haferflocken. Magenschmerzen habe ich keine mehr. 

Die Tasse in der Hand, sehe ich mir noch einmal die Wetterberichte an. Vor drei Tagen hatte ich noch geplant, die 80 Seemeilen über den Golf von Tarent unter Motor zu überqueren, bevor die Kaltfront uns und die Südostspitze Italiens erreichte. Aber dann waren die Wetterberichte milder ausgefallen. Nur noch von sechs Windstärken aus Nord war die Rede, für drei Tage. Ich hatte beschlossen, genau auf dieses Wetter zu warten, um unter Segeln die Strecke zurückzulegen. Doch pünktlich gestern Abend hatte der Wetterbericht der italienischen Luftwaffe seine Milde sang- und klanglos eingestellt. „Ionio settentrionale forza 7. Con temporali.“, hieß es plötzlich gnadenlos. Gewitter. Und Windstärke sieben genau für meinen Sektor Ionisches Meer Nord. Kein Wetter, bei dem man rausgeht. Ich hatte kurz überlegt. Mir dann weitere Windkarten angesehen. Und beschlossen, die Überfahrt auch bei diesem Wetter zu wagen. Schließlich ist LEVJE ein Schiff, das genau für solches Wetter gebaut ist. Siebeneinhalb Tonnen schwer. Der Mast eher einen Tick zu klein, so dass man auch bei höheren Windstärken die Segel stehen lassen kann. Schwer. Behäbig. Ich ging übers Deck. Und machte mein Schiff seeklar.

Mit der Tasse in der Hand schaue ich nach draußen, in die Dämmerung. Und das fahler werdende Licht der Straßenlampen am Ufer, die plötzlich verlöschen. Ich starte den Motor, lausche einen Moment seinem beruhigenden Bullern. Dann setze ich das Großsegel. Und hole im Wasser, das der Nordwind kräuselt, den schweren Anker. 



Zwei Stunden später. Ich bin draußen, und das Kap von Santa Maria die Leuca, da äußerste Ende des Stiefelabsatzes, verblasst langsam hinter mir. Hier draußen hat der Wind kontinuierlich zugenommen. Erst waren es 15 Knoten. Und vorsichtig hatte ich Großsegel und Genua auf zwei Drittel entrollt. Aber irgendwann schwand die Vorsicht. LEVJEs Geschwindigkeit war mir zu wenig, und ich setzte Vollzeug. Alles, was ich hatte. Weiter draußen war der Wind mehr geworden. Und mehr. Erst 20 Knoten. Dann 25. Dann in der Spitze bis 27. LEVJEs siebeneinhalb Tonnen schossen wie ein Pingpong-Ball von rechts nach links, von links an rechts. Zuviel Segel. Reffen war angesagt. 

Reffen: Die Segelfläche verkleinern. Man rollt sie etwas ein. Das klingt einfach, meist sind es schweißtreibende fünf Minuten mit wütend schlagenden Schoten, knatternden Segeln, schepperndem Rigg, in denen ich zusehen muss, möglichst schnell über die Winschen zu kurbeln. Und den um sich hauenden Schoten aus dem Weg zu gehen. Blaue Flecken, eine aus dem Gesicht gehauene Brille wären jetz übel. 


Aber dann segelt LEVJE wieder so munter wie vorher zwischen den Wellenkämen entlang, surft ein Wellental, das seitlich kommt, entlang. Klettert wiegend auf den Gipfel der unter uns durchlaufenden Welle. Und surft vom gischtend brechenden Kamm der Welle wieder hinunter ins nächste Wellental. Ein nettes Spiel, über dem ich schnell vergaß, dass 25 Knoten eigentlich eine Windstärke sind, bei der man Respekt haben sollte, zumals als Einhandsegler. Früher, auf LEVJE I, war genau das meine Grenze. Sie war kleiner, wog nur die Hälfte, und war doch ein tapferes, braves kleines Schiff, auf dem ich Einhand in die Türkei und von dort nach Sizilien gesegelt war. 25 Knoten. Darüber wurde es mulmig, weil das Schiff, meine kleine Welt, zu kippelig, zu instabil wurden.


25 Knoten. Wieder eine Welle, die gischtend vor uns bricht und LEVJE kurz aus ihrem Kurs spültt.  Aber der Autopilot, der auf langen Fahrten steuert, schafft es in zwanzig Sekunden, LEVJEs siebeneinhalb Tonnen wieder einzufangen, auf Kurs zu bringen. Der Autopilot ist Einhandseglers wichtigstes Utensil. Er übernimmt das Steuern, während ich Segel setze, reffe, unter Deck nach dem rechten sehe. Zudem ist Steuern bei diesem Wetter Scherstarbeit, man schafft es für eine begrenzte Zeit, für zwei, fünf oder sieben Stunden. Aber nicht für die 12 Stunden, die ich über den Golf von Tarent unterwegs sein werde.


Kurz nach 13 Uhr erreiche ich etwa die Mitte des Golfes. 40 Meilen in alle Richtungen bis zum Land. 75 Kilometer zu schwimmen, in alle Richtungen. Der Wind klettert über die Marke von 31 Knoten. Er bewegt sich jetzt oberhalb der 28 Knoten, und auch ohne den Windmesser vor mir im Cockpit wüsste ich beim Anblick der Welllen, was es geschlagen hat. Sie rollen jetzt in langen Reihen steil daher. Mauern aus Wasser, eine unmittelbar nach der anderen, ein tiefer Graben dazwischen. Sie treffen LEVJE seitlich, brechend unmittelbar neben ihr, Spritzwasser weht eimerweise in unachtsamen Momenten über mich, wenn ich mich nicht schnell genug hinter die Sprayhood ducke. Schluß mit lustig. Spiel vorbei. Die Wellen lassen Levja jetzt kaum noch auf den Kamm klettern, sie brechen irgendwo seitlich neben ihr, wenn es weiter weg ist, sehe ich, wie der brechende Wellengipfel unter der weißen Gischt in der Sonne flaschengrün leuchtet. Schaue ich nach hinter, wo LEVJEs 1,80 tief hinunterreichendes Ruderblatt eine aufgwühlte See hinterlässt, dann sehe ich, wie der Wind sofort die Tröpfchen vom Kamm mit sich reißt. 


Ende des Spiels. This is going serious. Als eine Welle neben LEVJE bricht, werde ich erst mit Salzwasser überschüttet. Dann fliege ich in LEVJEs harter Bewegung quer durchs Cockpit, auf die andere Seite. Das geht zwei Mal so. Bis auch dem einzigen Dümmsten an Bord dämmert, dass ich etwas unternehmen muss. Reffen? Geht nur noch minimal - ich habe Vorsegel und Groß schon aufs 2. Reff gebracht. Noch mehr Reffen ist nur noch Kosmetik. Dann die nächste Variante: Ich falle etwas ab. Lasse LEVJE jetzt noch mehr mit dem Wind laufen. Es wird wieder ruhiger an Deck. Und LEVJE wird jetzt nicht mehr gar so wild von den Wellen geprügelt. Ich überlege, wie es nun weitergeht. Eine der Winkarten kündigte an, dass es vor Crotone am frühen Abend noch heftiger werden wird. Noch mehr Wind? Wir kommen langsam an unsere Grenze. Sicher. Ich versuche, mir übers Handy den neuesten Wetterbericht zu holen. Aber wir sind längst so weit draußen, für Stunden geht gar nichts mehr. Ich bin auf mich allein gestellt.


Für eine Stunde bleiben die Dinge, wie sie sind. Es weht in Böen über 30 Knoten. Die Wellen ragen steil. Dann: Fällt plötzlich die Zahl auf dem Windmesser. 27. 24. Dann wieder 30. 23. Die Wut der Wellen lässt spürbar nach, das Meer wird glatter. Ich kann wieder den richtigen Kurs legen.


Nachmittags um halb drei taucht plötzlich der Schemen des Festlands vor uns auf. Das Radar, das ich mitlaufen lasse, hat es längst schon gesehen, der gelbe Fliegenschisse oben rechts auf dem Bildschirm. Jetzt sehe auch ich es. Weitere drei Stunden später habe ich plötzlich wieder Empfang auf dem Handy. Ich lade mir den Wetterbericht. Doch der verheißt erneut nichts Gutes: „Nordovest 7. Temporali“. Nordwest sieben. Und weiter Gewitter. Bad News. Ich werde nicht ankern können. Ich brauche heute Nacht richtig Schlaf, sonst kann ich den morgigen Tag vergessen. Auf der elektronischen Seekarte finde ich den Hafen von Crotone. Da war ich noch nie. Ich rufe an. Und frage, ob sie in zwei, drei Stunden für mich und mein Schiff Platz im Hafen hätten. Pasquale ist dran. Ja, sagt er, komm ruhig. Wir haben noch Platz. Wenn Du in den Hafen reinfährst, siehst Du rechts einen Typen mit rotem Pullover auf der Pier. Das bin ich. Folge einfach unseren Anweisungen.“


Als ich ankomme, weht der Wind quer durchs Hafenbecken auf mich zu. Statt eines roten Pullovers sehe ich gleich drei auf der Pier. Sie winken. Halten mir die Mooring hin. Eine Drehung im Hafenbecken. Rückwärts rein zwischen die Schiffe. Aufmunternde Rufe von den drei roten Pullovern. Was haben die bloß? Ist doch alles ok. Als meine Leinen fest sind, stelle ich LEVJEs Motor ab. Die drei in den roten Pullovern schauen mich an. „Waren nicht viele heute draußen unterwegs!“, sagen sie.“ Ich nicke. „Vuoi una birra?“ „Willst Du ein Bier?“, fragt Pasquale, und greift in den Kühlschrank hinter sich. Und ich, todmüde, fühle mich wieder einmal aufgenommen, getragen, von einer Woge, wie sie nur die italienische Männerwelt dem Fremden gegenübern zu entfesseln fähig ist.


Montag, 21. August 2017

Windhosen über der Insel Mljet.






Insel Mljet. Mitte August. Alles begann harmlos. Harmlos und unauffällig. Die kroatische Wettervorhersage hatte für den Nachmittag möglicherweise Gewitter vorhergesagt. Möglicherweise. Für Nachmittag. Und Böen aus Nordwest bis Nordost mit 35 bis 45 Knoten. Dabei sah man auf wetteronline.de und blitzortung.org die Front am Morgen schon heranziehen.

Man tut als Segler in einem solchen Fall, was zu tun ist. Man geht in einen Hafen. Auf der Insel Mljet, der einsamen und langen Schönheit ein paar Segelstunden nördlich von Dubrovnik, gibt es keinen Hafen. Einen Fähranleger ja, an dem zweimal täglich der Katamaran von Split anlegt. Sonst? Nur ein paar Restaurantstege, an denen Wirte gegen ein Abendessen einen Segler kostenlos festmachen lassen. Einen Hafen gab es aber nicht. Also suchte ich nach einer Bucht. Einer, die geschützt ist, wenn Böen aus Nordwest bis Nordost mit 35 bis 45 Knoten drohen. An der Ostspitze Mljets gibt es so eine Bucht. Saplunara ist nach Westen, Norden, Osten von kiefernbewaldeten Hängen geschützt. Nur nach Süden ist sie offen, zum Meer hin. Von dort, so dachte ich droht ja keine Gefahr. Ich steuerte am Morgen von Dubrovnik kommend die Bucht an. Mied die Bojen, solange sich kein Verantwortlicher zeigte. Ließ meinen Anker neben einer italienischen Yacht fallen. 


Die Frage, ob man im Gewitter sicherer im Hafen oder auf dem offenen Meer ist, scheint leicht zu beantworten. Tatsächlich antworteten sogar ausgewiesene Schadens-Experten, die wir für unser Buch GEWITTERSEGELN interviewten, dass der einzige Unterschied zwischen „drinnen“ und „draussen“ der sei, dass im Hafen schneller Hilfe verfügbar sei. Sonst? Sei man „drinnen“ wie „draussen“ auf dem offenen Meer in Gottes Hand.

Der Himmel am Morgen war wolkenlos. Und gegen alle Vorhersagen wehte kraftvoll Wind aus Süd in die Bucht. Und machte das Liegen unbequem. „Er wird drehen“, dachte ich, „wenn erst das Gewitter kommt. Er wird drehen." Also achtete ich vor dem blauen Himmel nicht darauf.

Gegen Mittag erreichte eine graue Wolkenfront aus Nordwesten die Bucht. Es war nichts als ein Band grauer Wolken von Nord nach Süd, über dem links und rechts der strahlend blaue Himmel weiter leuchtete wie zuvor.

Das erste, was mir auffiel, war, dass das Wolkenband sich plötzlich nicht mehr bewegte. Er blieb genau über der Bucht von Saplunara einfach stehen. Ein langer dunkler Wolkenstrich, der von Norden quer über die Insel genau nach Süden hinaus aufs Meer ragte. Dorthin, woher der Wind kam. An der Unterseite des grauen Strichs zeigten sich plötzlich Wirbel. Und in deren Mitte Wolkenbeulen nach unten. Beginnende Windhosen, die wie eine Brust nach unten hängen und ein untrügliches Zeichen für Gewitter sind. Die große Wolke im Bild oben zog einfach einfach das Wolkenband entlang von Süden nach Norden. Wie auf einer Straße. Sie folgte dem Wind.

Plötzlich begann sich die Wolke, wie eine Zitze nach unten zu denen. Die Kreiselbewegung nahm deutlich zu, ein langer Schlauch entwand sich unten Richtung Wasseroberfläche der Bucht. Wenige hundert Meter nördlich lag ich mit LEVJE vor Anker.

Der Schlauch dehnte sich. Wurde länger. Und länger. Reckte den Rüssel nach unten, Richtung Bucht, wo die italienische Yacht neben mit lag. Plötzlich war sie da. Zog entlang des Wolkenbandes langsam nach Norden. Zugleich bildete sich eine zweite Windhose draussen hinter dem Hügel über dem Meer.

Der erste dünne Schlauch zog hinter dem Hügel auf dem Meer. Er fand hinter uns draußen auf dem Meer statt, zog langsam nach Norden, das Wolkenband entlang, das nun schwarz war. Doch der zweite Rüssel wanderte ebenfalls das Wolkenband entlang. Nach Norden. Er erreichte die Einfahrt in die Bucht, reckte sich weiter nach unten, wo sich ein Wirbel gischtenden Wassers bildete, der genau auf die Mitte der Bucht zukam. Auf die italienische Yacht und mich.

Es ist ein unguter Moment, wenn eine Windhose auf eine ankernde Yacht zusteuert. Ein Boot ist seiner einzigen ihm innewohnenden Abwehrmöglichkeit beraubt - nämlich einfach abzuhauen. Ich saß auf LEVJE, spürte mein Herz schneller schlagen. Und wusste, dass die Windhose uns erreicht hätte, bevor ich auch nur den Anker zur Hälfte geholt hätte. Ich begann, in Eile alles Bewegliche an Deck festzuzurren. Oder einfach unter Deck zu werfen. Sollte die wirbelnde Gischt uns erreichen, würde es an Deck unweigerlich Bruch geben. Ich beschloss in den wenigen Augenblicken, dass der sicherste Ort für mich ebenfalls unter Deck wäre, sollte die Windhose uns tatsächlich erreichen.

Zwischen mir und der Windhose lag nur noch ein Fischer. Er arbeitete zusammen mit seinem Sohn, mit dem Rücken zur Windhose, holte Reusen vom Grund der Bucht herauf. Er sah den langen dünnen Schlauch, der nun vom Himmel bis zur Wasseroberfläche reichte, in seinem Rücken nicht. Ich begann, aus Leibeskräften zu brüllen, um ihn zu warnen. Er hörte mich im Lärm seines Außenborders nicht. Plötzlich sah er den wirbelnden Schlauch in seinem Rücken. Die Reuse ins Wasser fallen und Gas geben waren bei ihm eine einzige Bewegung. Er motorte eilends ins Innere der Bucht. Der Schlauch kam nun unvermittelt weiter auf uns zu, folgte dem Wolkenband mit dem Wind von Süden nach Norden, das sich einfach nicht bewegen wollte.

Es sind genau diese Momente, in denen ich an das Interview in unserem Buch GEWITTERSEGELN denke. Nein, eine Bucht ist bei Gewitter nicht unbedingt sicherer. Es ist eine trügerische Sicherheit, die sie verspricht. Ich? Hatte meine Entscheidung getroffen. Und saß fest. Ich konnte nichts tun, als den Schlauch weiter zu beobachten, der da auf uns zukam. 

Ich gebe gerne zu: Ich vergaß in diesem Moment zu fotografieren. Es war kein großer mächtiger Tornado. Aber wenn sich eine Windhose genau auf Dich zubewegt und Du nichts mehr tun kannst, nicht weglaufen, nicht wegducken, hat man anderes im Sinn als den Auslöser zu drücken.

Die Windhose kam auf ein Fußballfeld heran. Wirbelte, wand sich - und neigte sich plötzlich aus einem unerfindlichen Grund nach rechts, dem felsigen Ufer in der Bucht, 75 Meter von mir. Im selben Moment, in dem sie die Felsen berührte, verschwand der Schlauch. Er zog sich langsam nach oben zurück, in die Wolke, wo von ihm nichts blieb, wie Wolkenfetzen, die wie Qualm aus der Mündung eines Geschützrohrs waberten.

Nichts blieb vom Schlauch als nur ein kreiselnder Wirbel am Himmel, der langsam in sich verwehte. Und erstarb.

Das Ende meiner Geschichte? Das Wolkenband stand für etwa eine Stunde fest über der Bucht am Himmel. Weitere Mammatus-Wolken bildeten sich in ihr. Genau über der Bucht. Ich zählte an diesem Nachmittag insgesamt acht verschiedene Windhosen, die rings um die Bucht aus dem Wolkenband entstanden. Aber keine von ihnen kam uns so nahe wie die eine.





Jetzt in Druck - erscheint Ende September 2017:










Sonntag, 13. August 2017

Segeln in Montenegro: Unterwegs zu Gipfeln über Kotor. Oder: Des Menschen Suche nach dem Glück.


Am Ende des gleichnamigen langgestreckten Golfs, in seinem hintersten Winkel der langgestreckten Bucht, die eigentlich ein Fjord ist, liegt die Stadt Kotor. Wie ein Kranz überragt die Wehrmauer die alte Stadt. Wer sie besucht, der kann die 1.200 Stufen die alte Stadtmauer hinaufsteigen. Und in drei Stunden auf einen der Gipfel des Lovcen-Gebirgsmassivs wandern, das sich gleich hinter Kotor von von 0 auf über 1.700 Meter steil erhebt.

Also mache ich mich am frühen Morgen auf und rudere von meinem Ankerplatz hinüber zur Stadt. Es ist die beste Zeit. Die Stadt liegt noch im Schatten des großen Berges. Es ist noch nicht heiß. Ich habe mir die Kameras und zwei Flaschen Wasser in meinen Rucksack gepackt.

Irgendwo in einer Seitengasse der kleinen Altstadt geht es rechts ab. Zur Stadtmauer. Man zahlt drei Euro: Und schon darf man hinauf, die Stadtmauer entlang, die zu errichten mindestens sechs Jahrhunderte notwendig war.

Dass es tatsächlich 1.200 Stufen sind, erfahre ich von Marco. Er weiß solche Dinge - schließlich ist er der Küster des kleinen Kirchleins, das auf halber Höhe und halbem Weg in die Wehrmauer eingebettet ist. Marco steht jeden Morgen um sechs auf und geht hinauf zur Kirche. Die Stufen bis zu seiner Kirche hat er nie gezählt. Er läutet da oben über der Stadt die Glocke, wenn es Zeit ist. Verkauft Heiligenbildchen, Anhänger oder - so wie mir - zwei Kerzen, um sie am Altar anzuzünden. Während ich mit ihm spreche über dies und das, während die Hitze steigt und das Innere der Kirche wie einen Backofen füllt, frage ich mich, wie das Tun eines Menschen sein Gesicht formt. 

Ob Marco schon als kleiner Junge aussah wie ein gütiger Mönch? Ob sein Gesicht erst so wurde, weil er tagein, tagaus eben nichts anderes tut als seinen Dienst in der kleinen Kirchen zu versehen? 

Ist es unser Gesicht, das uns irgendwie an den richtigen Fleck im Leben stellt, an den wir hingehören? Oder ist unser Gesicht nur Spiegel dessen, was wir Denken, Tun? Das Gemälde dessen, was unser Leben ist? Worin wir unser Glück finden?

Die Kirche selbst war die gefühlt 300 Stufen alleine schon wert. Weil sie hübsch ist in ihrem Inneren, und einfach, und beides eben doch auch wieder nicht. In manchen Details könnte der Amerikaner Jeff Koons sie designt haben, nein, nicht mit dem Barock-Altar. Der kann mit seinen Stein-Intarsien und den beiden Heiligen zwischen den Säulen seine Herkunft aus Venedig nicht leugnen. Jeff Koons aber könnte Schöpfer der türkis hinterlegten Marien-Abbildungen, der Puti, und von mancherlei geschwungenem Zierat an den Wänden sein.

Wie so oft, wohnt Einfachheit an diesem alten Ort. Irgendetwas, das mich Ruhe finden lässt selbst in der feuchten Hitze seiner Mauern. Gleichmaß, Symmetrie im Steinboden, in der einfachen Kirchenbank, im kleinen Treppenhaus, das nach oben zur Empore führt. Ein beruhigendes Gleichmaß, das mir immer wieder in alten Bauten wie diesen begegnet. Und zu selten sonst in der Welt. Würde man heute diesen Raum irgendwo nachbauen, exakt eins zu eins: Er besäße alles, was der Raum dieser Marienkirche besitzt. Nur das eine nicht. Die Schönheit, die nur Jahrhunderte und ihre Spuren in einen Raum bringen können. 

Ich verlasse Marco, den Küster, und wandere weiter hinauf, die Stufen der alten Wehrmauer entlang, bis ich am höchsten Punkt stehe, da, wo die Wehrmauer den Gipfel erreicht und das Fort von San Giovanni steht. Und wo man den Gipfeln des Lovcen schon merklich nahe ist.

Zu den beliebten und stets neu zu klärenden Fragen im Leben gehört: Käme man als Tier auf die Welt - als was würde man sich gerne inkarnieren? Könnten Sie es aus dem Stand heraus benennen? Ich wusste. Nichts anderes als eine Dohle. Hier oben, wo es einsam wird zwischen den steilen Wänden, da treffe ich sie, die mich oft auf Wanderungen begleiteten. Wo immer ich sie traf, ob in Südfrankreich oder England, wohnten sie am liebsten nahe altem Gemäuer. In der Nähe von Burgen, von einsam gelegenen Mauern und Festungen. Manchmal erschienen mir die kleinen Krähenvögel schon wie Menschen, die einst an diesem Ort gelebt hatten - und einfach nicht weggehen konnten, auf der Suche nach irgendetwas. Ich liebe ihren Flug. Mit leise krächzenden Lauten und lässig hängenden Füßen kurven sie schwerelos zwischen Felswänden umher.

Noch ein Blick auf die Stadt von oben. Dann führt ein schmales Loch in der Mauer nach draußen. Ein Schild sagt, dass es von hier aus noch zwei Stunden sind, bis zum nächsten Gipfel des Lovcen. Hinter dem Loch in der Mauer geht es über ein paar Felsen hinunter. Dann stehe ich vor der nächsten Schönheit am Wegrand.

Die verlassene Kirche eines Dorfes zwischen verfallenden Gebäuden. Es ist nicht mehr als eine Kapelle. Das Dorf, das sich in die Senke duckt, kann nicht groß gewesen sein. Jetzt ist die Kapelle leer. Ein paar Pferdeäpfel liegen zwischen den Trümmern am Boden, aber noch ist das Gewölbe der Kapelle bemalt. Noch zeigt die abblätternde Farbe dort oben jene wunderbaren Blautöne, die sie einst zum Leuchten brachten.

Dann wird es anstrengend. In langen Zickzack-Linien führt der Weg nach oben. Er ist verblüffend gut ausgebaut - vermutlich waren es die österreich-ungarischen Matrosen, die den Weg militärisch befestigten. Waren an der alten Stadtmauer noch viele unterwegs: Jetzt ist es fast einsam. Nacheinander begegnen mir:

1. Ein junger Mann in Turnschuhen, der erst den Berg hinaufjoggt. Und dann mit langen Schritten trittsicher zwischen den Steinbrocken hinunterspurtet. Training für den nächsten Lovcen-Marathonlauf.

2. Eine Gruppe Chinesinnen und Chinesen, angeführt von einem heimischen Führer, der sein Gesicht zum Schutz vor der Hitze dick mit Creme eingeschmiert hat. Und mich fragt: Ob ich denn auch genug Wasser dabeihätte? Glücklich sehen sie hier oben nicht aus, die Chinesen.

3. Einen Mann, der hinter seinem vollbepackten Esel Richtung Gipfel trottet. Man sieht ihn etwa in der Bildmitte oben. Hinter dem Esel. Vielleicht einer, der die einsam gelegenen Höfe dort oben mit dem Nötigsten versorgt? Auch er trägt Turnschuhe. Weil sie ihm zu groß sind, benutzt er sie als Pantoffeln, deren hinteren Teil er einfach plattgetreten hat. Trittsicher folgt er über das Geröll seinem Esel, der leidend, doch selbstbewusst seinen Weg kennt.

Wie ein Lichterkranz umgibt die Stadtmauer das alte Kotor in der Nacht. Und weil die Lichterkette sich an diesem windstillen Abend im Wasser der Bucht von Kotor spiegelt und die Spiegelung aussieht: Als wäre sie nichts anderes als ein leuchtendes Herz in der Nacht, drum endet mit diesem Foto für meine Frau dieser viel zu lange Post. Über eine Wanderung. Und die nie enden wollende Suche nach dem Glück.