Donnerstag, 17. Dezember 2015

Menschen am Meer:



Was nun folgt, mag möglicherweise für den ein oder anderen trostlos sein. Aber wie vieles im Leben ist das nur eine Frage der Perspektive.

Nehmen wir mal das Bild oben: Ich habe es aufgenommen heute Nachmittag, als gegen Viertel vor fünf die Sonne unterging, in Punta Secca, wohin ich nun fast jeden Abend streune, weil sich da die Südküste Siziliens nach Westen weitet. Und sich plötzlich der Blick auf die untergehende Sonne bietet. Punta Secca im Winter also, ...

am heutigen 17. Dezember, bei Sonnenuntergang. Vier verlassene Häuser irgendwo in Südsizilien, verrammelt vor den Südstürmen, die in den kommenden Wochen unweigerlich hier fegen werden. Vier Häuser, die sich wie vier Alte in ihrer Einsamkeit aneinanderschmiegen, als wollten Sie sich Trost zusprechen. Der Winter am Meer, auf dem Boot, er kann schon ganz schön trostlos sein. Oder?

Derselbe Ort, derselbe Augenblick: Ich habe mich lediglich einmal im Halbkreis um mich selber gedreht, und schaue jetzt nach Westen, aufs Meer, statt auf die einsamen Häuser. Punta Secca, wie 



ich es nie vergessen werde. Und damit sind wir auch schon beim Thema: Warum ich im Winter so gerne am Meer bin? Warum ich im Winter gerne auf dem Boot lebe?
Aber lassen wir erst einmal ein paar andere Menschen zu Wort kommen. Menschen, die ich hier getroffen und kennengelernt habe, und die jetzt im Winter genauso wie ich auf dem Boot leben. 

1. Julia, aus Kanada, 52.
Im Hafen von Marina di Ragusa überwintern derzeit etwa 50 Langfahrtsegler. Schweden, Holländer, Kanadier, Briten. Meist Paare. Man trifft sich ein-, zweimal die Woche. Zum Beispiel vergangenen Sonntag, wo die Schweden das Lucienfest feierten. Und alle anderen einluden zu Punsch und Selbstgebackenem. Oder gestern Abend, als das Marina-Restaurant für die Segler italienische Schweinshaxe offerierte. Dabei lernte ich Julia* (Name geändert) kennen. Und über der italienischen Schweinshaxe, die im Kartoffelbett geschmort auf den Teller kam und eine Offenbarung war, ging das Gespräch zwischen Julia und mir um das Thema "Jetzt auf dem Boot". Julia ist mit ihrem Mann Peter erst seit kurzem hier in Marina di Ragusa. Sie ist Kanadierin aus Montreal, 52. Und bis letztes Jahr hat sie dort im Management einer kanadischen Bankengruppe gearbeitet. Alles war ok - doch irgendwas fehlte im Leben. Also begann sie vor einigen Jahren, zu segeln. Machte wilde Sachen: Von Nordkanada zusammen mit Peter die Westküste hinunter nach Californien - kein Spaß in der Kälte und den Stürmen Nordkanadas. Aber es war ihrer beider Ding. 
Irgendwann hat sie im vergangenen Jahr gekündigt. Das verstand ihr Boß so gar nicht. Und ging mit Peter auf die Suche nach einem Boot. Sie hatten ein Bestimmtes im Sinn, eines, das weltweit nur 28 mal gebaut wurde - und hier in Marina di Ragusa fanden sie es. Und nun sind beide hier. Auch wenn sie noch nicht wissen, wohin ihre Reise gehen wird, wie weit. "Es ist so phantastisch schön hier", sagt Julia, "und eigentlich genieße ich jeden Tag, bevor wir in einigen Wochen für einige Zeit zurück nach Kanada gehen". Warum Sie längere Zeit von dort weggehen will? Julia meint, dass sie ihren Job schon sehr geliebt hat. "Ich habe viel gearbeitet. Und gerne. Aber zuhause ist das irgendwie, als wäre etwas in Dich eingraviert. 'Sei ehrgeizig'. 'Sei erfolgreich'. 'Arbeite hart'. Es ist wie eine Gravur, die wir nicht loswerden. Aber hier am Meer auf dem Boot: Da werde ich sie los."



2. Juran, aus Schweden, 74. 
Mein Nachbar Juran ist Schwede. Juran ist 74 und lebt mit der quirligen Eileen hier in Marina di Ragusa auf dem Boot neben Levje. Am Samstag wird Juran zusammen mit Eileen nach Schweden reisen, für ein paar Wochen, vor allem um seine Enkel zu sehen. Warum er denn nicht in Schweden bliebe, bei Kindern und Enkeln, habe ich ihn vor ein paar Tagen gefragt. Und er erzählt mit sanfter Stimme: "Ich bin jetzt seit 22 Jahren unterwegs auf diesem Boot. Ich habe Elektronik-Entwicklung gemacht und Beratung für die Industrie, es wurde immer mehr und immer mehr. Irgendwann hatte ich genug davon, nur immer getrieben zu sein. Da bin ich mit 52 los." Und warum er heute mit 74 nicht nach Schweden zurückkehre, zu seinen Kindern und Enkeln? Juran denkt einen Moment nach. "Es ist gut, meine Enkel zu sehen. Aber es tut mir einfach sehr weh, zu beobachten, wie sehr meine Kinder und Enkel einfach im Rattenkäfig des Daily Life stecken und leiden. Auch wenn Schweden meine Heimat ist: Ich kann da nicht mehr zurück."



3. Angelika Gebhard aus Deutschland.
Angelika Gebhard ist die Frau des 2013 verstorbenen Weltumseglers Rollo Gebhard, dessen acht Bücher demnächst bei millemari. in neuer Überarbeitung erscheinen werden. Mit ihrem Mann segelte Angelika Gebhard sechs Jahre um die Welt - es war ihr erster Törn überhaupt, und die Route hatte es in sich. Von Deutschland nach USA - aber nicht über die Kanaren, sondern über Island und Grönland nach New York. Von der Südsee mal einfach nach Alaska. Zurück von der Südsee nonstop nach Emden. 
Bei unserem zweiten Gespräch erzählt Angelika Gebhard über diese Jahre und zieht folgendes Resumee: "Wissen Sie: Es ist ja nicht so, dass Segeln einen Menschen wirklich verändern würde. Man bleibt doch derselbe. Was sich aber ändert, ist: Wie man manche Dinge sieht. Zum Beispiel 'Reichtum'. Reichtum ist nicht, was man besitzt. Reichtum ist, zu wissen, was man nicht braucht." 


4. Die Kartenspieler von Punta Secca.


In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden in Punta Secca. Der Leuchtturm, den ich schon im vorigen Post beschrieb, wirft sein Licht in die Nacht. Die Bar LA PICCOLA OASI darunter ist schon dunkel. Zwei, drei Grüppchen von Männern, Fischer augenscheinlich, stehen auf der Piazza herum, palavern im Dunkel. Und auch die Kartenspieler, über die ich schrieb, sitzen am selben Platz. Ich getraue mich nicht, die vier, auch sie wohl Fischer, anzusprechen, so vertieft sind sie in ihr Spiel. Aber wenn ich sie fragen würde, was um Himmels willen sie denn in einer Dezembernacht am Meer in Wollmützen draussen sein und ausgerechnet in der Kälte Kartenspielen lässt: Dann bin ich mir fast sicher, dass ihre Antwort in dürren Worten nicht so verschieden wäre von dem, was Angelika Gebhard über die Sicht auf die Welt sagte.


Belassen wir es zunächst bei diesen Antworten. Und während ich jetzt in meine Segeljacke gehüllt die nächtliche Hafenpromenade von Marina di Ragusa entlangschlendere und nur die Wellen höre, die von Malta und Afrika heranrauschen, denke ich mir: Schon gut so, wie die Welt gerade ist.




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