Dies ist Antonis Zervos, und er ist seit 2014 Bürgermeister von Agios Nikolaos, einem 13.000 Einwohner zählenden Ort auf Kreta. Zervos ist nicht zum ersten Mal an der Spitze der Kommunalverwaltung, er war hier schon einmal Bürgermeister, früher, als er noch in der sozialistischen PASOK war, von 1999 bis 2002. 2014 ist Antonis Zervos wieder ins Amt gelangt, diesmal als Parteifreier. Der gelernte Ingenieur ist Vater einer Tochter, sie studiert in Athen und übersetzt unser Gespräch.
MARE PIU: Herr Zervos, irgendwie scheint Agios Nikolaos besser mit der Krise fertig zu werden als manch andere Insel oder Athen oder Thessaloniki. Ich habe kaum Schlangen vor Geldautomaten gesehen, die Versorgung klappt einwandfrei, die Stimmung ist gut. Macht es Agios Nikolaos einfach besser?
ANTONIS ZERVOS: Da muss ich korrigieren: Schlangen vor Geldautomaten, die hatten wir hier auch. Aber davon war der Tourismus nicht betroffen. Dass es hier anders läuft, liegt daran, dass Kreta in Griechenland Tourismus-Markführer ist. Wir haben hier sehr früh mit dem Tourismus begonnen. Der nur eine Autostunde Griechenlands entfernte Flughafen Heraklion ist - gemessen am Charter-Flugverkehr - der größte in Griechenland, weit vor allen anderen, selbst vor Athen oder Chania. Wir haben einen eigenen Hafen hier in Agios Nikolaos für Kreuzfahrtschiffe, eine Menge Schiffe kommen hierher. Das alles sorgt dafür, dass die Tourismus-Saison im Gesamtvergleich länger als anderswo dauert: Tourismus beginnt bei uns im April und er endet im Oktober. Das ist lang, auch im internationalen Vergleich.
MARE PIU: Aber nicht jeder Ort, der auf Tourismus setzte, ist damit auch glücklich. Von anderen Inseln hört man, dass aufgrund der Krise Besucher fernbleiben, Hotels klagen über Rückgänge.
ANTONIS ZERVOS: Wir haben derzeit keine Rückgänge bei den Besucherzahlen. Das liegt daran, dass Agios Nikolaos bereits in den 60ern begann, 5-Sterne-Hotellerie anzubieten. Vor allem in und um Elounda konnten wir diesen anspruchsvollen Tourismus halten, wir haben noch heute dort eine ganze Menge 5-Sterne-Hotels. Daneben erweist sich der von den Reiseveranstaltern angebotene Tourismus jetzt in diesen schwierigen Wochen als stabiler als der Individualtourismus, auf den viele kleinere Inseln in den letzten Jahren setzten. Die Gäste, die individuell reisen, stornieren schneller und bleiben schneller weg.
MARE PIU: Wenn Sie ans Restjahr denken: womit rechnen Sie?
ANTONIS ZERVOS: Der August wird schwierig werden. Sehr schwierig. Ich fürchte, da werden auch wir die Folgen der internationalen Berichterstattung der letzten Woche zu spüren bekommen.
MARE PIU: Als Bürgermeister ist das ja im richtigen Leben wie in manchem Computergame: Sie haben die Aufgabe, mit möglichst wenig Mittel nicht nur das Vorhandene zu erhalten, sondern auch etwas Neues aufzubauen. Was macht Ihnen Sorgen?
ANTONIS ZERVOS: Sorgen macht mir vor allem unsere Infrastruktur. Zunächst mal unsere Straßen: Die sind in keinem guten Zustand, und wir schaffen es gerade so, das zu erhalten. Die Sauberkeit des Ortes - das geht gerade eben so. Ich habe hier in Kommune nur 200 Leute, das ist viel zu wenig.
MARE PIU: Moment mal: 200 Leute für 13.000 Einwohner: Ist das nicht viel zu viel?
ANTONIS ZERVOS: Der Ort Agios Nikolaos hat 13.000 Einwohner, das ist richtig. Die Großgemeinde umfasst mehr als das Doppelte, nämlich 28.000 Einwohner, die in einem Radius von 35 Kilometern rund um Agios Nikolaos in größeren Gemeinden wie Elounda und kleineren Weilern auf dem Land leben. Es ist ein riesiges Gebiet, das wir versorgen und instand halten müssen.
MARE PIU: Spielen wir weiter SIM CITY: Wenn Sie Geld hätten: wie würden Sie investieren?
ANTONIS ZERVOS: 10% unseres Tourismus kommt über die Kreuzfahrt nach Agios Nikolaos. Unser Hafen liegt mitten in der Stadt - das ist einmalig, einfach nicht auf einen Bus angewiesen zu sein. Die Leute kommen mitten in der Stadt an, gehen vom Schiff herunter und sind dann mitten im Ort. Viele der Gäste, die auf einem Kreuzfahrtschiff zum ersten Mal hier sind, sind begeistert und kommen beim nächsten Mal per Flugzeug wieder, als Gast eines kleinen oder großen Hotels. Wenn ich Geld hätte: dann würde ich den Hafen ausbauen, der ist im Moment sehr "basic" ausgestattet. Ein zweites Problem unseres Hafens entsteht eben aus dem einzigartigen Vorteil der Lage in der Stadtmitte: Um Besichtigungen in der Umgebung anbieten zu können, zum Beispiel Knossos, benötigt ein Kreuzfahrtschiff mindestens 10, besser 15, 20 Busse. Die sich dann mühevoll durch die Stadt nach draußen und wieder herein wälzen. Ich habe mir für kommenden Mittwoch Verkehrsexperten eingeladen, um dafür mal eine Lösung zu finden. Eine Stadt am Meer: das ist sehr schwierig, weil eben die Küsten-Seite der Stadt für jede Verkehrsplanung tabu ist. Ich würde zu gerne investieren - aber mit Investitionen haben wir es nicht leicht, hier in Griechenland. Wenn ich könnte: würde ich noch mehr in Hotels investieren. In kleinere, nicht in größere.
MARE PIU: Was lässt Sie nicht ruhig schlafen derzeit?
ANTONIS ZERVOS: Was jeden Griechen schlecht schlafen läßt: das ist einerseits die Finanzkrise. Aber andererseits seit vielen Jahren das "Everyday Life".
MARE PIU: Was meinen Se damit?
ANTONIS ZERVOS: Sie sind mit Ihrem Segelboot LEVJE hier in der Marina. Wenn Sie ihren Wassertank füllen wollen, füllen Sie ihn einfach, an der Pier sind überall Zapfsäulen. Wenn Sie Diesel tanken wollen, sagen Sie einfach an der Rezeption Bescheid. Die kümmern sich, und Diesel kommt.
Wenn ich hier für die Kommune Diesel brauche: Muss ich einen Antrag ausfüllen. Der geht dann eine höhere Stelle. Die bearbeitet ihn und leitet ihn an eine andere Behörde weiter. Die setzt den Stempel drunter, schickt ihn mir zurück. Und ich leite ihn an eine dritte Stelle zur Genehmigung weiter. Irgendwann bekomme ich ihn wieder. So geht das mit vielen Dingen, und nicht nur hier in der Kommune, sondern auch für Unternehmer und Privatleute.
MARE PIU: Woran liegt das?
ANTONIS ZERVOS: Unsere Bürokratie ist in weiten Teilen nicht aufgebaut nach Effizienz oder Leistungsfähigkeit, sondern oftmals als Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme. Für viele meiner Landsleute war es erklärtes Lebensziel, in den Staatsdienst zu kommen. Dann hatte man ausgesorgt. Viele Regelungen aus der EU, die umgesetzt werden müssen, tragen ein Übriges zum Wirrwarr bei. Das macht einerseits unseren Alltag richtig frustrierend. Aber andererseits ist es wahnsinnig schwierig, zu investieren. Es gibt so vieles, was strangulierend ist. Und vieles, was die Wirtschaft ankurbeln soll: geht ins Gegenteil, läuft ins Leere. Daraus resultiert auch die Enttäuschung meiner Landsleute.
MARE PIU: Was hoffen Sie?
ANTONIS ZERVOS: Die Procedere für Investitionen in Griechenland sind sehr, sehr, sehr schwierig. (Antonis Zervor blickt auf seine Tochter). Es wird mehr als eine Generation dauern, um dies grundlegend zu ändern. Ich hoffe trotzdem, dass meine Generation das schafft - die neuen Leute an der Spitze: die wollen das ändern.
Meine Kommune möchte ganz klar in der Europäischen Union bleiben. Wenn wir zurückfallen in den Status eines auf sich gestellten Staates sind wir ohne Zukunft.
Ich hoffe sehr, dass man in Brüssel zu einer Einigung kommt. Denn eines steht fest: Für den Fall eines GREXIT habe ich keinen Plan für Agios Nikolaos. Ich fürchte, dass es dann ganz schnell ganz schlimm wird. In den Hotels wird binnen weniger Tage die Versorgung zusammenbrechen. Sie werden geschlossen, weil sie ihre Gäste nicht mehr versorgen können.
Das Interview von MARE PIU mit ANTONIS ZERVOS fand auch das Interesse der örtlichen Tageszeitung ANATOLI, "Der Osten". Als ich etwas verschlafen am nächsten Morgen im Marina-Büro bei Despina aufschlage, finde ich ein Foto unseres Gesprächs links oben auf der Titelseite.
Und neben dem Bericht über die Verhandlungen zwischen Herrn Tsipras und Frau Merkel auf der linken Seite: einen zweiseitigen Bericht rechts darüber: dass ein deutscher Blogger in der Ägäis von Insel zu Insel segelt und beim Bürgermeister, der Sozialarbeiterin und dem Marina-Betreiber einfach nachfragt: "Warum?"
Ich bin mir durchaus bewusst, dass meine kleinen Posts und Interviews auf MARE PIU aus diesem Land in der gegenwärtigen Lage, wie mein Freund Andal sagt, nicht mehr bewegen "als der Schlag eines Schmetterlingsflügels". Aber wenn die Tageszeitung dem einfachen Fragesteller aus "Schäuble-Land" gleich zwei Seiten wohlwollend widmet: können ein paar Fragezeichen mehr in der Welt so verkehrt nicht sein.
Deshalb am kommenden Freitag ein Interview aus der Arztpraxis in Agios Nikolaos.
Weiterlesen bei: Warum Despina kein Geld von mir annimt. Hier.
Weiterlesen bei: Warum ein Unternehmer sagt: "Everybody in Greece
pays like Hell."
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